Der Hautboist unter falscher Flagge: Olaf Schmidt mit einem biographischen Roman über Johann Jacob Bach
Die im 16. Jahrhundert aus Ungarn nach Thüringen eingewanderte Familie Bach verzweigte sich in den Folgejahrhunderten sehr stark und fokussierte sich zudem auf eine Profession: die des Musikers. Das führte so weit, dass es im 18. und 19. Jahrhundert Zeiten gab, wo mehr oder weniger jede relevante Kirchenmusikerstelle in Thüringen von einem Bach-Familienangehörigen besetzt war und kolportageweise die Bezeichnung „die Bache“ synonym für „die Kirchenmusiker“ oder auch allgemein „die Musiker“ (Kirchenmusiker waren früher oft städtische Angestellte) stand. Die tiefsten Spuren in der Musikgeschichte hat aus heutiger Perspektive bekanntlich Johann Sebastian Bach hinterlassen, was freilich nicht immer so war: Sagt man heute „Bach“ ohne Vornamensnennung, meint man im Normalfall ihn – sagte man das aber im späten 18. oder frühen 19. Jahrhundert, so war im Regelfall Sebastians Sohn Carl Philipp Emanuel gemeint, der es erst in den Diensten von Friedrich dem Großen und dann als Hamburger Stadtmusikdirektor zu Ruhm brachte, bevor dieser im Zuge der Wiederentdeckung und „Heiligsprechung“ von Sebastians Werk zu verblassen begann. Immerhin trug Carl Philipp Emanuel den guten Klang des Namens Bach weit über die mitteldeutsche Urheimat der Familie hinaus, sein Bruder Johann Christian wirkte gar in Mailand und London – viele aber blieben in oder zumindest in der Nähe von Thüringen und stehen, obwohl zumindest von einigen auch etliches an Werken überliefert ist, aktuell kaum im Fokus der Musikliebhaber. Um einen Sonderfall handelt es sich bei Johann Jacob Bach, einem älteren Bruder von Sebastian. Nach dem Tod der Eltern gingen die beiden Brüder aus ihrer Heimatstadt Eisenach nach Ohrdruf zu einem weiteren älteren Bruder, Johann Christoph Bach, wo sie ihre Schulausbildung fortsetzten. Dann allerdings trennten sich ihre Wege: Während Sebastian nach Lüneburg an die Michaelisschule wechselte, ging Jacob zurück nach Eisenach und dort beim Stadtpfeifer Johann Heinrich Halle in die Lehre. Mit diversen Holzblasinstrumenten beschäftigt hatte er sich schon früher, und nun kam die Gelegenheit dazu, von auswärtigen Virtuosen zu lernen, die als Gäste mit der Hofkapelle des Eisenacher Herzogs Johann Wilhelm musizierten. Nach der Lehrzeit reihte Jacob sich unter die zahllosen fahrenden musikalischen Gesellen ein, gelangte letztlich auch nach Leipzig und spielte dort u.a. im von Georg Philipp Telemann gegründeten Collegium musicum, bevor er in schwedische Diente trat: Der schwedische König Karl XII. hatte im Rahmen eines Krieges, den man später den Großen Nordischen Krieg nannte, 1706 Sachsen besetzt, und einer der damaligen in Eisenach gastierenden Virtuosen, der zwischenzeitlich in schwedische Dienste getreten war, sorgte dafür, dass Jacob ein Angebot erhielt, in die Trabantengarde des Königs einzutreten, und zwar als Flötist. Als solcher begleitete er den Monarchen über die folgenden strapaziösen Jahre des Feldzuges und ging nach der vernichtenden Niederlage gegen die Russen bei Poltawa 1709 auch mit ihm ins türkische Exil und später nach Stockholm, wo er einen Posten in der königlichen Kapelle übernahm. Lange konnte er sich seines dortigen Lebens allerdings nicht erfreuen: Seine Frau und seine Tochter starben kurz nacheinander und 1722 dann auch er selbst im Alter von nur 40 Jahren, in denen er freilich Dinge erlebt hatte, die andere zur damaligen Zeit nicht in zehn Leben erfahren hätten. Olaf Schmidt legt nun einen biographischen Roman über Johann Jacob Bach vor. Mit der Genrewahl tat er einen klugen Schachzug: Gewisse Eckpunkte und auch Details aus der Biographie Jacobs sind bekannt, nicht zuletzt durch innerfamiliäre Zeugnisse, die teilweise von seinem Bruder Sebastian selbst niedergeschrieben wurden – aber