Von Lettland in die Welt: Das Gewandhausorchester spielt Dzenitis, Tschaikowski und Mahler
Der 21. Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons ist bekanntlich Lette, und die Popularisierung seiner heimatlichen Kultur in der Welt liegt ihm besonders am Herzen. Dass er mit dem Gewandhausorchester die Uraufführung des neuen Orchesterwerks eines gleichaltrigen lettischen Komponisten dirigiert, das vom Gewandhausorchester und dem gleichfalls unter Nelsons‘ Stabführung agierenden Boston Symphony Orchestra in Auftrag gegeben worden ist, liegt daher auf der Hand, und an jenem Abend erklingt die Uraufführung des Werkes „Mara“. Hinter dem Titel verbirgt sich eine der drei göttlichen Entitäten des vorchristlichen lettischen Mythologiesystems, was den Komponisten dazu animierte, im Schriftbild der Partitur entsprechende Symbolik unterzubringen, wie Ann-Katrin Zimmermann im Programmheft erläutert. Da sich darunter neben einer Art Wolfsangel auch zwei Mehrfach-Kreuz-Strukturen befinden, hat der Komponist interessanterweise auf nahezu alle b-Vorzeichen verzichtet und arbeitet fast ausschließlich mit Kreuzen, wenn es ums Anzeigen von Halbtonverschiebungen geht. Das liest sich in der Theorie erstmal nicht uninteressant, aber in der musikalischen Praxis ohne Studienpartitur vor der Nase bemerkt man davon freilich nichts. Schon eher fällt akustisch auf, dass die höheren Saiteninstrumente bisweilen einen Schifferklaviersound imitieren – die Letten sind ja eine Seefahrernation. Bis man zu diesen Momenten kommt, sind allerdings schon etliche Minuten vergangen, gefüllt mit zumeist weiten Klangflächen bisweilen eher düsterer Natur und in den Streichern mitunter an eine nervöse Einfärbung des Grundtons von Anathemas „Dreaming: The Romance“ erinnernd. Tempoveränderungen finden meist nur im Mikrobereich statt, einzelne Akkorde ragen aus der Fläche heraus (ob ihre Zerfaserungen so geplant waren, kann nur ein Blick in die Partitur verraten), und die vier Schlagwerker agieren dahingehend auffällig, dass sie quasi permanent im Einsatz sind, aber jeweils nur einzelne Schläge oder kurze Phrasen setzen. Über mehrere Minuten hinweg entwickelt Andris Nelsons doch etwas mehr Zug zum Tor, zunächst eher unterschwellig, dann aber auch in Richtung eines größeren schrägen Ausbruchs, der allerdings etwas unmotiviert wieder versandet. Da hinterlassen die grollenden Kontrabässe vor der letzten großen, abermals freilich sehr knapp gehaltenen Steigerung einen deutlich intensiveren Eindruck. Besagte Steigerung hätte in der traditionellen Kompositorik den logischen Schluß gebildet, Dzenitis aber hängt noch etwas kammermusikalisches Geplänkel an, dominiert von der Baßklarinette und schließlich mündend in Erstickungsanfälle im Blech und Holz, was alles ein wenig bemüht wirkt, aber zumindest spannungsseitig an diesem Abend nicht durch lautstarke Erstickungsanfälle aus dem Publikum ins Abseits gestellt wird. Opernausschnitte hört man in den aktuellen Gewandhauskonzertprogrammen ganz im Gegensatz zu den ersten 150 Jahren dieser Institution eher selten. An diesem Abend gibt es gleich drei, entstammend den hierzulande wohl bekanntesten beiden Opern von Peter Tschaikowski: Pique Dame op. 68 und Eugen Onegin op. 24. Erstgenannte stellt dabei das Arioso der Lisa „Otkuda eti sljosy“ („Woher kommen diese Tränen“), gesungen von Kristine Opolais, der Ex-Ehefrau von Andris Nelsons – beide haben sich unlängst getrennt, aber nicht mit bösem Blut, und ihre gemeinsamen künstlerischen Projekte führen sie zumindest vorläufig weiter, zu denen auch das Programm dieses Abends gehört. Die in ein langes schwarzes Kleid gehüllte dunkelblonde Sängerin gestaltet die Szene allerdings auch gestisch und dreht sich hin und her, auch mal komplett um die eigene Achse – das erzeugt ein Hörgefühl, das man zwar aus dem Opernhaus