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Reviews
Rameau, J.-P. (Christie)

Les Boréades


Info
Musikrichtung: Barockoper

VÖ: 13.05.2004

Opus Arte / Naxos
2 DVD (AD live 2003) / Best. Nr. OA 0899 D


Gesamtspielzeit: 218:00

Internet:

Les Arts Florissants
Rameaus Platée



STÜRMISCHES VERMÄCHTNIS: RAMEAUS „BOREADEN“ FINDEN IHREN WEG IN DIE PARISER OPER

ATMOSPHÄRE UND STATIK

Die Inszenierung von Robert Carsen will keinen Zweifel daran lassen, dass wir es bei Jean-Philippe Rameaus Oper Les Boreades mit einem zu Unrecht vergessenen „Klassiker“ zu tun haben!
Diese letzte tragedie lyrique des damals achtzigjährigen Komponisten war 1764 aus unterschiedlichen Gründen ungespielt in den Archiven der Académie Royale de Musique verschwunden. Obschon bereits 1963 im Rundfunk uraufgeführt und seitdem wenigstens zweimal in Szene gesetzt, fand sie doch erst 2003 auf die Bühne der Pariser Opera Garnier - als wahrlich große Oper mit insgesamt 140 Mitwirkenden!

Carsen und sein Ausstatter Michael Levine präsentieren das Werk im minimalistischen Edel-Design: Im je nach (emotionaler) Witterungslage verdunkelten, verschneiten oder vernebelten Bühnenraum charakterisieren nur wenige Requisiten die Szene: Das Königreich Baktrien gibt sich als Land leichtbekleideter, apollonischer Blumenkinder, denen Besuch aus der düsteren Welt des Gottes Boreas, dem Herrn der Nordwinde, in Haus steht. Steif, sonnenbebrillt und zugeknöpft im eisgrauen Zwirn lässt dessen Gefolge auch prompt einen herbstlichen Schatten auf das kleine Reich fallen.
Dabei hat die düstere „Invasion“ eigentlich ganz romantische Gründe: Nach altem Gesetz ist nämlich die Herrscherin Baktriens, Alphise, verpflichtet, einen der beiden Boreas-Söhne zu heiraten. Bei allerlei Tanz-Divertissement, das in der auf Dauer arg monotonen Zappel-Choreographie von Édouard Lock die eher herrische und unterkühlte Wesensart der Boreaden offenbart, sucht man der Dame näher zu kommen. Alphise jedoch liebt den Ziehsohn des Apoll-Priesters: Abaris. Dessen Herkunft aber liegt im Dunkeln. Als die Königin abdanken will, um für ihre unstandesgemäße Liebe frei zu sein, verwüsten die rachsüchtigen Boreaden das Land und entführen die Königin. Nur Abaris, der jetzt seine Bestimmung erkennt, kann da noch mit Eros’ Zauberpfeil Rettung bringen …

So schnell die Handlung erzählt ist, so gut hat sie der mutmaßliche Librettist Louis de Cahusac auf fünf Akte gestreckt; zusammen mit den sehr üppigen Musikeinlagen Rameaus macht das gut zweieinhalb Stunden Musiktheater. Paradox: Gerade weil Rameau der Tradition der französischen Barockoper treu bleibt und den Text minutiös ausgestaltet, löst er ihn und die dünne Geschichte praktisch in seiner Musik auf. Diese fast schon obsessive Überhöhung einer ausgelaugten theatralischen Form ist eine Herausforderung für jeden Regisseur.
Zwar gelingt es Carsen mit seiner polarisierenden Inszenierung und einigen diskreten Eingriffen ins Geschehen, den politisch-philosophischen Subtext der Oper deutlicher herauszuarbeiten, als das bei den historisierenden bzw. verspielten Vorgängerproduktionen in Aix-en-Provence (1982) und Salzburg (1999) der Fall war.
Es ist nicht schwer, im Boreaden-Reich die traditionalistischen Kräfte des Ancien Regime, in Abaris und seinem priesterlichen Ziehvater dagegen die Epoche der Aufklärung zu erkennen. Rameau und Cahusac haben denn auch einige subversive Botschaften in ihrem Werk platziert: „Die Freiheit ist das höchste Gut!“ singt eine Nymphe mit herausfordernd spritziger Musik ins höfische Tete-a-tete hinein. Diesem Ohrwurm kann nicht mal das Boreadenvolk widerstehen: „C’est la liberté …!“
Allerdings hilft Carsens Stilisierung nicht immer über die theatralische Leere hinweg, sondern produziert z. B. bei den Tanz-Divertissements sich wiederholende Rituale, derweil Rameaus Musik unbekümmert von einem genialen Einfall zum nächsten springt. Noch im Happy End dominiert szenisch eher boreadische Strenge denn apollonische Leichtigkeit.
Dennoch bleiben einige eindrucksvolle, meist Bilder im Gedächtnis: der heuschreckenartige Boreadeneinfall zu Beginn, der Farbzauber des fallenden Herbstlaubes, die Beschwörung des Windes in einer ekstatischen Seance, der pompös-bedrohliche Einzug der mit Essbesteck „bewaffneten“ Hochzeitsgesellschaft (die Braut trägt Schwarz!) oder das regennasse Reich des Boreas mit seinen freakigen Söhnen.

