Irrationales Scheitern: Paul Frankenburgers Oratorium Joram erstmals in Leipzig zu hören
Paul Frankenburger erlebte gleich mehrfach Glück und Pech in gewissen Parallelen. Seit 1924 als Kapellmeister und Chorleiter am Augsburger Stadttheater tätig, hatte er unter den antijüdischen Tendenzen in der Theaterleitung zu leiden und wurde 1931 entlassen. Das verschaffte ihm paradoxerweise Freiraum für die Komposition des großen Oratoriums „Joram“ für Soli, Chor und Orchester op. 18, das er 1933 beendete – praktische Aufführungsmöglichkeiten hierzulande waren zu diesem Zeitpunkt freilich passé. Im Gegensatz zu vielen anderen Deutschen jüdischer Abstammung, die der Hoffnung nachhingen, es werde schon alles nicht so schlimm kommen, sah Frankenburger, vielleicht auch aufgrund seiner schon lange vor der „Machtergreifung“ erfolgten Entlassung, klar, dass er in Deutschland keine Zukunft hatte, und übersiedelte bereits im November 1933 nach Palästina, was ihm zum einen das Leben rettete und zum anderen die Möglichkeit offerierte, intensiv am Aufbau des musikalischen Lebens im späteren Israel mitzuwirken, wo er bis heute als einer der Väter der modernen Musik gilt, während er in Deutschland nahezu vergessen ist, sowohl als Paul Frankenburger als auch als Paul Ben-Haim, wie er sich seit seiner Übersiedlung nannte. Auch im Kontext von „Joram“ reihen sich Glück und Pech dicht aneinander. Dass 1933 natürlich keine praktische Möglichkeit mehr bestand, das Stück in Deutschland aufzuführen, wurde bereits erwähnt – glücklicherweise ging es aber in den Wirren der Zeit nicht verloren wie so viele Werke von Zeitgenossen. Eine Aufführung in deutscher Sprache in Palästina bzw. Israel wäre aber auch undenkbar gewesen, und so kam es letztlich erst 1979 zur Uraufführung, fünf Jahre vor dem Tod des Komponisten – allerdings in einer gekürzten und ins Hebräische übersetzten Fassung. Die Originalfassung aber blieb weiter in der Schublade, erlebte erst 2008 in München ihre Uraufführung und verbreitet sich hierzulande langsam weiter. Die für 2021 als Beitrag zum Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ in Leipzig und Halle angedachte hiesige Erstaufführung fiel der Pandemie zum Opfer – in Leipzig hätte sie zudem dem Jubiläum der 60jährigen Städtepartnerschaft mit Kiew gewidmet sein sollen, und zwar unter Einbeziehung ukrainischer Musiker. 2022 ist die Pandemie nun so weit zurückgedrängt, dass die Aufführungen, in Leipzig als Sonderkonzert der Jüdischen Woche und unter Schirmherrschaft von Ministerpräsident Michael Kretschmer, endlich stattfinden können – nur hat sich die strukturelle Lage in der Ukraine aktuell bekanntermaßen grundlegend verändert, so dass sich die Beteiligung ukrainischer Musiker auf 13 Sängerinnen des Vinica Municipal Academic Chamber Choir und ihren Chorleiter Ruben Tolmachow reduziert. Die Sängerinnen sind mit weißen Kostümen von den anderen Sängern aus dem Leipziger Synagogalchor, dem Kammerchor Josquin des Préz, dem collegium thomanum, dem Ensemble Consart und dem Vokalensemble Sequenz, die gemeinsam den Chor der Aufführung an diesem Abend im Großen Saal des Gewandhauses und am Folgeabend in der Händelhalle zu Halle/Saale bilden, abgehoben, stehen zentral vorn auf der Orgelempore und werden vom Publikum im leider allenfalls zur Hälfte gefüllten Gewandhaus mit Szenenapplaus begrüßt. Eine gesonderte Würdigung von Leipzigs Kulturbürgermeisterin Skadi Jennicke, die die einleitenden Worte spricht, geht an Ludwig Böhme, in dessen Händen die Gesamtleitung der Aufführungen liegt und dessen letztes Projekt mit dem Leipziger Synagogalchor und dem Kammerchor Josquin des Préz, denen er über etliche Jahre vorstand, „Joram“ darstellt, bevor er im Herbst Leipzig verläßt und die Leitung des Windsbacher Knabenchors übernimmt. Die Textgrundlage des Oratoriums „Joram“ ist das von Rudolf Borchardt verfaßte „Buch Joram“ aus dem frühen 20. Jahrhundert, das im sprachlichen Stil der Luther-Bibelübersetzung eine Geschichte erzählt, wie sie theoretisch auch ins Alte Testament gepaßt hätte – aber eben nur theoretisch. Gemeinhin fällt das Buch Hiob als Vergleich, aber dieser hinkt wie der Leibhaftige persönlich. Zwar werden beide nach dem Willen eines Gottes, der dem des Alten Testaments entspricht, gepeinigt, aber bei Hiob haben wir die