kennt, in der konzertanten Wiedergabe aber ganz und gar nicht gewöhnt ist, so dass man sein Ohr erst darauf einstellen muß, die Stimme anders zu hören, wenn die Sängerin gerade in die andere Richtung singt, aber auch mit raschen Wechseln der akustischen Verhältnisse bei ebensolchen Bewegungen klarkommen muß. Diese Anpassung dauert aber nicht gar zu lange, und dann kann man die schöne Stimme bedenkenlos genießen und muß sich auch nicht weiter um den Text scheren, denn den versteht man akustisch selbst als Russischkundiger kaum. Vielleicht hätte es ein Tick weniger Vibrato auch getan, aber Nelsons besticht durch die Fähigkeit, seiner Ex-Gattin genau die richtige Instrumentaldosis zu unterlegen, so dass sie immer gut hörbar ist, wobei ihre Stimme allerdings auch enorme Durchsetzungskraft zu besitzen scheint. Eugen Onegin liefert für das Programm zunächst ein Instrumentalstück, nämlich eine Polonaise, und hier ist das Orchester so richtig in seinem Element. Zwar wirkt die Signaltrompete einen Deut zu vorwitzig, aber dann balanciert Nelsons den Klang erstklassig aus, bringt das Orchester kongenial zum Grooven, und auch wenn es die ersten Violinen vielleicht unter ihrer Würde halten, im ruhigen Zwischenteil „Schweinchen“ spielen zu müssen, so fügt sich doch auch dieses Element ins große Gebilde dieser programmgemäßen Unterhaltungsmusik ein – Zweck prima erfüllt. Aus der gleichen Oper stammt die Arie der Tatjana „Puskai pogilabnu ja“ („Und sei’s mein Untergang“), wobei das Orchester hier so viel Eleganz in die einleitenden, bläserkammermusikalisch geprägten Teile legt, dass es der Sopranistin beinahe die Schau stiehlt. Auch läßt die Feinabstimmung hier bisweilen ein wenig zu wünschen übrig, wenngleich die individuelle Klasse aller Beteiligten trotzdem noch zu einem erstklassigen Hörerlebnis führt, wobei einige sehr berückende Momente durch den Erkältungsstand im Publikum gefährdet werden. Dass das Blech im letzten Gesangston der vorletzten Phrase der Sängerin in die Parade zu fahren hat, dürfte schon der Komponist so angelegt haben, und der Schluß wirkt irgendwie nicht ganz klar strukturiert, aber trotzdem schön. Reicher Applaus samt einiger Bravi belohnen die Künstler, die Sängerin nimmt die bewegungstechnischen Limitierungen, die ihr das Kleid auferlegt, mit Humor und winkt am Ende des zweiten Vorhangs in die Runde, womit klar ist, dass es keine Zugabe geben wird. Danach hört der Rezensent aus der Reihe hinter sich folgenden, offenbar nicht ironisch gemeinten Satz: „Das ist eine wunderbare musikalische Ehe – großartig!“ Werke von Gustav Mahler programmseitig mit solchen von Peter Tschaikowski zu koppeln ergibt musikhistorisch Sinn, denn Mahler zählte zu den Dirigenten, die maßgeblich für die Verbreitung von Tschaikowskis Werken außerhalb Rußlands sorgten. Mahlers Sinfonie Nr. 1 D-Dur entstand außerdem in der Periode, als der Komponist zweiter Kapellmeister an der Leipziger Oper war und dem auf Europatour befindlichen Tschaikowski erstmals begegnete. Als genuin Leipziger Werk, wenn auch nicht hier uraufgeführt, erklingt Mahlers sinfonischer Erstling ziemlich regelmäßig im Gewandhaus, zumeist in der viersätzigen Form ohne den noch von Mahler selbst wieder gestrichenen „Blumine“-Satz, und ebenjene Form liegt auch an diesem Donnerstagabend nach der Pause auf den Pulten. Wer angesichts Andris Nelsons‘ speziellem Händchen für Mahler, das er bereits des öfteren unter Beweis gestellt hat, eine maßstabssetzende Aufführung erhofft, wird allerdings geraume Zeit zumindest partiell enttäuscht. Zwar gelingt die Einleitung sehr stimmungsvoll, obwohl oder vielleicht auch weil Nelsons Mahlers Satzüberschrift „Langsam. Schleppend. Wie ein Naturlaut“ in ihren beiden ersten Komponenten nicht wörtlich nimmt – aber so viele klappernde, knisternde und sonstige Störgeräusche aus dem Orchester