WINDMUSIK, VON SKURIL BIS UNHEIMLICH

Der wegen seiner Musik und Theorien ebenso gefeierte wie umstrittene Komponist hat noch einmal alle seine Kunst aufgeboten, wohl wissend, dass dieses Werk sein Vermächtnis werden würde. Nach all den galanten Einaktern und dem reizvollen musikalischen Flitter der Opera Ballets komponiert er hier noch einmal ganz ohne Zugeständnisse an den Publikumsgeschmack.
Dabei bietet Les Boreades mehr als nur eine Aneinanderreihung von exquisiten Nummern. Stärker noch als in früheren Werken werden Rezitative, Chöre, Arien und Instrumentalstücke ineinander verzahnt. So spielt die programmatische Ouvertüre mit ihren Sturm- und Jagdmotiven in die erste Szene hinein: Während sich die unglückliche Alphise noch ihrer Zofe offenbart, hört man von Ferne die Hornsignale der sich nähernden Boreaden-Jagdgesellschaft, bis die beiden Kandidaten plötzlich im Raum stehen.
Die Akte 2 und 5 bewegen sich wegen der fließenden Grenzen von Arie und reich orchestriertem Rezitativ schon fast auf eine durchkomponierte Form zu. Eine grandiose Unwetterszene inklusive Sturmmusik schweißt das Ende des 3. und den Beginn des 4. Aktes zu einem großen Szenenkomplex zusammen, dessen dramatische Bündigkeit auch ein Ch. W. Gluck in seinen Reformopern nicht übertroffen hat.

Rameau experimentiert mit neuartigen Instrumentalkombinationen, um das zentrale „Leitmotive“ der Oper, den Klang des Windes, immer neu in akustische Szene zu setzten. Da gibt es nicht nur die üblichen verirrten Flöten-Seufzer, sondern auch markige, abgerissene oder wirbelnde Phrasen der Streicher und übrigen Holzbläser. Vor allem „sein“ Instrument hat der Fagottist Rameau überreich mit anspruchsvollen Partien bedacht. In dem atemberaubend schönen Air des Abaris, Lieux désolés, das mit seiner „Windmusik“ wie reinste Romantik anmutet, wird die Naturgewalt dann geradezu psychologisiert.
Gewohnt abwechslungsreich und originell sind die Tänze und Entrées gearbeitet: Weniger eruptiv vielleicht als in den früheren Opern, dafür experimenteller und unverkennbar durch die eigentümlichen Klangwirkungen, das (noch einmal gesteigerte) elegische Pathos oder den skurrilen Witz. Einige Instrumentalsätze wie der Entrée de Polymnie im 4. Akt gehören wohl zum Sinnlichsten (um nicht zu sagen Laszivsten), was das 18. Jahrhundert hervorgebracht hat. Anderem, z. B. dem Contredanse en Rondeau aus dem 1. Akt, gebührt das Prädikat „unheimlich“, während das geradezu „nihilistische“ Präludium zum 5. Akt von zeitloser Modernität ist.
Neu ist schließlich die dramatische, der italienischen Oper abgelauschte Virtuosität der Vokalpartien, deren Höhepunkt die Arie der Alphise Un horizon serein darstellt. Wie überhaupt das Ausdrucksspektrum auch in den Rezitativen eine neue Qualität erreicht. Den hohen Anforderungen an die Hauptdarsteller dürften schon 1764 nur wenige Sänger/innen gewachsen gewesen sein.

