Beethoven, L. v. (Thinnes, M.)

Klaviersonaten Nr. 1, 8, 11, 14, 18, 21, 23


Info
Musikrichtung: Klassik / Klavier

VÖ: 04.10.2023

(Telos / Klassik Center / 2 CD / DDD / 2022 & 2023 / TLS 256)

Gesamtspielzeit: 141:42



DAS MENSCHLICH-ALLZUMENSCHLICHE

Der Ruf, ein Wilder zu sein, eilt dem deutschen Pianisten Marlo Thinnes voraus – und in der Tat: Sein großer Querschnitt durch Beethovens Sonatenschaffen bleibt der Musik nichts an Kraft und Energie schuldig. Aber Thinnes bürstet die Musik nicht einfach mutwillig gegen den Strich, um interessant zu klingen. Er pflügt auch nicht um des Effekts Willen großprankig durch die Sonaten – oder was man sonst bei pianistischer Wildheit assoziieren mag.

Die ausgewählten Stücke reichen von der frühen bis zum Ende der mittleren Phase. Darunter sind – natürlich, hätte man fast gesagt – die „Pathetique“ sowie die „Appassionata“, die „Mondschein-“, „Jagd-“ und „Waldsteinsonate“, also die pianistischen Herzstücke aus Beethovens Sonatenschaffen. Doch diese Sammlung der Vielgespielten sollte nicht dazu verleiten, das einfach als verkaufsförderliches „Best off“ abzutun. Vielmehr bekommt man hier anhand sattsam bekannter Stücke in chronologischer Reihung einen profunden Eindruck von Beethovens kompositorischer Entwicklung und natürlich von dem Vermögen des Pianisten Marlo Thinnes, einen immer wieder frisch und voller Elan die Stationen dieser Reise vor Ohren zu führen.

Hier ist, bei aller Rasanz und Ausreizung der dynamischen und artikulatorischen Pole, alles genau an seinem Platz. Technisch werden die Stücke absolut souverän durchgeformt und präzise auf den Punkt gespielt, auch bei fingerbrecherischen Tempi, die hier zu bestaunen, aber nicht Selbstzweck sind.
Die Realisation dieser Kunst verlangt eben jenes Strukturbewusstsein, das Thinnes unter Beweis stellt. Denn dass Beethoven oft schon so romantisch wirkt, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine Mittel immer noch klassisch sind: themen- und formbewusst, bis ins Detail durchgearbeitet und in den Proportionen genau abgewogen.
Und das ist zumal auf einem großen Steinway D keine Kleinigkeit. Das leistungsstarke Instrument kommt Beethovens Musik zunächst entgegen und darf sein, was es ist. Aber Thinnes gelingt es, stets deutlich zu bleiben und bei aller Vollgriffigkeit nicht nicht die Kontrolle zu verlieren. Da ist genau jenes Dosis Trockenheit im Anschlag, die es braucht. Thinnes Beethoven kommt eben auch vom Hammerklavier her, wahrt seine Intimität auch dann, wenn er mit großer Geste und quasiorchestraler Farbigkeit aus sich heraustritt.

Diese Beherrschung der Mittel und des Instruments ist aber nur die Basis für die interpretatorische Freiheit und Spontaneität, mit der er dann die oft wechselhaften extremen Expressionen von Beethovens Klavierwerk gestaltet. Für Thinnes ist Beethoven ein tiefer Kenner des Menschlich-Allzumenschlichen in all seiner Ambivalenz und Widersprüchlichkeit, dem er in seiner Musik kompromisslos Ausdruck verliehen hat. Das Gewaltige und das Zarte, schroffe Ausbrüche, grimmiger Witz, namenlose Freude und Momente von Pathos und Verletzlichkeit liegen stets nahe beieinander. Wenn das, wie hier, in seiner Drastik ausgespielt wird, dann ist das anstrengend und erhebend zugleich – und kann dadurch eine befreiende, kathartische Kraft entfalten.

Also: Eine ebenso auf- wie anregende Begegnung mit dem Wiener Meister, interpretatorisch bei einem – in diesem Fall wohl unvermeidbar – etwas unruhigen Klangbild mitreißend realisiert und als Einstieg in das „Neues Testament“ der Klavierliteratur sehr zu empfehlen!



Georg Henkel



Trackliste
CD I: Klaviersonaten Nr.1,8,11,14 73:46
CD 2: Klaviersonaten Nr. 18,21,23 67:56
Besetzung

Marlo Thinnes, Klavier 


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