Der kontinuierliche Marsch zum neuen Drummer: Wirbelsäule, Syntension und mehr im Jenaer Kulturbahnhof
Bevor das Kulturbahnhof-Team in eine knapp zweimonatige Sommerpause geht, wie eine solche in präpandemischen Zeiten üblich gewesen war, ehe so mancherlei durcheinandergewirbelt wurde (wir erinnern uns: 2021 hatte es keine Sommerpause gegeben, da statt dessen etliche Open Airs anstanden, um das ausgefallene Konzertfrühjahr wenigstens ein bißchen zu kompensieren – 2022 standen zwar auch Open Airs auf dem Programm, aber schon im Mai), steht noch eine Art Gesamtkunstwerk-Abend an, der unter der Überschrift „Sonnenfinsternis“ firmiert, obwohl ein solches astronomisches Ereignis zumindest in Mitteleuropa weit und breit nicht in Sicht ist. Es gibt also die ganze Zeit über Stummfilm-Kino und im Hauptraum vier musikalische Darbietungen, davon zwei „klassische“ Bandauftritte und zwei Performances. Bei letzteren beschäftigen sich Waveshapes, A.mx und Soma Surya damit, die per Beamer an die linke Wand hinter dem Eingang zum Hauptraum geworfenen Bildelemente mittels Synthesizern und Geigen zu untermalen, wobei die erste Performance bildseitig aus einem Duell (oder Duett, wie man will) zweier geometrischer Strukturen (die eine aus lediglich zwei rechten Winkeln bestehend, die andere ein großes netzartiges Gebilde darstellend) besteht, die zweite (bei der die Geige dazukommt) hingegen eher biometrische, vegetabile Formen verarbeitet. Das Ganze ist leider räumlich schwierig, da Beamer und Leinwand so hängen, dass die Leute, die vom Eingang zur Bar oder weiter in den Hauptraum wollen, zwischen Leinwand und Betrachtern hindurch müssen. Zudem zieht sich die musikalisch im Ambient-Bereich anzusiedelnde und die Drone-Grenze oft und gern überschreitende Performance zumindest für weniger fanatische Anhänger des Genres ziemlich in die Länge, obwohl beide mit ziemlich viel Applaus bedacht werden, der bei der zweiten übrigens schon einsetzt, als sowohl Musik als auch Bild noch laufen, aber dynamisch auf einen möglichen Zäsurpunkt zulaufen. Möglicherweise wollte das Auditorium also mit dem zweiten Applaus ein „Genügt“-Zeichen setzen ... Syntension hatten im September 2021 letztmalig im Kulturbahnhof gespielt, also erst vor einem reichlichen Dreivierteljahr. In selbigem ist trotzdem viel geschehen: Nach dreijähriger Suche konnte endlich ein neuer Drummer an Bord geholt werden – sein Vorgänger war eigentlich bereits seit 2019 kein Bandmitglied mehr, hatte aber immer noch einige Gigs mit den alten Kollegen gespielt, unter anderem auch den erwähnten anno 2021. Der Neue ist bei einem Festivalauftritt am 18.6.2022 nun erstmals der Weltöffentlichkeit präsentiert worden und spielt an diesem Abend in Jena also seinen zweiten Gig mit der Band. Angesagt wird dieser Umstand nicht – und wer die Combo nicht kennt, dürfte ihn vermutlich auch gar nicht bemerkt haben. Dass Syntensions Musik rhythmisch eine relativ große Vielfalt atmet, sorgt dafür, dass an einigen Stellen durchaus auch andere Lösungen möglich sind als die, die der Vorgänger gespielt hat, ohne dass der Neue damit Gefahr liefe, die angestrebte Ordnung zu zerstören – und wenn man die „Originale“ nicht exakt im Ohr hat, fallen einem Abweichungen sowieso kaum bis gar nicht auf. An einigen wenigen Stellen bekommt der Neue strukturelle Hilfestellung, indem sich der Sänger oder einer der Gitarristen vor ihn stellen und bestimmte Rhythmusmuster imitieren oder im angestrebten Takt bangen, aber das ist so intelligent in die reguläre Bühnenperformance eingewoben, dass es