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Spandau feiert die Reformation mit Musik aus mehreren Jahrhunderten



Vor 465 Jahren hat Joachim II, Kurfürst von Brandenburg, in der Spandauer St. Nikolai-Kirche das Abendmahl in beiderlei Gestalt, das heißt mit Brot UND Wein, zu sich genommen und damit den Übertritt der gesamten Mark Brandenburg zum Protestantismus eingeleitet. Das mag ja sein, mögt ihr denken. Aber was hat das mit einem Musikmagazin zu tun? Ganz einfach: Zur Feier dieses Ereignisses machte das alljährliche Festival der Reformation vom 29. – 31. Oktober in Spandau Station, was unter anderem dazu führte, dass direkt unter dem Kirchturm eine Musikbühne stand, über die ich hier berichten möchte.


Aber vorher kurz einige Worte zu dem Rahmen, in dem das Bühnenprogramm stattfand. Seit sechs Jahren veranstaltet der Europäische Tourismusverbund „Stätten der Reformation“ e.V. jährlich das Festival der Reformation. Nicht zuletzt natürlich, um für die beteiligten Städte zu werben und Heerscharen von Touristen an die historischen Stätten zu locken. Aber auch die Reflexion über die historische und aktuelle Bedeutung von Reformation und Protestantismus für die Gesellschaft soll bei den Festivals ihren Platz haben. Filme über Martin Luther und Dietrich Bonhoeffer, sowie ein Colloquium zum Thema „Glaube und Geld“ standen so auf dem Spandauer Programm, das die gesamte Innenstadt der Havelstadt im Griff hatte. Außerdem waren im Altarraum der Kirche, im Kirchturm und im gemeindeeigenen Museum „Spandovia sacra“ Ausstellungen zu sehen.


Auf dem Reformationsplatz nördlich der St. Nikolai-Kirche hatte der Mittelaltermarkt seine Zelte aufgeschlagen, um ein wenig reformationszeitliches Flair zu verbreiten. Südlich der Kirche präsentierten diakonische Einrichtungen und Gemeinden des Kirchenkreises Spandau ihre Arbeit. Dazwischen stand die Bühne, um die es gleich gehen soll. Von ihr aus blickte man die Carl Schurz-Straße hinunter, die sich in die „Straße der Reformation“ verwandelt hatte. Hier konnte man sich über die Sehenswürdigkeiten in und um Reformationsstädte wie Magdeburg, Zeitz, Eisleben oder das Mansfelder Land informieren. Die Stände reichten bis zum Spandauer Marktplatz, wo die AG Altstadt einen Markt organisiert hatte.


Das kulturelle Programm konzentrierte sich an drei Stellen. Neben einer Bühne auf dem Marktplatz war das die Kirche selber, in der neben Gospel- und anderen Chören am Samstag Abend ein Festkonzert „Mendelssohn und die Reformation“ gegeben wurde. Da ich mich nicht zerreißen konnte und als Organisator und Moderator für die Bühne vor der Kirche xverantwortlich war, beschränkt sich mein Bericht auf das dortige Programm.


Die Ehre des Auftaktes konnten die Spandauer Hopefuls Die Früchtetees für sich in Anspruch nehmen. Bereits einige Wochen zuvor hatten sie an der selben Stelle beim „Tag der 100.000“, einer Protestaktion gegen Kürzungen des Berliner Senats beim Religionsunterricht, begeistern können. Ordentlicher moderner Gitarrenrock war angesagt und wurde – mit Ausnahme des Drummers Gerrit Schultz im Hintergrund - ausschließlich von weiblichen Händen in Szene gesetzt. Beeindruckend, dass die Youngster, die gerade dabei sind über den Status einer Schüler- und Gemeinde-Band hinauszuwachsen, für ihr Programm fast vollständig auf Eigenkompositionen zurückgreifen konnten. Lediglich ein Alanis Morisette-Cover war aus fremder Feder. Auch mit wilderem Stage-Acting, wie einem Nicht-ganz-synchron-Springen, wird bereits vorsichtig experimentiert. Das lässt für die Zukunft einiges erhoffen. Vielleicht sollte die Band vor dem endgültigen Start an die Weltspitze dann doch noch mal über den Bandnamen nachdenken. Gerrit und seine grellen Grazien wäre doch auch eine Möglichkeit.