selbst hat man an dieser Stelle lange nicht mehr gehört. Das ist schade, gerade weil Nelsons die Mahlersche Polyphonie so aufdröselt, dass man Stimmen und Passagen hört, die ansonsten in der Orchestermasse „eingerührt“ sind. Die Lieblichkeit umzusetzen gelingt gut, nach dem ersten Ausbruch bringt der Dirigent auch etwas mehr Ruhe ins unfallträchtige Geschehen, und die schleichende Verdüsterung in eine brütend-grüblerische Stimmung macht Nelsons und dem Orchester in dieser Weise so schnell niemand nach, wozu nicht zuletzt der Bediener der extrem hintergründig agierenden Großen Trommel sein Scherflein beiträgt. Aber die Unfallträchtigkeit bleibt erhalten: Nicht alles Blech wirkt im großen Ausbruch souverän, und auch der Satzschluß aus den Pauken hinterläßt Fragezeichen. Im Scherzo setzt sich der Problemreigen fort: Die Satzüberschrift lautet „Kräftig bewegt, doch nicht zu schnell“, und die ersten beiden Worte nehmen besonders (aber nicht nur) die ersten Violinen zum Anlaß für eine gnadenlose Überakzentuierung. Bis alle zum gemeinsamen Groove finden, dauert es ewig – erst im Trio zeigen die Musiker ihre Klasse, agieren spielsicher, emotional und mit großer Lieblichkeit, während der harte Groove in der Reprise etwas schneller hergestellt ist und dort aufgrund deren grundsätzlicher Knackigkeit auch besser paßt. Im zunächst sehr individualistisch geprägten dritten Satz, dem Adagio, versuchen alle Beteiligten zu zaubern, aber nicht allen gelingt es, während der spätere Militärkapellentouch wiederum so organisch wirkt, als hätte man eine ebensolche vor sich, und diverse Streichelpassagen so hochemotional gelingen, wie man das erhofft hatte. Auch die Verfinsterung hin zur Wiederkehr des markanten Paukenrhythmus aus dem Intro unterstreicht die Klasse von Orchester und Dirigent, während die Schlußspannung zwar OK, aber irgendwie nicht herausragend ist und damit prototypisch für den bisherigen Verlauf der Wiedergabe dieser Sinfonie. Das ändert sich im „Stürmisch bewegt – Energisch“ überschriebenen Finalsatz – der erklingt endlich nahezu durchgehend in der Qualität, die man bisher nur gelegentlich aufblitzen sehen bzw. hören hat – „nahezu“ deshalb, weil beim Hauptthema auch eine kleine Findungsphase nötig ist, um den richtigen Weg zu identifizieren, der dann aber konsequent weiter beschritten wird. Wie man enorm viel Energie transportiert, ohne in die Überakzentuierungsfalle zu tappen, dafür liefern die Pauken hier ein Lehrbeispiel, und umgekehrt nimmt Nelsons die ruhigen Teile enorm weit zurück, stattet sie bedarfsweise mit großer Lieblichkeit und nur minimalen düsteren Anflügen aus, so dass zu den richtig düsteren Momenten große Kontrastmöglichkeiten entstehen. Und wenn wir am Paukenloben sind: Einen galoppierenden Touch wie in der Passage vor der Wiederkehr des Hauptthemas des 1. Satzes muß man auch als Mitglied eines Spitzenorchesters erstmal so hinbekommen, wie das an diesem Abend gelingt. Auch ein Sonderlob verdienen sich die Bratschen, deren Gesäge kurz vor Schluß (planmäßig!) die Lieblichkeit eines Zahnarztbohrers ausstrahlt, und was Nelsons dann im Schlußteil anstellt, das zeigt mal wieder seinen besonderen Zugriff auf Mahler: Der Schlußteil wirkt gleichermaßen monumental und nicht monumental – letzteres, weil der Dirigent wieder mal Elemente aus der Mahlerschen Polyphonie hörbar macht, die man sonst nie wahrnimmt, und ersteres, weil er trotzdem ein Klangdenkmal überwältigender Größe und förmlich berstender Energie aufbauen läßt. Diesen Spagat schafft sonst kaum ein Berufskollege – und angesichts dieser Leistung verzeiht man die diversen Schwierigkeiten in den Sätzen zuvor umso lieber, sie freilich auch nicht unter den Teppich kehrend. Der Gesamteindruck bleibt jedoch auch diesmal sehr positiv. Roland Ludwig |
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