Schandmaul präsentieren in Leipzig im Clara-Zetkin-Park symmetrisches Geknüppel mit Hitfeuerwerk
Auch Schandmaul wurden durch die Pandemie reihenweise Liveauftritte verhagelt, darunter gute Teile der Touraktivitäten zu ihrem neuen und, wie auf diesen Seiten gleich zweimal (hier und hier) nachzulesen, starken Album Artus. Zumindest einzelne Open-Air-Auftritte waren in den Sommern 2020 und 2021 aber möglich, und einer von selbigen fand nach 3G-Regel auf der Parkbühne im Clara-Zetkin-Park an einem der wenigen wetterseitig wirklich stabilen Wochenenden des Sommers 2021 statt. Nun haben Schandmaul in Mitteldeutschland ja durchaus ein relativ stabiles Following, und zudem wird die einzige größere Konkurrenzveranstaltung des Wochenendes, ein Zweitagesfestival mit u.a. der Spider Murphy Gang, den Jailbreakers, Torfrock und der Münchener Freiheit, einige Tage vorher abgesagt (Roland Kaiser mit seinen zwei Gigs auf der Festwiese zählt nicht als Konkurrenzveranstaltung). Insofern überrascht etwas, dass die Stuhlreihen in der Parkbühne nur zu etwa zwei Dritteln besetzt sind – andererseits ist das Phänomen, sich einerseits über die Flaute an Konzert- und anderen Kulturveranstaltungen zu beklagen, aber andererseits zu denen, die wirklich stattfinden, nicht hinzugehen, mittlerweile hinreichend bekannt und muß daher hier nicht weiter kommentiert werden, zumal auch Schandmaul-Sänger Thomas dafür während des Konzertes schon die passenden Worte gefunden hat, indem er die Anwesenden auffordert, so laut mitzusingen, dass auch die Leute im Stadtzentrum merken, was sie hier gerade verpassen. Aber Moment mal: Schandmaul und Stuhlreihen, also ein Sitzkonzert – kann das gutgehen? Elf Monate zuvor war der Rezensent an gleicher Stelle bei The Hirsch Effekt, und da stellte es kein Problem dar, den komplexen, hirnverknotenden Metal der Truppe auch im Sitzen zu genießen und zu analysieren, ohne den eigenen Körper im sich ständig wandelnden Takt zu bewegen. Aber bei einer bewegungsinduzierenden Band wie Schandmaul, zu der man üblicherweise fleißig das Tanzbein zu schwingen hat? Nun, die Situation löst sich in doppelter Hinsicht auf: Zum einen springen schon nach den ersten paar Schlägen von Drummer Stefan 95% aller Anwesenden von ihren Sitzen und verbringen die folgenden zwei Stunden im Stehen, und zweitens sind wie erwähnt diverse belegungstechnische Lücken auf den Sitzplätzen, so dass man tatsächlich nicht nur auf der Stelle tanzen muß (Hüpfen oder Headbangen geht auf der Stelle natürlich problemlos), sondern das Tanzbein tatsächlich auch ein wenig nach links und rechts schwingen lassen kann, ohne Gefahr zu laufen, etwa die beiden hübschen Tierpflegerinnen aus dem Leipziger Zoo, die rechts neben dem Rezensenten Platz genommen hatten und selbstverständlich auch nicht auf ihren Stühlen klebengeblieben sind, sondern eine durchgängig vertikale Körperhaltung angenommen haben, unfreiwillig niederzumähen. Dass der folkige Mittelalterrock (oder mittelalterliche Folkrock) Schandmauls quasi im Handumdrehen gute Laune im Publikum zu verbreiten in der Lage ist, egal wie düster das behandelte Geschehen auch sei, stellt kein Geheimnis dar, und so zeigt sich auch das Leipziger Publikum begeistert. Die Band wiederum läßt sich auch von strukturellen Unwägbarkeiten nicht stoppen: Neu-Geigerin Saskia steht kurz vor der Niederkunft und muß daher passen – aber Ersatz Shir-Ran ist mehr als nur ein solcher, sondern war bereits seit 2018 mehrfach eingesprungen und zeigt sich somit problemlos eingespielt und integriert. Zudem hat sie ein Heimspiel: In Mannheim geboren, zwischenzeitlich in Israel ansässig, wohnt sie seit einiger Zeit in Leipzig, und zwar gar nicht so weit von der Parkbühne entfernt (wenn auch nicht im östlich an den Clara-Zetkin-Park grenzenden Musikviertel). Kuriosum am Rande: Der Rezensent sieht Schandmaul an diesem Abend zum zweiten Mal live – und zum zweiten Mal steht nicht die etatmäßige Geigerin auf der Bühne, denn 2012 war Anna Katharina Kränzlein schwanger, und statt ihrer spielte Ally „The Fiddle“ Storch mit. Thomas wiederum bestreitet gute Teile des 2021er Gigs im Sitzen – er mußte nach einem Fahrradunfall wieder zusammengeflickt werden, und der Heilungsprozeß ist sehr langwierig, was er in seiner gewohnt launigen Art kommentiert: „Der Arzt meinte, ich hätte ein halbes Jahr lang was davon.