nicht aus dem Rahmen fällt. Und rein spieltechnisch überzeugt der Schlagwerker genauso wie seine bereits länger an Bord befindlichen Kollegen – für den bisweilen doch recht komplexen Progmetal braucht man ja auch ein gewisses Grundkönnen, und an dem scheint es in diesem Fall nicht zu mangeln. Damit ist dann zugleich auch zu hoffen, dass der Kreativprozeß wieder Fahrt aufnimmt und Syntension ihre Anhängerschaft auch wieder mit neuem Material beglücken können. Der Set dieses Abends verläßt sich auf Bewährtes, freilich wieder mal in neuer Anordnung. Das monströse „Invading Desire“ beispielsweise, anno 2016 an gleicher Stelle als Opener gespielt, 2021 aber als Closer, steht diesmal in der Setmitte, auch „In Front Of My Eyes“ rückt von der 2021er Openerposition eine Stelle nach hinten, während „Ten Fifty-Five“ diesmal den Rausschmeißer bildet. Bis dahin haben Syntension so manchen noch unkundigen Anwesenden von ihrem Können überzeugt und eine Stunde feinsten angedüsterten Progmetals dargeboten, vom filigranen Doppelakustiksolo bis zum feisten „Roots Bloody Roots“-Gedächtnisriff das ganze Spektrum auffahrend und diesmal lediglich den Anteil von rauhem Gesang weiter reduziert habend. Nur muß man sich etwas anstrengen, um all das im gewünschten Maße nachvollziehen zu können: Die beiden Gitarristen (samt ihren Gesangsmikrofonen) und der Drummer bilden von Anfang an eine klangliche Einheit, aber bis die akustische Einbindung des Basses ins instrumentale Geflecht richtig gelingt, ist der halbe Set schon bald rum, und der Weg führt interessanterweise über seine Einbindung in den (halb-)akustischen Passagen, wo er als erstes integriert werden kann, ehe das dann auch in der metallischen Härte funktioniert. Noch länger braucht die Soundfraktion, um den Leadgesang dorthin zu stellen, wo er akustisch hingehört, eine Durststrecke, die angesichts von dessen grundsätzlich hoher Qualität schade ist, obwohl sich diesmal auch einige wohl so nicht geplante schräge Töne einschleichen. Ein paar kultige Ansagen hat der Vokalist aber auch diesmal auf Lager, etwa wenn er feststellt, dass es im Raum ganz schön warm sei, die Band aber trotzdem die Wärme der Anwesenden noch mehr spüren wolle, wozu hülfe, dass das Publikum näher an die Bühne rückt. (Die Klimaanlage funktioniert übrigens durchaus.) Dieser Aufforderung leisten die meisten auch Folge, und letztlich springt doch noch ein recht guter Gesamteindruck heraus, der auch anständig beklatscht wird, und nur eine Zugabe ist aus Zeitgründen nicht drin. Wirbelsäule haben die Angewohnheit, alle i-Buchstaben mit einem Trema, also mit zwei Punkten, auszustatten, nicht nur im Bandnamen, sondern auch in Songtiteln, Infomaterial etc. pp, was aus technischen Gründen hier im Review unterbleiben muß. Das Infomaterial zum bisher einzigen Studioalbum Initiation verheißt folgenden Stil: „amidst Post and Psychedelic Rock/Metal meander Doom, Stoner, Blackgaze and suchlike.“ Von diesem Album erklingen zwei seiner vier „vollen“ Songs, allerdings beide erst am Ende des Sets – das Gros ist also bisher unkonserviert und paßt auch nur bedingt in die genannte Beschreibung, trotz deren grundsätzlicher Offenheit. Statt dessen positionieren sich die neuen Nummern in einem gedachten Viereck zwischen The Cure, The Cult, Spacerock und ein paar Black-Metal-Prügelattacken. „Das ist wie Phillip Boa, aber in langweilig“, meint ein in der Nähe des Rezensenten befindlicher Besucher, der offensichtlich keinen richtigen Zugang zum Material des Vierers findet. Geduld braucht man beim Erschließen