LUXURIÖSE INTERPRETATION UND EINIGE EXTRAS

Das ist heute anders: Mit Barbara Bonney und Paul Agnew hat William Christie zwei exzellente Sänger-Akteure gewonnen. Bonney, eigentlich im lyrischen Sopranfach zu Hause, erfüllt ihre Rezitative mit Leidenschaft und überzeugt mit einer sehr dramatischen Version von Un horizon serein. Agnew etabliert sich erneut als einer der größten haut-contres. Er beseelt seine hohe Tenor-Partie mit so viel Ausdruck, Innigkeit, Schmelz und Zartgefühl, dass auch eine Rokoko-Arie wie Fuyez, reprenez vos chaînes sofort unter die Haut geht. Mit den kraftvollen, dabei subtil deklamierenden Stimmen von Laurent Naouri (Boreas), Stéphane Degout (Borilée) und Toby Spence (Calisis) ist die dunkle Gegenseite ebenfalls eindrucksvoll besetzt.

Das Ensemble hat in William Christie und Les Arts Florissants allerdings auch optimale Begleiter. Verglichen mit der über zwanzig Jahre alten, maßstabsetzenden Einspielung von John Eliot Gardiner (Erato/Warnerclassics) gibt es nicht nur spieltechnische Fortschritte. Auch das Einfühlungsvermögen in die feinsinnige Tonsprache Rameaus ist gewachsen. Die Souveränität kommt einer größeren Flexibilität des Ausdrucks zugute, gerade in den Rezitativen, die mit erlesenen Verzierungen prunken. Gardiner betont mehr den rhythmischen Puls und sorgt für strukturelle Klarheit, Christie legt dagegen bei insgesamt flotteren Tempi Wert auf Geschmeidigkeit und Eleganz.
Einzig die Sturmszene erreicht in dieser Neuproduktion nicht jene Wucht, die ich mir gewünscht hätte. Das hat zwei Gründe. Der erste wiegt am Schwersten und ist kaum nachvollziehbar: Wo Rameau den 3. und 4. Akt musikalisch verbindet, trennt die Schnitt-Technik, indem sie den DVD-Wechsel just zwischen die beiden Akte legt (im wahrsten Sinne mitten in die Musik!). Dabei hätten sechs Minuten vom 4. Akt genügt, um den Zusammenhang zu wahren. Dann steigt bei Christie in der Zwischenakt-Sturmmusik das musikalische Barometer wieder etwas, während Gardiner sich dem Toben der Elemente überlässt. Letzterer macht auch exzessiven Einsatz von der Donnermaschine – Dank des perfekten Timings ist der Effekt grandios.

Die Bildregie wirkt mit ihren zackigen Schnitten zu Beginn etwas steif, gewinnt dann aber an Beweglichkeit. Der Klang ist gut: Stimmen und Instrumente werden optimal abgebildet, die Nebengeräusche halten sich in erträglichen Grenzen.
Als Bonbon gibt es noch rund eine Stunde Extras: Der Beitrag von Reiner M. Moritz ist als Einführung in das Werk und die Interpretation sehr empfehlenswert. Er bietet Interviews mit dem Regisseur, dem Dirigenten und den Hauptdarstellern. Als Einstieg bestens geeignet!



Georg Henkel



Besetzung

Barbara Bonney, Alphise
Paul Agnew, Abaris
Laurent Naouri, Borée
Stéphane Degout, Borilée
Toby Spence, Calisis
Nicolas Rivenq, Adamas/Apollon
u.a

Tanzensemble „La la la Human Stepps“
Édouard Lock, Choreographie

Chor und Orchester „Les Arts Florissants“
Ltg. William Christie

Robert Carsen, Regie
Michael Levine, Kostüme und Szene


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