Nachdem Die Früchtetees die vorbeiziehenden Massen lautstark darauf aufmerksam gemacht hatten, dass hier was besonderes passierte, folgte die offizielle Eröffnung des 6. Festivals der Reformation. Pfarer Winfried Augustat (rechts), als Hausherr der veranstaltenden Gemeinde, Hans-Peter Sommer (Mitte), der Vorsitzende des Tourismusverbundes und der Spandauer Bezirksbürgermeister Konrad Birkholz betonten die Bedeutung der Reformation für die Geschichte Europas und wünschten dem Festival einen guten Verlauf. Danach durften noch einmal Die Früchtetees an den Start, bevor Religionsschüler der Klasse 6c der Lindengrundschule Szenen aus der Reformation aufführten. Beeindruckend wie textsicher die kleinen Schauspieler ihre teilweise inhaltsschweren Sätze durch die ungewohnten Mikros transportierten.


Der Rest des Nachmittages gehörte Michael Köhn und seiner Band. Immer wieder durch kurze Interviews mit lokaler Prominenz, Vertretern der Reformationsstädte oder sich selbst unterbrochen unterhält er die Verweilenden und die Passanten mit einem Programm in der Schnittmenge zwischen Schlager, Liedermacher, sanftem Rock, Gospel und Rock’n’Roll.

Köhn hat sich in den vergangenen Jahren zur Institution innerhalb der christlichen Musikszene Berlins entwickelt. So hat er ein eigenes Label namens Piece of Pizza Records gegründet, das vorwiegend Bands aus dem christlichen Spektrum veröffentlicht. Dem merkwürdigen Namen gibt er einen doppelten Hintergrund. Zum einen sei es eine Erinnerung an die vielen Pizzen, die die Band im Übungsraum vertilgt habe; zum anderen dokumentiere der Name den Anspruch, dass man endlich auch ein Stück vom Kuchen abhaben wolle.


Um sich dieses Stück zu sichern hat Köhn den Musikerhof Radeland gegründet. Einige Kilometer südöstlich von Berlin wurde ein alter Bauernhof gepachtet, dessen Räume zu Proberäumen und Unterkünften ausgebaut wurden und werden. Einmal im Jahr findet dort ein Festival-Wochenende statt. Die Festival-Anlage stand nun vor der St. Nikolai-Anlage. Denn Köhn war nicht nur als eigener Act beteiligt. Er stellte die Anlage und schaffte es an diesem Wochenende mit viel Geduld und unermüdlichem Bemühen den unterschiedlichsten Akteuren einen guten Sound zu verschaffen: Kindergruppen und Rockbands, Jagdhornbläsern und Kabarettisten, Tanzensembles und HipHoppern.

Pünktlich um 18 Uhr fiel am Freitag der Hammer. Die Zuschauer wurden auf den kommenden Vormittag vertröstet – und Michael & Co schleppten die Anlage zur Nachtruhe in die Kirche...

... und am nächsten Morgen wieder raus. Zum Glück brauchten die ersten Stars des Tages weder Bühne noch Verstärker. Unter der Leitung des Kantors der Gemeinde, Bernhard Kruse, bliesen die Turmbläser St. Nikolai die Anwohner aus den Betten. Trotz Nieselregens gelang es sogar einen engagierten Nachwuchskünstler anzulocken, der sich nach ersten distanzierten Versuchen schnell ins Ensemble einreihte.



Zur zweiten Hälfte ihres Sets zogen sich die Turmbläser angesichts eines dauerhaften Nieselregens in die Kirche zurück. Das schreckte die Helden des Vormittags nicht. Aber wer mit dem Namen Watering Eye in den Ring steigt, darf natürlich keine Scheu vor dem nassen Element zeigen. Die Mittelalter-Minne-Ethno-Pop-Rock-Band gehört zwar nicht dem Kreis der frommen Bands an, hält aber enge Verbindung zum Ev. Johannesstift in Spandau. Seit mehreren Jahren erarbeitet die Band Jahr für Jahr mit Studenten des Wichern-Kollegs, der Diakonenausbildungsstättedes Stifts, Musicals für Kinder, die in der Adventszeit traditionell ausverkauft Premiere haben, und danach auf kleine Tournee gehen. Klar, dass Stücke aus den Musicals auch auf die Festival-Bühne gebracht wurden. Ausdrucksstark trug Sänger Oz Camera Lieder von Kraketau, Nicodemus oder der Reise in den Weltraum vor.


