Musik an sich


Editorial

2014 jährt sich der Todestag von Jean-Philippe Rameau zum 250. Mal. Rameau bedeutet für die französische Barockmusik – insbesondere die Oper – das, was J. S. Bach für die deutsche Kirchenmusik und G. F. Händel für die italienische Oper und das englische Oratorium bedeutet. Alle drei Komponisten waren konservative Revolutionäre, die die musikalischen Traditionen ihrer Epoche zusammengefasst und vollendet haben. Allen dreien ist es dabei gelungen, die Grenzen ihrer Zeit mit den Mittel ihrer Zeit zu überschreiten und eine Musik zu schreiben, die in die Zukunft weist, obwohl sie den Zeitgenossen doch oft veraltet erschien.

Dabei hat Rameau erst mit 50 Jahren begonnen, die Bretter, die die Welt bedeuten, gleichsam handstreichartig und mit einem gehörigen Skandal zu erobern. Hippolyte et Aricie hieß das 1739 uraufgeführte Werk. Äußerlich ist es eine typisch französische Oper, eine tragedie lyrique, mit Prolog, fünf Akten, vielen Airs, Chören und Tänzen und natürlich den so wichtigen Rezitativen. Aber klanglich? So eine Musik hatte man in Paris noch nicht gehört: So ausdrucksvoll, abwechslungsreich und auf unheimliche Weise dissonant, dass den zartbesaiteteren Zuschauern die Sinne schwanden.

„Barock“ lautet ein Urteil – und es war nicht freundlich gemeint! „Dieser Mann wird uns alle auslöschen,“ erkannte ein hellsichtiger Kollege – und das sollte sich in Teilen bewahrheiten. Rameaus Erfolg in den kommenden 30 Jahren war zeitweise so groß, dass ein Gesetz erlassen wurde, das die Zahl seiner Werke, die zeitgleich aufgeführt werden durften, begrenzte, damit auch andere zum Zug kamen. Doch schon zu Lebzeiten sank sein Stern wieder. Für die Aufklärer war er ein Vertreter des Ancien Régime, für das er dann in der Rolle des Hofkomponisten auch die meisten seiner späteren Stücke komponierte. Seine kühnen musikalischen Neuerungen z. B. in der Harmonik wurden (noch) nicht verstanden. Sein musikalischer Humor, mit dem er z. B. in „Les Paladins“ sich selbst parodierte, irritierte das auf Eindeutigkeit abonnierte Publikum.

Mit der Französischen Revolution verschwand Rameaus Musik nicht nur von den Spielplänen, sie wurde wie alles andere aus der Zeit der „alten Herrschaft“ regelrecht verdrängt. Rameaus Musik galt als trocken, langweilig und gekünstelt! Erst Ende des 19. Jahrhundert wurde sie wieder entdeckt und kein Geringerer als Debussy begeisterte sich dafür. Kein Wunder: eine Arie wie „Tristes apprêts" könnte fast von ihm stammen ... Entscheidend für eine Rehabilitation waren jedoch die Pionierleistungen der historisch informierten Aufführungspraxis, die seit den 1980er Jahren Rameaus Fähigkeiten als genialer Orchestrator und effektvoller Musiktheatermagier offenbarte. Dirigenten wie John Eliot Gardiner, William Christie, Mark Minkowski und Christophe Rousset haben mit ihren Ensembles Herausragendes geleistet. Inzwischen sind Rameaus Hauptwerke auf CD und DVD gut vertreten (letztere v. a. bei Opus Arte). Manches schlummert freilich immer noch zwischen den Partiturdeckeln ...

Jüngst kündigt eine Reihe von Neueinspielungen das anstehende Jubiläum an. Raphael Pichon und das Ensemble Pygmalion haben die bislang noch nie eingespielte 2. Fassung von Dardanus in einer ebenso vitalen wie stilsicheren Lesart herausgebracht (Label: Alpha). Demnächst folgt das Opernballett „Les Surprises de l‘Amour“ mit Les Nouveaux Caracteres und Sebastien d'Herin am Pult (Glossa). Beide Werke demonstrieren auf das Schönste, dass Rameau einer der begnadetsten Komponisten von Tanzmusik vor Igor Stravinsky gewesen ist. Da mag man gleich zu den diversen verfügbaren Suiten-Sammlungen greifen, die sozusagen das rhythmische Best-Off aus den Opern bieten (z. B. unter Frans Brüggen (Glossa), Michi Gaigg (Chrystal) oder Jordi Savall (Alia Vox)). Verheißungsvoll klingen auch die Opern-Auszüge, die die Sopranistin Sabine Devieilhe zusammen mit Alexis Kossenko und Les Ambassadeurs auf der CD Le grand Theatre de l'Amour (Erato) präsentieren. Wer neugierig geworden ist, findet unter Youtube reichlich Gelegenheit, sich einen klingenden Überblick über das Werk Rameaus zu verschaffen. Ganze Opern und Konzerte warten dort auf Neugierige! Empfehlungen zu Rameau finden sich natürlich auch im Archiv unseres Magazins.

Einen Überblick, in dem die Klassik derzeit nur ein kleiner Mosaikstein ist, bietet in diesem Monat auch wieder unser Magazin. Neben den gewohnten Notenbesprechungen von Ingo Andruschkewitsch gibt es ein Interview mit Sänger Valentin von Arrested Denial, die Rezension eines Grundlagenwerks zur Geschichte des Reggae und im Review-Forum wieder eine Fülle von Besprechungen.

Viel Vergnügen beim Lesen wünscht

Georg Henkel