Konstellation, dass Gott seinem Gegenspieler erlaubt, Hiob zu peinigen, um die Standhaftigkeit von dessen Glauben auf den Prüfstand zu stellen, und dann in positivem Sinne eingreift und die Prüfung beendet, wozu Hiob selbst nichts von entscheidender Wirkung beiträgt. Joram hingegen hat es mit Gott selbst als Gegner zu tun, der ihn ohne rational erkennbaren tieferen Grund als Opfer auserkoren hat (die in den Nummern 1 bis 4 des Oratoriums erzählte Vorgeschichte, in der Joram gegen den Willen seines Vaters seine scheinbar unfruchtbare Frau, die einst vom Vater für ihn ausgewählt worden war, nicht verstößt und schließlich auch ein Brandopfer zu einer Traumdeutung, an der selbst die Gelehrten des Volkes gescheitert sind, verhindert, taugt nicht wirklich als Grund, will man sich nicht in die Welten extremer Buchstabengläubigkeit begeben), sein böses Spiel mit ihm treibt und damit vermutlich auch locker weitergemacht hätte, wenn nicht Joram selbst ihm zweimal vor Augen geführt hätte, wie mies er sich benimmt und dass das nichts mit einem guten und gerechten Gott zu tun hat, was er da so treibt. Interessanterweise führt das scheinbar zum Erfolg, zumindest zu einem teilweisen: Zwar wird keiner der im Verlaufe der Geschichte ungerechtfertigt Getöteten wieder lebendig (und das sind mindestens 51 Personen), aber Joram bekommt zumindest seinen alten Besitz und seine Frau Jezebel zurück und zeugt mit dieser einen Sohn, den man „einen Heiland“ nennt, wie die vorletzte der insgesamt 21 Nummern des Oratoriums verkündet. Nur ist der Erfolg nicht von Dauer, denn Nr. 21 offenbart einen eher unentschlossenen Lobpreis dieses doch so problematischen Gottes, mit dem man als finale Konklusion auch noch „weinen über die Welt“ soll, als ob dieser Heiland also gar nicht da wäre oder auch von vornherein auf dem Weg des Scheiterns ist. Ob dieser paradoxe Schluß (wenngleich an alttestamentliche Traditionen anknüpfend, wo etwa Elias nach anfänglichen Erfolgen ebenfalls scheitert) in dieser Form auch im originalen Buch vorkommt oder vom Librettisten (die Literatur geht davon aus, dass Frankenburger selbst das Libretto verfaßt hat, da nirgends etwas anderes vermerkt ist) so ausgeprägt wurde, vermag der Rezensent als Nichtbesitzer des Buches nicht zu sagen und muß sich auf die Bemerkung beschränken, dass die von Nr. 5 bis Nr. 20 durchaus logische (wenngleich wie beschrieben relativ grausame) Geschichte hier im Finale eine irrationale Wendung nimmt, die ihm ganz und gar nicht behagt hat. (Nur am Rande: Bei Hiob wendet sich final alles zum Guten, ohne Wenn und Aber. Auch das geht in der alttestamentlichen Tradition also grundsätzlich.) Deutlich erfreulicher als die aufgeworfenen Theodizeeprobleme – diese umfassender zu analysieren kann und soll nicht Gegenstand einer solchen Rezension sein – ist das Kennenlernen Frankenburgers (strenggenommen hätte dieser Name über dem Projekt stehen müssen, denn zum Zeitpunkt der Erschaffung des Oratoriums hieß der Komponist ja so und noch nicht Ben-Haim – in den Ankündigungen und den weiteren Materialien findet sich aber letztgenannter Name) als Tonschöpfer, der einerseits fest in der spätromantischen Tradition wurzelt, sich andererseits aber auch avantgardistischeren Ideen nicht verschließt und zudem ein Kind seiner Zeit ist, was die Begeisterung für das neue Medium Film und die mit diesem verbundene Musik angeht. Gut, ohne paralleles Partiturstudium kann man nicht mit letzter Sicherheit entscheiden, ob der eine oder andere avantgardistisch anmutende Ton schon in der Ouvertüre Absicht des Komponisten war oder etwa einer der Blechbläser des Akademischen Orchesters der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg tatsächlich neben der Spur gelegen hat. Aber schon diese Ouvertüre macht das Können Frankenburgers in der Erschaffung großer spätromantischer Klanglandschaften deutlich, und die cineastischen, auf maximale Wirkung berechneten Fähigkeiten des Komponisten blitzen immer wieder eindrucksvoll durch, etwa mit der ultratiefen Orgel am Beginn von Nr. 3, der am Ende von Nr. 3 ein ultratiefes Kontrafagott entgegengesetzt wird. Freilich kann auch Frankenburger ein Grundproblem besonders dramatischer Stellen nicht lösen, nämlich das Überdecken der hochexpressiv agierenden Sänger durch ein wild tobendes