Kurze Unterbrechungen ergaben sich auch hier wieder durch Interviews. Oder durch Joachim II, den Kurfürsten von Brandenburg, der mit seinem Gefolge die Straße der Reformation entlang schritt, wo er auf Persönlichkeiten wie den Architekten Karl Friedrich Schinkel, den Schriftsteller Theodor Fontane oder seinen viel späteren Nachfolger König Friedrich Wilhelm III von Preußen traf.
Watering Eye ließen sich von so hoher Prominenz nicht beeindrucken. Die Aufmerksamkeit vor allem der Kinder konnte Grobi mit seinem exotischen Chapman-Stick leicht fesseln. “Ganz viele Ersatzsaiten“ kommentierte der schalkhafte Ruhepol der Band neugierige Blicke. Mit seiner roten Mütze wirkte er wie frisch aus Frankreich eingeflogen.


Der Hauptact des Nachmittags war Christo P. Wer extra wegen ihm gekommen war, musste allerdings etwas warten. Drei Attraktionen leiteten zuvor das Nachmittagsprogramm ein. Zu Beginn spielte das Jugendblasorchester Mansfelder Land auf. Mit Mansfelder Regionalkost, Swing und Popmelodien heizte die junge Truppe dermaßen ein, dass sie an dem insgesamt recht regnerischen Tag wohl den Publikumspreis davon getragen haben. Zu Recht war das Orchester am Sonntag noch zwei Mal im Programm und spielte auch auf der Bühne am Markt.


Danach folgte eine „Eigenzüchtung“ der St. Nikolai Gemeinde, die Gemeindeband Duty - zurzeit in knapper Trio-Besetzung. Bei solider Amateurarbeit und selbstbewusster Bühnepräsenz machte das Coverprogramm aus Kirchenhits, Oldies wie “Streets of London“ oder “You’ve got a Freind“ und neueren Hits z.B. von Sixpence non the richer mächtig Spaß. Die Stimmung auf kommenden Gemeindefesten von St. Nikolai dürfte gesichert sein.


Während Duty noch ganz am Anfang stehen sind die Power Girls der benachbarten Paul Gerhardt-Gemeinde schon lange eine bejubelte Attraktion, die mit mehreren Besetzung Showprogramme einstudieren. Auf dem Festival der Reformation hatte die Gemeinde die jüngste Formation, die New young Power Girls an den Start geschickt, die mit viel Spaß an den Start gingen. Lediglich die bei den großen Stars abgeguckten gewagten Bühnenklamotten wirkten bei den Kinderlein gelegentlich eher ungewollt komisch, denn erotisch.

Mit Christo P stand dann erneut ein Act aus dem Hause Piece of Pizza Records auf der Bühne. Der sehr aktive Berliner HipHoper, der mit sehr unterschiedlichen Besetzungen unterwegs ist, zeigte auf dem Festival seine Flexibilität. Natürlich ließ er die HipHop-Fans auf ihre Kosten kommen. Aber angesichts des Publikums, das aus durchschnittlichen Spandauer Fußgängerzonen Nutzern bestand, wurde der Anteil an Gitarrenmusik, Gospel und ähnlichem deutlich höher geschraubt als üblich. Dass P über eine beachtliche stilistische Bandbreite verfügt, hat er bereits mit seinen beiden CDs bewiesen. Zu Endes seines Sets glänzte er mit Titeln von Genesis, U2 und Third Day, die derzeit zu den angesagtesten Acts im christlichen Musikzirkus gehören.


Textlich wurde bei diesem Festival kein anderer Act so deutlich, wie Christo P. Dass er seine Texte nicht zuletzt deshalb in die Welt rappt, um vor allem junge Menschen zu einem Leben mit Jesus Christus einzuladen, konnte niemand überhören, der eine gewisse Zeit vor der Bühne stehen blieb. Und das geschah immer wieder, obwohl der Wind den Nieselregen, der den ganzen Tag über anhielt, manchmal fast waagerecht über die Bühne blies. Internationales Flair bekam das Ganze durch einige französische Strophen, die einer seiner Mitstreiter in die Carl Schurz-Straße hinein reimte.


