Musik an sich


Reviews
Porcupine Tree

The incident


Info
Musikrichtung: Progressive Rock

VÖ: 11.09.2009

(Roadrunner Records)

Gesamtspielzeit: 76:26

Internet:

http://www.porcupinetree.com
http://www.myspace.com/porcupinetree



I was born in ´67, the year of Sergeant Pepper …

Diese Zeile singt Steven Wilson über sich selbst auf The incident. Dieses Geburtsjahr ist damit nicht nur irgendeine Zahl, sondern durch das genannte Beatles-Album quasi die Geburtsstunde Album orientierter Rockmusik im Allgemeinen und des Konzeptalbums im Speziellen. Und in dieser Tradition ist The incident nicht nur der Name des neuen Porcupine Tree-Albums, sondern zugleich der Name des knapp 56-minütigen Herzstücks des neuen Machwerks. Ein einzelner Song, aufgeteilt in 14 Akte. Aus diesem Grund wird The incident auch auf zwei Silberscheiben ausgeliefert. Auf CD Nr. 1 findet sich das Kernstück, während die restlichen vier Titel mehr oder weniger schmückendes Beiwerk sind.

Obwohl es sich bei den ersten vierzehn Stücken um ein zusammengehöriges Werk handelt, sind die einzelnen Teile doch mehr lose verknüpft und folgen keiner durchgehenden Geschichte. Vielmehr greift Steven Wilson hier wieder seine düstere Weltsicht auf und schildert verschiedene „Vorfälle“ (engl. „Incidents“) aus der Ich-Perspektive; z.B. über die Evakuierung weiblicher Jugendlicher von einem religiösen Kult in Texas, eine Familie die ihre Nachbarn terrorisiert, einen toten Körper, der in einem Fischernetz treibend gefunden wurde oder bei „Time flies“ auch ganz persönlich über sich selbst, was er mit dieser Direktheit noch nie tat. Ähnlich wie die erzählten, unterschiedlichen Geschichten klingen auch die einzelnen Songs sehr variantenreich und folgen keiner durchgehenden Linie, selbst wenn sie immer wieder ineinander fließen. Die Umsetzung eines derartigen musikalischen Konzepts hätte man sich vielleicht ein wenig anders vorgestellt. Denn eine derart einnehmende Atmosphäre wie bei Fear of a blank planet fehlt dem Album damit komischerweise.

So ist es auch nicht immer ganz leicht der Reise von The incident zu folgen. Überhaupt klang kein Porcupine Tree-Album in den letzten Jahren so sperrig - aber auch selten so bunt. Von kurzen Singer-Songwriter-Fragmenten, über Math Rock-Ausbrüchen, schwebenden Passagen in Pink Floyd-Manier und einfach schönen melodischen Passagen findet man so einiges vor. Dabei wagt Steven Wilson auch einen Blick weit zurück in seine Vergangenheit. Schon lange war er nicht mehr so dicht an Alben wie Up the downstair oder Signify dran. Das wunderbare und überlange „Time flies“ wirkt gar wie ein unerwarteter Nachfolger von „Stars die“. Aber auch die bekannte Atmosphäre von Stupid dream und Lightbulb sun feiert immer wieder ihre Auferstehung. Von einem reinen Retrotrip ist das Album allerdings noch weit entfernt und spätestens bei den Meshuggah-artigen Metalriffs von „Circle of manias“ fühlt man sich voll und ganz ins Jetzt versetzt.

Während viele der kurzen Stücke als einzelne Songs nur wenig Wirkung entfalten, wirken sie nach mehrmaligem Hören immer schlüssiger und man kommt langsam hinter das Geheimnis des Albums. Dem gegenüber stehen auch Stücke wie das mit seinen metallischen Akkorden an In absentia erinnernde „The blind house“, das bereits genannte „Time flies“, das maschinelle „The incident“, das mit einem ansteckenden Refrain versehene „Drawing the line“ oder das fast kindlich gesungene und recht floydige „I drive the hearse“, die auch ohne Drumherum ihre Wirkung entfalten. Die zweite CD wirkt ohne das angelegte Korsett wie eine gratis beiliegende EP oder eine Art Entschuldigung dafür, dass man den Hörer so lange auf die Folter spannte. Aber trotz allem sind „Flicker“ (Crosby, Stills, Nash & Young meets Psychedelic), „Bonnie the cat“ (roboterhaft, kalt und industriell), „Black dahlia“ (eine auf angenehme Weise monotone und unspektakuläre Ballade) und „Remember me lover“ (mit ein bisschen Dramatik und all dem Guten was diese Band ausmacht) allesamt gute Songs, die man nicht missen möchte.

Wie ist The incident nun um Ende zu beurteilen? Ein Fazit zu diesem Brocken ist hier alles andere als einfach zu ziehen und wohl erst mit gewissem Abstand möglich. Wer sich auf ein weiteres songorientiertes Album gefreut hat wird vielleicht etwas enttäuscht sein, ebenso derjenige welcher auf ein hypnotisches Stück Musik oder eine Rückkehr zu pop-rockiger Eleganz gewartet hat. Porcupine Tree gehen wieder einen anderen Weg, einen schwierigeren, aber einen nicht weniger faszinierenden. Dabei ist The incident ähnlich mutig wie Steven Wilsons Soloalbum Insurgentes und verbindet Härte und Gefühl so gut, wie wahrscheinlich noch kein Album vor ihm.



Mario Karl



Trackliste
CD1 – The incident:
1. Occam's Razor (1:56)
2. The Blind House (5:47)
3. Great Expectations (1:26)
4. Kneel And Disconnect (2:03)
5. Drawing The Line (4:43)
6. The Incident (5:20)
7. Your Unpleasant Family (1:48)
8. The Yellow Windows Of The Evening Train (2:00)
9. Time Flies (11:40)
10. Degree Zero Of Liberty (1:45)
11. Octane Twisted (5:03)
12. The Seance (2:39)
13. Circle Of Manias (2:19)
14. I Drive The Hearse (7:21)

CD2:
1. Flicker (3:41)
2. Bonnie The Cat (5:45)
3. Black Dahlia (3:40)
4. Remember Me Lover (7:30)
Besetzung

Steven Wilson (Vocals, Guitars, Keyboards)
Colin Edwin (Bass)
Richard Barbieri (Keyboards)
Gavin Harrison (Drums, Percussion)


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