Aale, Tauben, Rachendrachen: Arnold Schönbergs Gurre-Lieder als deutsch-rumänisches Gemeinschaftsprojekt
Seit 1994 sind Gera und das rumänische Temeswar (Timişoara) Partnerstädte, und da letztere Kommune anno 2023 Kulturhauptstadt Europas ist, lag die Idee nahe, ein gemeinsames Projekt zwischen den Orchestern der beiden Orte, also dem Philharmonischen Orchester Altenburg-Gera und der Banater Philharmonie Temeswar, zu realisieren. Da man von vornherein groß dachte, fiel die Wahl auf ein chorsinfonisches Mammutwerk, in das dann gleich noch zwei deutsche und drei rumänische Chöre einbezogen wurden: Aufs Programm kamen die Gurre-Lieder von Arnold Schönberg, im Gegensatz zum Titel letztlich kein Liedzyklus im eigentlichen Sinne, sondern ein großbesetztes Oratorium und im Gegensatz zu den Erwartungshaltungen, die man beim bloßen Hören des Komponistennamens hegt, auch kein dodekaphones Werk, sondern eine relativ frühe Komposition, der man die Verehrung Schönbergs für Wagner deutlich anhört und die zwar erst 1913, als der Komponist schon für reichlich Aufruhr unter den Freunden der Tonalität gesorgt hatte, uraufgeführt wurde, aber schon mehr als ein Jahrzehnt vorher zumindest in der Grundstruktur fertiggestellt war. Mehr als 100 Instrumentalisten und mehr als 300 Sänger brauchen natürlich Platz, und so kann das Konzert in Gera nicht im Konzertsaal des Theaters stattfinden, der schon 2007, als es dort anläßlich der Wiedereinweihung nach der Sanierung Mahlers auch schon recht voluminös besetzte Zweite gab, nahezu aus allen Nähten geplatzt war. So fällt die Wahl auf das Kultur- und Kongresszentrum, dessen großer Saal von der Bauart her wie eine etwas kleinere Version des alten Saals im Dresdner Kulturpalast anmutet, also in den Seitenwänden stark auseinanderstrebt und den von der Bühne kommenden Sound daher ziemlich in die Breite zieht, anstatt ihn direkt aufs Publikum zu lenken. Das Werk wird insgesamt viermal gespielt, zweimal in besagtem Saal in Gera und am Folgewochenende zweimal in Temeswar; der Rezensent ist beim ersten der beiden Geraer Konzerte anwesend, bei dem auch Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow vor Ort ist und vor Konzertbeginn das Wort ans Publikum richtet, mit einer knapp gehaltenen und intelligenten Rede mit Statements wie „Kunst und Kultur sollten uns in Europa verbinden“, in der nur der etwas populistische Slogan „Weniger Waffen – mehr Musik!“ den Realpolitikern und Politikrealisten unter den Zuhörern etwas schwer im Magen liegt. Das Werk ist dreiteilig, wobei der zweite Teil nur aus einer einzigen kurzen Nummer besteht und seine Funktion auf den ersten Blick nicht so ganz klar wird – als verbindendes Element kann er nicht gedacht sein, da zwangsweise entweder vor oder nach ihm die Konzertpause eingeplant werden muß. Teil I beginnt jedenfalls mit einer langen instrumentalen Einleitung, einer Waldszene mit zahlreichen Vögeln, wobei an diesem Abend die Musiker ein wenig Anlaufzeit brauchen, ehe sie es schaffen, sich zu einem gemeinsamen großen Klangkörper zu verzahnen und sich hundertprozentig auf ihre Mitmusiker einzustellen. Dirigent Gabriel Bebeşelea, ein trotz relativer Jugend schon erfahrener Mann (als Mittdreißiger geht man in der heutigen Dirigentenwelt ja durchaus noch als gewisser Jungspund durch, sollte sich planmäßig aber auch schon ein paar Meriten erworben haben), bringt aber schnell Ruhe ins Geschehen und legt zudem einen