Büßerinnen hoch 2: Mahlers Achte im Leipziger Gewandhaus als Festival-Finale
Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 8 Es-Dur trägt den Beinamen „Sinfonie der Tausend“ – dieser geht nicht auf den Komponisten selbst zurück, der nicht glücklich mit ihm gewesen sein soll, aber er entspricht der historischen Wahrheit, denn zur Uraufführung anno 1910 (siehe das abgebildete Plakat von Alfred Roller) sollen tatsächlich mehr als 1000 Mitwirkende, darunter mehr als 850 Chorsänger, beteiligt gewesen sein. 1000 Mitwirkende könnte man heutigentags auch im Großen Saal des Gewandhauses unterbringen, aber dann blieben nur noch reichlich 1000 Plätze für das Publikum übrig, und was eine derartige Sängerzahl für die Akustik des Saals bedeuten würde, will man sich auch eher nicht ausmalen. Andererseits kann man, will man keine Kammermusikfassung aus der Sinfonie machen, nicht ohne eine immer noch so beträchtliche Zahl von Mitwirkenden auskommen, dass der zu betreibende Aufwand groß genug ist, Aufführungsmöglichkeiten des Werkes auf eine geringe Zahl bestimmter Gelegenheiten zu reduzieren. Eine solche Gelegenheit stellt naturgemäß das vom Gewandhaus organisierte Internationale Mahler-Festival dar. Bereits bei der Erstauflage anno 2011 fungierte die Achte dort als vom hauseigenen Gewandhausorchester gestalteter finaler Glanzpunkt, zumindest in der Theorie, und beim zweiten Festivaljahrgang stehen drei Aufführungen dieser Sinfonie am letzten Festivalwochenende an, das zugleich das Pfingstwochenende ist, so dass die vom Rezensenten miterlebte dritte Aufführung diejenige am Abend des Pfingstmontags ist. Die Theorie-Bemerkung bezieht sich auf den Aspekt, dass Riccardo Chailly 2011 zwar etliches an Gänsehautmomenten zu evozieren in der Lage gewesen war, aber insgesamt zuviel gedachte Größe und zuwenig Transparenz herrschten, so dass am Ende zwar geschätzte 80% des Publikums vor Begeisterung tobten, aber die anderen 20% inclusive des Rezensenten nicht so ganz glücklich mit dem Gesamtbild waren. Da man Andris Nelsons, der die 2023er Aufführung leitet, als einen Meister von Transparenzgestaltung und Spannungsentwicklung kennt (letzteres war Chailly auch, aber auf andere Weise), ist der Rezensent umso neugieriger auf das, was der Lette aus diesem Riesenwerk holen wird. Dass die beiden ersten Aufführungen unter einer ungewöhnlich hohen Dichte an spielerischen Unfällen gelitten haben sollen, erfährt der Rezensent erst hinterher, so dass er völlig unbeeinflußt an seinen Höreindruck gehen kann. Und Nelsons liefert gleich: Bis zur ersten Gänsehaut samt einem emotionalen Tränchen dauert es an diesem dritten Abend im ersten Satz keine zwei Takte. Das Grundtempo ist erstaunlich flott, aber zumindest in der instrumentalen Komponente gibt es keinerlei Transparenzprobleme. Auch die zunächst sieben Solosänger (Nummer 8, Mater gloriosa, greift bekanntlich erst zum Schluß ins Geschehen ein) hört man gut durch – und nimmt damit aber auch wahr, dass es auch in dieser dritten Aufführung noch nicht zur Herstellung eines Miteinanders gereicht hat. Trotz behutsamer Formung bleiben alle Sänger in ihrer jeweiligen Blase, was zwar immer noch zu so mancher berückenden Einzelleistung führt, aber das Gesamtbild ein wenig zu sehr fragmentiert. Gut, auch hier ist wie schon bei der Festivaleröffnung mit „Die drei Pintos“ zu bedenken, dass gleich drei der acht Sänger Einspringer für ausgefallene Kollegen sind, neben Nikola Hillebrand als Mater gloriosa auch Brit-Tone Müllertz als Magna Peccatrix und Brendan Gunnell als Doctor Marianus, der interessanterweise Benjamin Bruns ersetzt, welchselbiger wiederum in „Die drei Pintos“ für Martin Mitterrutzner eingesprungen war. Aber die entscheidenden Akzente kommen von anderer, also z.B. instrumentaler Stelle, trotz des anfangs bisweilen deutlich zu grellen Blechs, was sich erst im Laufe der Sinfonie vor allem trompetenseitig mildert. Aber ein Händchen für Dramatikgestaltung hat Nelsons, und das setzt er auch ein, obwohl oder gerade weil er mal wieder einige Passagen mit einer Hand hinten am