Passend zum frommen Ambiente ließ sich während des Auftritts von Christo P kurz Martin Luther mit Frau Käthe sehen. Der große Reformator blieb aber alles andere als ungerupft. Die Mitglieder des Mariendorfer Kirchenkabaretts Die Widerlacher zeigten den „deutschen Helden“ sehr privat und recht hilflos einer selbstbewussten Frau gegenüber stehend. Käthe zeigt wenig Verständnis dafür, dass ihr prominent gewordener Gatte sich von aller Welt auf den Sockel stellen ließ, während ihr vorwiegend die Aufgabe zufiel, für Gäste und Familie zu sorgen.


Dann brach der Reformationstag an und die Mansfelder Bläser luden mit ihrem zweiten Auftritt zum Besuch des großen Festgottesdienstes ein, der länger als gewohnt dauerte. Angesichts des historischen Ereignisses vor 465 Jahren war es natürlich ein Abendmahlsgottesdienst. Und trotz drei im Kirchenraum verteilten Abendmahlstischen brauchte es seine Zeit allen Gottesdienstbesuchern, die das wollten, Brot und Wein auszuteilen. Als die Gemeinde dann langsam die Kirche verlies, wurde sie schon wieder von Bläsern begrüßt. Diesmal war es der Jagdhornbläserkreis Berlin-Heiligensee, der in der Vergangenheit schon verschiedentlich bei Gottesdiensten der St. Nikolai Gemeinde mitgewirkt hatte.


Und dann stand plötzlich ein alter schwarzer Leichenwagen neben der Bühne. Ihm entstiegen vier Gestalten, Gitarren und ein recht zusammengeflicktes Schlagzeug. Michael Köhn hatte wieder einmal alle Hände voll zu tun, den Sound der Bühne von Bläserkreis auf Rockband umzustellen. Denn jetzt war es Zeit für den neben oder sogar vor Watering Eye professionellsten Act des Festivals. Zwar (noch) ohne Plattenvertrag oder CD glänzte die Gruppe Borschtsch mit nicht ganz unbekannten Namen. Sänger und Keyboarder Stephan Kapitzke zum Beispiel blies, bzw bläst bei der Ska-Legende The Butlers und der Nachfolgetruppe Lions Club das Saxophon.


Mit gut gespieltem polnischen Akzent stellte Kapitzke die Band als die Gebrüder Borschtsch vor, die über die Grenze gekommen sein, um das Reformationsfest mitzufeiern. Die Pseudo-Nationalität hat ihren Hintergrund. Borschtsch sind unter anderem von den Roten Gitarren beeinflusst, einer polnischen Band, die in den 70ern in der DDR größere Popularität genoss und teilweise mit einen ähnlichen Akzent deutsche Texte für das ostdeutsche „Brudervolk“ sang. Mit 70er Jahre Orgeln, Gitarrenfeedback und einer heftige Schlagzeug-Basis setzten Borschtsch dann einen heftigen Schlusspunkt hinter das Festival. Ostalgikern dürften Hits von Berluc, Frank Schoebel und der Gruppe Prinzip Freudentränen in die Augen getrieben haben. Die Wessies kamen bei Ennio Morricone, Howard Carpendale und Georgie Fame zum Zuge. Obwohl ohne jeden kirchlichen Hintergrund, hatte Kapitzke den “Hava Nagila“ in den Set eingearbeitet und sein Keyboard passend zum Anlass mit einer Vielzahl von Lutherzitaten beklebt, die er geschickt und mit viel Humor in seine Ansagen einbaute. Groß.


Pünktlich um 15 Uhr war dann wieder Prominenz auf der Bühne. In Anwesenheit von Joachim II nebst Gattin und dem Ehepaar Luther übergab Bezirksbürgemeister Birkholz den Stafelstab des Festivals an Götz Beck, den Tourismusdirektor der Stadt Augsburg. Dort wird im kommenden Jahr das 7. Festival der Reformation stattfinden.
Während das Mansfelder Jugendblasorchester noch bis 16 Uhr Programm vor der Bühne macht, beginnen die Vertreter der Gemeinden und Reformationsstädte langsam die Dekoration des Wochenendes in Kisten und Kästen zu packen.

Text und Fotos: Norbert von Fransecky


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