gangbaren Dynamikpfad durchs instrumentelle Unterholz – die Entwicklung erfolgt bedächtig, aber in geschickt arrangierten Nuancen und mit einzelnen Dramatikanflügen, obwohl das Tempo bis zum ersten Gesangseinsatz weit unten bleibt. „Gurre“ steht im Titel nicht für die Lautäußerungen von Tauben, obwohl man das selbst nach der instrumentalen Einleitung noch vermuten könnte, sondern für eine dänische Burg, in der König Waldemar IV. gelegentlich residiert und sich bitter beklagt, dass seine Ehefrau einen erfolgreichen Mordauftrag an seiner Geliebten realisiert hat – die Ausgangskonstellation wird im Text von Jens Peter Jacobson bzw. in der für die Komposition verwendeten Übersetzung von Robert Franz Arnold offensichtlich moralisch nicht hinterfragt. Im ersten Teil findet eine virtuelle Unterhaltung zwischen Waldemar und seiner Geliebten Tove statt, ehe die Stimme einer Waldtaube (nun doch dieser Vogel!) Kunde vom Tod der Geliebten bringt. Daraufhin verflucht der König Gott im zweiten Teil (das könnte der Grund für die isolierte Stellung im Werk sein) und wird dafür verdammt, wonach er im dritten Teil auf der Suche nach Erlösung ist, die aber vergeblich bleibt, wenngleich sich zumindest eine Art naturmystischer Schluß ergibt. Der mythologische Stoff erinnert durchaus an Wagners Beuteschema, Schönbergs Musik geht auch in diese Richtung – nur mit einem Grundproblem: Wagner baut zumindest ein paar eingängige Melodien ein und gibt dem Hörer mit seiner Leitmotivtechnik eine Orientierungshilfe an die Hand. Wenig von alldem bei Schönberg – die Melodik ist gefällig, aber kaum einprägsam, das Material steht wie ein riesiger, schwer zu analysierender Block vor dem Hörer, und ein Hit ist weit und breit nicht zu bemerken, auch nicht im dritten Teil, wo man den Männerchor mehr als einmal etwas im Stile von „Steuermann, halt die Wacht“ singen lassen könnte. So bleiben die Gurre-Lieder in ihrer Wirkung zumindest für den Nicht-Musikwissenschaftler beim Live-Erstkontakt und ohne vorherige Lektüre von Alban Bergs im Jahr der Uraufführung erschienenen „Gurrelieder-Führer“ auf den Moment berechnet. Das aber tun sie ziemlich geschickt, zumal in einer instrumental kompetenten Wiedergabe, wie wir sie in Gera erleben. Der Dirigent besitzt offenkundig ein geschicktes Händchen für Detailgestaltungen, und so kommen aus dem Orchester immer wieder großartige Momente, wie die gekonnte Düsternis am Beginn von „Es ist Mitternachtszeit“ oder die exzellent umgesetzte Dramatik hin zum Einsatz der Stimme der Waldtaube in „Tauben von Gurre!“. Klar, nicht alles klappt auf Anhieb, wie der völlig ausfasernde Zupfer am Beginn von Teil II beweist, aber schon der gleich danach folgende Zupfer sitzt wie die sprichwörtliche Eins. Und Bebeşelea beweist zudem, dass er auch eigentümliche Vorgaben des Komponisten kompetent umsetzen kann, etwa die kargen Finali der Teile I und II, die der Erwartungshaltung des Hörers, der sich auf feisten Bombast freut, völlig zuwiderlaufen, aber im Kontext der Handlung durchaus logisch sind. Was der Dirigent zumindest an diesem ersten Abend noch nicht in zufriedenstellender Weise bewältigt, ist die Herkulesaufgabe, die Sänger trotz riesiger instrumentaler Besetzung durchhörbar zu gestalten, obwohl der oben erwähnte eher in die Breite gehende Klang ihm bei diesem Ansinnen sogar ein bißchen hilft. In Teil I und II sind die Chöre noch nicht im Einsatz, sondern nur drei der