“ Gegen Setende aber hält es auch ihn nicht mehr im Sitzen, und er beginnt, wenn er nicht gerade die zusätzliche Akustikgitarre oder (in „Saphira“) das Keyboard zu bedienen hat, im gesetzten Tempo wieder über die Bühne zu schreiten, auch wenn die zusätzliche Anstrengung seiner Stimme nicht gut tut und er gegen Ende hin ein wenig an Durchsetzungskraft verliert. Macht aber nix: Etliche seiner Bandkollegen sind in die Chöre eingebunden, und gute Teile des Publikums, darunter auch die beiden Tierpflegerinnen, singen sowieso textsicher mit, egal ob Klassiker wie den Opener „Herren der Winde“ oder jüngeres Material. Da der Gig als nicht zur offiziellen Artus-Tour gehörig deklariert wurde, stellen Schandmaul ein festivalkompatibles Best-Of-Set zusammen, spielen aber selbstverständlich auch einige Nummern des neuen Albums, darunter erstaunlicherweise nicht „Der Meisterdieb“ und leider auch nicht „Der weiße Wal“ – aber „Vagabunden“ oder „Auf und davon“ sind definitiv auch keine schlechte Wahl, wenngleich die ganz großen Highlights an diesem Abend anderweitig lauern. Einiges fällt erwarteterweise in diese Kategorie (die düstere Dramatik von „Die goldene Kette“ oder das mit brillant akzentuierten Bläsereinsätzen von Birgit und einem frenetischen Gitarrensolo von Martin aufwartende „Vogelfrei“ beispielsweise), eine große Überraschung ist aber auch zu verzeichnen: Die Zwangspause haben Schandmaul zum Schreiben neuer Songs genutzt, und einer steht bereits seit 2020 relativ regelmäßig in den Setlisten, so auch an diesem Abend, betitelt „Knüppel aus dem Sack“ und den ganzen Frust wegen der üblen Situation für freiberufliche Musiker in künstlerisch ausgelebte Aggression kanalisierend. Wenn die Studioversion ähnlich ausfällt wie die Livefassung dieses Abends, haben wir hier den mit Abstand härtesten Schandmaul-Track aller Zeiten vor uns, dessen Intro an beste Slayer-Zeiten erinnert (man halte inne: Schandmaul! Slayer!) und das trotzdem nicht aufgesetzt wirkt (Negativbeispiel: Nightwish mit dem pseudoharten „Slaying The Dreamer“), sondern die gewohnten Bandtugenden gekonnt in ein ungewöhnliches Kleid hüllt. Auch Thomas verwandelt sich hier partiell in einen bitterbösen Shouter, was dafür sorgt, dass man den Text nach einmaligem Hören noch nicht komplett verinnerlichen konnte. Das mitformulierfreudige Publikum muß sich also anderweitig austoben und tut das natürlich auch, markant gleich im anschließenden Bekenntnis „Bunt und nicht braun“, dessen Credo nach Songende kurzerhand noch weitergesungen wird, bis die Band noch einmal einsteigt. Das Gleiche passiert (nach einem originellen Mitsingspiel in „Teufelsweib“ inclusive Anleitung, wie man als Mann Falsettgesang hinbekommt) im Setcloser „Walpurgisnacht“ gleich nochmal – anstelle von „Zugabe“-Rufen singt das Publikum kurzerhand das Hauptmotiv weiter, bis die Band wieder auf der Bühne erscheint und als erste Zugabe de Schlußteil von „Walpurgisnacht“ nochmal spielt. Das Hitfeuerwerk geht aber logischerweise noch weiter, wobei der Dreifachschlag aus „Lichtblick“ (über die verpaßte Chance auf Zweisamkeit), „Dein Anblick“ (nachdem sich offenbar doch noch eine Gelegenheit ergeben hat) und „Willst Du?“ (die finale Konsequenz) so manches Emotionenkostüm bis zum Äußersten auszureizen in der Lage ist – zum Glück kommt nicht auch noch „Prinzessin“ hinterher, sondern „nur“ noch das traditionelle Outro „Es war so schön“ bzw. „Auf Euch“ (wie auch immer das offiziell eigentlich heißt – es kursieren verschiedene Versionen), bevor die zwei Stunden um sind, übrigens bei angenehmer Lautstärke, überwiegend ausgewogenen Soundverhältnissen und einer symmetrischen Bühnengestaltung (Gitarrist und Bassist hinten links bzw. rechts auf Podesten neben dem Drummer, die beiden Damen vorn links bzw. rechts neben Thomas – und auch einige Bewegungsabläufe sind symmetrisch choreographiert, etwa wenn die beiden Damen in „Knüppel aus dem Sack“ auf den Sänger „einprügeln“). Zum Schluß gibt’s für den Rezensenten ein Deja-vu bezüglich des Gigs am 20. Januar 2012 im Haus Auensee (siehe Review auf www.crossover-netzwerk.de): Der Soundmensch spielt nach dem Outro Nina Hagens „Du hast den Farbfilm vergessen“, vor neun Jahren ebenso wie an diesem Abend (und auch an vielen, vielen Abenden dazwischen, wie der Rezensent aus berufenem Munde später erfährt). Struktureller Unterschied: Damals inszenierte das Publikum noch eine fröhliche Polonaise, was diesmal verantwortungsbewußt natürlich ausbleibt – trotzdem sorgt der Song noch für das eine oder andere zusätzliche zufriedene Grinsen. Ein sehr starker Gig, der auch in Jahren mit normal gefülltem Konzertkalender in der Endabrechnung sicherlich einen der Spitzenplätze belegen würde. Setlist: Herren der Winde Vagabunden Auf und davon Das Tuch Missgeschick Der Totengräber Leuchtfeuer Froschkönig Vogelfrei Saphira Die goldene Kette Geisterschiff Knüppel aus dem Sack Bunt und nicht braun Teufelsweib Krieger Vor der Schlacht Walpurgisnacht -- Walpurgisnacht (Reprise) Der Teufel... Lichtblick Dein Anblick Willst Du? Auf Euch Roland Ludwig |
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