Pultgitter dirigiert – dafür hebt er aber andere förmlich mit beiden Händen nach oben, etwa die Hinführung zum Kinderchor-Solo. Und in derartiger Messerschärfe hört man speedlastigen Chorbombast auch nicht oft, wenngleich die Solosänger in diesem kaum akustische Chancen haben. Im Einsatz ist chorseitig praktisch alles, was in der Stadt Rang und Namen hat: der GewandhausChor, der MDR-Rundfunkchor und der Opernchor bei den Erwachsenen, der GewandhausKinderchor und der Thomanerchor für die jugendlichen Stimmen. Und noch jemand erlebt einen markanten Einsatz: eine der neuen Glocken, die das Gewandhaus dank der Unterstützung seines Freundeskreises und der gestifteten Erbschaft einer Musikliebhaberin jüngst anschaffen konnte – vorher mußte man sich diese Instrumente für jede Aufführung ausleihen. Für den Schlußbombast des 1. Satzes treten noch zwei Chöre von Fernbläsern links und rechts auf den Emporen in Erscheinung – und da ist sie wieder, diese atemberaubende Spannung, für die der Notizzettel des Rezensenten das Prädikat „hoch 2“ ausweist. Wenn man dem Finale von Mahlers Zweiter anno 2011 das Level „hoch 3“ zuweist (bis heute der wohl atemberaubendste Konzertmoment, den der Rezensent je erlebt hat), ist klar, dass es hier schon weit nach oben geht, aber noch Reserven offen sind. Können diese Reserven im zweiten Satz (das 80-minütige Werk besteht aus nur zwei Sätzen) noch so ins Feld geführt werden, dass die Tugenden des ersten erhalten bleiben und doch noch eine Steigerung drin ist? Zunächst läßt sich die Lage gut an: Was das Holz da in der Satzeinleitung macht, ist einfach nur noch jenseitig schön. Nelsons nimmt das Tempo oft bis in Stillstandsnähe herunter und erweist sich abermals als geschickter Meister des Zusammenbaus von winzigen Partikeln – und was da an Chorspannung beispielsweise in gewissen Echopassagen entstehen kann, das weiß man ja schon aus dem ersten Satz. Den Chor der Büßerinnen akustisch von gaaaaanz weit rechts oben kommen zu lassen geht jedenfalls als Geniestreich durch. Nur gelingt es auch hier im zweiten Satz nicht, aus den Solosängern ein Ensemble zu formen – jeder sieht irgendwie, wo er bleibt, selbst wenn auch das noch für den einen oder anderen Klassemoment reicht. Adrian Eröd als Pater ecstaticus agiert recht durchsetzungsstark, obwohl auch bei ihm wie bei allen Solisten die Textverständlichkeit nicht die oberste Priorität besitzt. Bassist Georg Zeppenfeld als Pater profundus kann eine ziemliche Sattelschlepperpower ins Feld führen, muß das nicht selten aber auch, während Brendan Gunnell ziemlich wagneresk agiert. Von den Damen fällt Gerhild Romberger als Maria Aegyptiaca durch ihre Gestaltungsfreude auf, während Lioba Braun als Mulier Samaritana erstaunlich dominant agiert, trotz in den Höhenlagen eher gedeckter Stimme. Jacquelyn Wagner als Una poenitentium legt bisweilen ziemliche Keckheit an den Tag, Brit-Tone Müllertz als Magna Peccatrix hält sich eher zurück, und Nikola Hillebrand, wie üblich oben von der Orgelempore aus singend, hat eine schöne Stimme, mutet als Mater gloriosa aber zu angestrengt an. Die großen Momente kommen letztlich erneut woanders her: Dass man die vier Harfen im Schlußchor wirklich sägen hört, besitzt schon Seltenheitswert, aber die Entwicklung der Chorspannung über mehrere Minuten aus dem instrumentalen Nichts heraus braucht auch einen Könner, und der steht an diesem Abend zum Glück am Pult. Alles richten kann aber auch er nicht: Jacquelyn Wagner bricht der Spitzenton weg, und das Finale ist zwar groß gedacht, aber der Überwältigungsfaktor bleibt aus und die Spannung eher durchschnittlich – dass ein Vorklatscher letztere dann auch noch torpediert, ist an dieser Stelle ein spezielles Unglück. Trotzdem entspinnt sich viel Jubel, der lauteste für die Chöre, und so bleibt man einerseits mit einem durchaus zufriedenen Eindruck zurück, kann sich aber andererseits des Eindrucks nicht erwehren, dass das noch besser gehen muß. Vielleicht beim 3. Mahler-Festival anno 2031 oder 2036? Roland Ludwig |
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