allerdings in der Tat, und das einerseits ob der ausladenden, sich oft aber sehr langsam entfaltenden Arrangements, andererseits auch in puncto Sound, der anfangs extrem distanziert anmutet, so als ob man irgendwo draußen steht und die Band hinter dem nächsten Wald musiziert. Der Baß agiert anfangs sehr dröhnig, und es dauert geraume Zeit, bis es gelingt, ihn ausgewogen einzubinden und zugleich diesen Distanzeffekt, der offensichtlich nicht so gewollt war, so weit zu beseitigen, dass er nur noch abgeschwächt in den Vocals überlebt, die immer noch klingen, als ob die Erzeuger derselben nicht hier vor Ort seien. Immerhin kann man dann aber irgendwann die Strukturen des Materials besser erschließen, zumal auch die Durchhörbarkeit der Samples, die der Bassist abruft, spürbar besser, ja richtig gut wird und man selbst dann, wenn der Drummer Blastbeats einwirft, die anderweitigen Strukturen noch gut nachvollziehen kann. Inwieweit gerade letzteres Element immer mit Logikbegriffen zu fassen ist, bleibt natürlich im Auge bzw. Ohr des jeweiligen Hörers verortet – der Rezensent, der die Band an diesem Abend zum ersten Mal live hört, findet es hier und da etwas zu bemüht (so nach dem Motto „Huch, in diesem Song haben wir ja noch gar keinen Blastbeat, da muß aber noch einer rein“), während die Dynamikkurve in anderen Songs deutlich besser funktioniert, etwa in „Airport Temple“ mit seinem eingebauten Katastrophenszenario, das auch durch entsprechende Lichteffekte unterstrichen wird, oder in der großen Klimax von „Ende November“, die nur leider etwas uninspiriert austrudelt. Dafür überzeugt etwa der abstruse, aber irgendwie geniale dreiertaktige Tanzpart in „First Class Flight To Venus“, obwohl oder gerade weil man gar nicht so richtig weiß, wie man zu ihm das Tanzbein schwingen soll. Das Publikum tut es trotzdem, zeigt sich auch sonst recht angetan von der Musik des Quartetts und erfüllt auch seine Aufgabe, inmitten einer sonst etwas langatmigen Jamsession (gemäß Ansage ein üblicher Bestandteil von Wirbelsäule-Gigs) im dynamischen Höhepunkt 30 Sekunden lang Krach zu machen, zumindest in den ersten dieser Sekunden in vorgesehener Weise. Nach besagter Jamsession stehen noch die beiden erwähnten Debütsongs auf dem Plan, zunächst „Der kontinuierliche Marsch ins Nichts“, anfangs tatsächlich mit Marschrhythmen spielend, aber diese konsequent dekonstruierend, und zum Schluß noch „The Newspaper Boy“, der mit Abstand eingängigste Song des Abends und praktisch der „Hit“ der Band, den man auch mit nachlassender Konzentration noch vernünftig nachvollziehen kann – durch die beiden eingeschobenen Performances ist es arg spät geworden und die Geisterstunde schon wieder vorbei, als der Zeitungsjunge seinen Job erfüllt hat. Eine Stunde früher hätte man der Band vielleicht noch mit größerer Aufmerksamkeit gelauscht, aber so bleibt nur die vordere Saalhälfte am Ball, die hintere leert sich mit der Zeit. Oder sammeln die alle nur Kräfte für die Aftershowparty, in der der Ankündigung gemäß „atmosphärisch dichter, voranpreschender Techno“ erklingen soll? Keine Ahnung – aber eine entsprechende Zielgruppe ist offenbar auch anwesend, und die hübsche Blondine, die während des Syntension-Gigs eine Zeitlang neben dem Rezensenten steht, aber dann feststellt, dass das musikalisch nicht ihr Ding sei, und verschwindet, kommt justament zur Aftershowparty wieder rein, während der Rezensent seine Kräfte darauf konzentriert, auf den 100 km Heimfahrt nicht einzuschlafen. Roland Ludwig |
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