Gesangssolisten, davon Ruxandra Donose als Stimme der Waldtaube lediglich in einer einzigen Nummer. Erstaunlicherweise aber ist es genau sie, die man (zumindest am Platz des Rezensenten) über weite Strecken gut durchhören kann – üblicherweise sind die Altistinnen ja die ersten, die im Orchestersound untergehen. Donose besitzt eine schöne warme und runde Stimme, agiert zwar wenig textverständlich, aber eben durchsetzungsstark und in der Gesamtbetrachtung richtig gut. Sopranistin Michaela Kaune als Tove kommt über weite Strecken auch noch ganz gut durch, so dass man ihre schöne Stimme würdigen und in einigen butterweichen betörenden Höhenlagen so richtig begeistert sein kann, zumal sie auch etwas textverständlicher agiert als Donose – aber es gibt auch etliche Passagen, wo sie hinter dem Vorhang der Instrumente verschwindet. Letzteres passiert Roy Cornelius Smith häufiger. Daran ist nicht zuletzt Schönberg selbst schuld, der das alte Wagner-Problem, Sängern ihre dramatischsten Passagen gerade mit gleichfalls dramatischen Orchesterpassagen zu unterlegen, ebenfalls „kultiviert“, und so muß der Tenor oft forcieren und hat doch ähnlich oft wenig Chancen gegen das Orchester. Das Grundproblem aber besteht darin, dass man das Gefühl nicht loswird, es sei manchmal besser so, dass man ihn nicht hört. In seiner Vita im Programmheft wird ihm eine „außergewöhnliche Klangfarbe“ zugeschrieben, und die besteht aber scheinbar darin, dass er irgendwie kehlig, fast erkältet klingt und man permanent geneigt ist, ihm einen Wick-Rachendrachen auf die Bühne zu werfen. Außerdem legt er einige arg eigentümliche Aussprachen und Betonungen des deutschen Textes an den Tag, von denen der Rezensent nicht vermutet, dass Schönberg das so geplant hat, obwohl andererseits das Bemühen um Textverständlichkeit seitens des Amerikaners durchaus zu würdigen ist. Aber irgendwann verlegt man sich auf die Strategie, seine Nummern nur noch als Instrumental wahrnehmen zu wollen – da es in Teil I und II keinerlei Dialoge gibt, fällt das nicht weiter schwer. Die beiden Damen kehren nach der Pause nicht wieder zurück, Smith aber schon, auch wenn er im dritten Teil nicht mehr so viel zu tun hat. Statt dessen treten ein Bauer, ein Narr namens Klaus und ein Sprecher auf, dazu kommen die Chöre als Waldemars Mannen (nur die knapp 100 Herren, die links unten auf der Bühne stehen) bzw. als gemischter Chor für die Schlußnummer, in der dann auch die anderen, links und rechts oben im Rang positionierten Vokalisten in Erscheinung treten. Dieser Teil besitzt nur ein kurzes düsteres Orchestervorspiel, ehe vorm ersten Einsatz des Tenors wieder wild herausfahrende Klänge erschallen und schnell klarmachen, dass die oben beschriebene Problemlage auch hier unverändert bleibt, obwohl Smith etwa das Finale seiner ersten Nummer mit einer enormen Eindringlichkeit auf das Wort „Toten“ gestalten kann. Alejandro Lárraga Schleske als Bauer geht stimmlich gegen das Orchester auch ziemlich unter, aber was man von ihm hört, das überzeugt durchaus, vor allem die starken Tiefen am Ende seiner Nummer „Deckel des Sarges klappert und klappt“. Cosmin Ifrim als Narr besetzt die klassische Bufforolle und hat auch eine entsprechende Instrumentierung für seine Nummer „Ein seltsamer Vogel ist so’n Aal“ verpaßt bekommen, mit witzigen Flöten und kleinteiliger Struktur, wobei er die parodistischen Elemente geschickt gestaltet, von Schönberg freilich auch