Orchester – aber daran sind auch schon die ganz Großen, allen voran Richard Wagner, immer wieder gescheitert, und Frankenburger versucht das Problem zumindest hier und da zu mildern, indem er den Chor an manchen hochdramatischen Stellen a cappella singen läßt und auch dadurch den gewünschten Effekt auf nachvollziehbare Weise verdeutlicht bekommt. Das ist freilich keine Dauerlösung, und obwohl sich der klar und ruhig dirigierende Ludwig Böhme mit dem Klangmassenmanagement alle Mühe gibt, so bleibt doch der eine oder andere Problemfall übrig, etwa wenn in Nr. 6 der Chor in der Szene, da Joram unter die Räuber fällt und diese seine Begleiter bis auf einen niedermetzeln, klanglich völlig untergeht. Dass es sich hier wie auch in diversen anderen Nummern um prachtvolle Musik handelt, die in einem Western oder einem nahöstlichen Monumentalfilm nicht deplaziert wäre, vermag dieses Problem freilich zumindest etwas zu lindern und zaubert trotzdem (und trotz des Inhaltes) ein freudiges Lächeln ins Gesicht des Hörers. Dass möglicherweise auch Frankenburger die gewisse Zwiespältigkeit der Handlung bereits als unangenehm empfunden hat, könnte man aus dem Aspekt schließen, dass in Nr. 6 und Nr. 7, als Gott als Mörder bezeichnet wird, musikalisch jeweils ein expressiver hoher Schrei plaziert ist. Die völlig ungewöhnliche Choralnummer 13, die zudem auch textlich aufs Neue Testament vorausweist, läßt sich aber rational kaum erklären, was freilich ihren musikalischen Wert – feister Chor-Orgel-Orchester-Bombast mit einem Mega-Finale – nicht schmälert. Auch die vier Gesangssolisten haben mitunter ziemlich zu kämpfen, um sich angemessenen akustischen Raum zu verschaffen, aber Frankenburger ist prinzipiell klug genug, ihnen davon an vielen Stellen ausreichend zu geben. Strukturell am auffallendsten agiert André Khamasmie, der eine klassische Erzählerrolle zu geben hat, und zwar in noch deutlich größerem Umfang, als etwa Bach in seinen Passionen angelegt hat. Dieser Aufgabe entledigt sich der Tenor in überwiegend gekonnter Weise, stilistisch übrigens bisweilen schon auf Britten vorausweisend und zu Beginn vielleicht noch einen Deut zu operesk, aber noch im ersten der insgesamt drei Teile des Oratoriums zu einer nachvollziehbaren geradlinigeren Artikulationsweise findend. Assaf Levitin als Jorams Vater Pinchas artikuliert sich beinahe noch deutlicher und zeigt sich insgesamt sehr durchsetzungsfähig, obwohl auch er in der Gesamtbetrachtung des Plots letztlich auf der Verliererseite steht. Daniel Ochoa in der Titelrolle führt eine sehr runde Stimme ins Feld, kann sich bedarfsweise aber auch gut durchsetzen, was insbesondere im Streitgespräch in Nr. 8 mit Khamasmie, der hier die Worte des chaldäischen Sklavenhalters wiedergibt, deutlich wird. Yasmine Levi-Ellentuck als Jorams Frau Jezebel gestaltet ihre Rolle sehr operesk – Nr. 14 etwa, die Rückkehrszene von Joram, atmet sehr viel Italianatà und hätte auch in jede Verdi-Oper gepaßt. Dem Chor merkt man nur an sehr wenigen Stellen an, dass er aus sechs einzelnen Ensembles zusammengewürfelt wurde – hier und da fasert’s etwas aus, aber das Gros der Nummern steht wie eine Eins. Auch das Akademische Orchester der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg versucht sein Bestes zu geben, kann die anfängliche Nervosität (völlig unabhängig von der oben erörterten Frage der Vielleicht-Nicht-Avantgardismen) noch im Verlauf von Teil 1 ablegen, zaubert unter Böhmes kundiger Stabführung große musikalische Bilder in den Raum und gewinnt mit jeder Minute spürbar an Selbst- und Spielsicherheit. Was da im Finale des ersten Teils zunächst an Monumentalität liegt, überzeugt ebenso wie die Hochspannung, die der ins Pianissimo entschwindende Chor danach noch an den Tag legt, und das Geschehen wird in Teil 2 und 3 immer farbiger – bis, ja bis diese komische Schlußaussage von Nr. 21 kommt, die einem bei aller musikalischer Klasse die gute Laune nachhaltig zu verhageln droht. Dafür können die Mitwirkenden freilich nichts – die überzeugen bis zur letzten Sekunde: Absteigende Flötenläufe verklingen über einem ausfadenden Tiefstreicherteppich, und die finale Spannung steht sehr lange, bis lauter und hochverdienter Applaus losbricht. Roland Ludwig |
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