es bleibt vieles im Dunkel oder zumindest nicht durch unabhängige Quellen verifizierbar. So kann Schmidt eine gekonnte Dramatisierung vornehmen und bestimmte Figuren in überraschend übergreifender Manier einsetzen. Auch wenn man hier und da das Gefühl nicht loswird, die Jacob oder auch anderen Protagonisten in den Mund gelegten Ansichten respektive deren Gedanken seien eher untypisch für das 18. Jahrhundert, so übertreibt der Autor es doch nicht und erschafft eine Handlung, die sich in vielen Aspekten durchaus so zugetragen haben könnte und die zudem recht flüssig erzählt wird, so dass man beim Lesen schnell vorwärtskommt. Interessanterweise hat der Titelheld vor allem in der hinteren Hälfte des Buches allerdings gar nicht mehr so viele und schon gar keine prägenden Auftritte mehr: Schmidt verlegt sich hier eher auf eine Schilderung der zweiten Hälfte des Großen Nordischen Krieges, in der hier und da eher zufällig mal noch von Johann Jacob Bach die Rede ist, der sich ebenfalls eher zufällig gerade am Schauplatz des Geschehens befindet. Die kriegerischen Ereignisse beschreibt der Autor mit großer Lust am Detail, auch was die Todessituationen der Soldaten, die Hinrichtung eines Verräters oder die Folgen der Versorgungsprobleme der schwedischen Armee im extrem harten Winter 1708/09 betrifft, wobei man sich nach den ausgiebigen Schilderungen der schwadronenweise verhungernden und erfrierenden Soldaten wundert, woher der König im Frühjahr 1709 immer noch eine kampffähige Armee in nicht ganz kleiner fünfstelliger Kopfzahl hatte. Ein wenig eigentümlich wirkt auch der Titel des Buches. Auf S. 293, also ungefähr nach der Hälfte des Buches, wird Johann Jacob Bach durch Karl XII. als Kunstpfeifer (das ist im historischen Kontext keineswegs ironisch im Sinne von Loriot zu verstehen, und Schmidt legt dem König den Terminus vermutlich nicht ohne Absicht in den Mund) angestellt. Schon in den Jahren zuvor ist fast immer die Rede von ihm als Flötist, wenngleich er in seiner Eisenacher Zeit auch mit der Oboe umzugehen gelernt hatte. Nennt man ihn, wie es als Kunstpfeifer in der Trabantengarde (und auch in anderen damaligen Kontexten, sowohl militärischen als auch bestimmten nichtmilitärischen) üblich gewesen wäre, einen Hautboisten, ist es allermindestens unglücklich, wenn nicht irreführend, diesen historischen Begriff im Buchtitel mit dem heutigen, musikalisch viel enger gefaßten Terminus „Oboist“ zu übersetzen, wenngleich zugegebenermaßen „Der Hautboist des Königs“ extrem schrullig geklungen hätte. Hier hätte Lektor Wolfgang Hörner vielleicht aber doch (intensiver?) intervenieren sollen, was schade ist, weil das Gespann aus Autor und Lektor es ansonsten ziemlich gut schafft, den Faden im dichten Gestrüpp der mehr oder weniger verschränkten Handlungsstränge (neben den Hauptkapiteln existieren auch noch Einschübe unter dem Titel „Welthistorisches Intermezzo“, in denen Johann Jacob Bach dann gar nicht vorkommt) nicht zu verlieren. Etwas ärgerlich ist lediglich eine Ortsverwechslung: Die Stadt Waltershausen, als Reisestation Jacobs und Sebastians zwischen Eisenach und Ohrdruf zunächst korrekt benannt, heißt im hinteren Teil des Buches konsequent falsch Waltersdorf. So bleibt letztlich der Eindruck eines zweifellos interessanten Buches über das späte 17. und frühe 18. Jahrhundert, bei dem man allerdings in puncto Erwartungshaltung vorsichtig sein sollte. Nimmt man in Kauf, dass man erstens kaum was über das Oboenspiel der damaligen Zeit erfährt und dass zweitens der Titelheld des biographischen Romans oft recht weit in den Hintergrund tritt, und möchte man stattdessen Details aus dem Großen Nordischen Krieg erfahren und Überlegungen, ob Gott Musik braucht, anstellen, so könnten die knapp 600 Seiten durchaus reizvolle Lektüre sein. Roland Ludwig |
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