mit einer Steilvorlage versehen, wenn beim Bericht von einem Hoffest plötzlich feierlich-staatstragende Musik erklingt, die so schnell wieder verschwindet, wie sie gekommen ist. Mutet aber diese Rolle im Gesamtwerk schon seltsam (und bei Wagner in dieser Konstellation undenkbar – das wäre so, als käme Sixtus Beckmesser im „Tristan“ vor) an, so trifft das noch mehr auf den von Johannes Schwärsky gegebenen Erzähler zu, der stark rhythmisiert agieren muß, dabei aus heutiger Sicht fast in rappende Gefilde abgleitet und phasenweise auch an der Grenze zu „richtigen“ Gesangslinien steht, wobei die Durchsetzungskraft Schwärskys schwankt, die Darstellungskraft aber ohne Wenn und Aber überzeugt. Letzteres trifft auch auf die Instrumentalisten zu, selbst wenn das Hören manchmal einiges an Nervenkraft erfordert, etwa im Orchestervorspiel „Des Sommerwindes wilde Jagd“ vor den beiden letzten Vokalnummern, wo Baßposaune und Tuba erst ganz tief in den Eingeweiden des Hörers wühlen und die anschließenden ausgedehnten Piccoloflötenparts nicht selten eher an einen Tinnitus erinnern. Bleibt die Lage der Chöre zu erörtern. Die Besucherin rechts neben dem Rezensenten staunt die sprichwörtlichen Bauklötze, wo man heutzutage 95 Männerstimmen herbekommt, da selbige doch in praktisch allen Chören akute Mangelware sind. Dafür, dass der Chor nirgends etwas „Steuermann, halt die Wacht“-Kompatibles singen darf, kann er ja nichts. Am Klangvolumen mangelt es jedenfalls schon in der ersten Männerchornummer „Gegrüßt, o König, an Gurre-Seestrand!“ nicht, den Text muß man freilich auch hier im Programmheft mitlesen, und das nicht nur in den wüsten Bombastpassagen, sondern auch in den diversen Verharrungen, wo es bisweilen noch an der Exaktheit speziell in den Auslauten mangelt – aber das wird sich in den nächsten Aufführungen sicherlich auch noch besser eingeschliffen haben. Freude am Hören hat man hier jedenfalls auch an diesem Abend schon, noch mehr aber in der zweiten Männerchornummer „Der Hahn erhebt den Kopf zur Kraht“ mit seiner intensiven Chorformung, wobei der Tenor oft überraschend ätherisch zu agieren hat – und die Exaktheit nimmt auch hier schon deutlich zu. Glanzstück der Aufführung ist aber der Einleitungspart des Schlußchores „Seht die Sonne farbenfroh am Himmelssaum“: Hier sind alle Chöre aktiv, und das ergibt am Platz des Rezensenten einen extrem eindrucksvollen Surround-Sound mit starker Massenverschmelzung, zumal Bebeşelea auch die An- und Abschwellungen kongenial meistert. Nur die letzte Steigerung im Finale fehlt, aber vielleicht hat Schönberg ja ähnlich wie in den ersten beiden Teilen auch hier keine solche vorgesehen. Dass der Schluß leicht ausfasert – geschenkt: Der Gesamteindruck der Aufführung ist ein hochgradig positiver, was auch das Publikum im vollen Saal so sieht, das in lauten Jubel ausbricht und schnell in Standing Ovations übergeht, wobei Bodo Ramelow einer der ersten Besucher ist, der aufspringt – aber dass ihm schnell fast alle folgen, kann hier nicht mit etwaigem Gruppenzwang erklärt werden. Die erste Aufführung dieses Werkes in Thüringen überhaupt (so zumindest die Ankündigung von Kulturstaatsministerin Claudia Roth im Programmheft) darf also als nahezu voller Erfolg gewertet werden, einige kleine Dinge werden in den Folgeaufführungen sicherlich noch besser gelingen, und nur die Frage, ob der Tenor auch „gesund“ klingen kann, bleibt offen. Roland Ludwig |
|
|
|