Hildegard v. Bingen – Perotin – Landini – Cooman – Moody u. a. (Vicens, C.)
Organic Creatures – Medieval Organs composed-decomposed-recomposed
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Info |
Musikrichtung:
Alte Musik - Neue Musik - Orgel
VÖ: 27.03.2020
(Consouling Sounds / 2 CD / DDD 2019)
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ZWISCHEN DEN WELTEN
Mit ihren pulsierenden Bälgen sowie der komplizierten Mechanik aus Wind- und Schleifladen, Pfeifen, Koppeln, Trakturen, Manualen und Tasten kann einem eine Orgel schon wie ein großes geheimnisvolles Lebewesen erscheinen. Dabei müssen die Instrumente gar nicht die Monumentalität einer Kirchenorgel haben. Es gibt sie in verschiedenen Größen. Im Mittelalter waren sogenannte Orgenetti oder Portative, kleine Orgeln, die man auf dem Arm halten und mit der einem Hand über den Balg „beatmen“ sowie der anderen Hand spielen konnte, in Gebrauch. Im Original erhalten hat sich kein solches Instrument. Aber es gibt zahlreiche, zum Teil recht genaue Abbildungen dieser Instrumente, durch die sich ihre Bauweise erschließen lässt. Wie sie genau gespielt wurden und geklungen haben, wird man wohl nie erfahren können. Aber moderne Interpreten wie die gebürtige Chilenin Catalina Vicens, die heute in der Schweiz lebt, erforschen die alten Instrumente und ihre Möglichkeiten anhand von Nachbauten. Mit erstaunlichen Resultaten.
Auf ihrem Album „Organic Creatures“, das mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet wurde, spielt Vicens eine ganze Reihe von historischen Orgeln. Mehrere Ausführungen der genannten Portative sind darunter, aber auch größere und große Orgeln, darunter das vermutlich älteste spielbare Instrument der Welt, die gotische Orgel der St. Andreas-Kirche in Ostönnen bei Soest, Deutschland, dessen Pfeifen noch in großen Teilen aus der Entstehungszeit um 1425 stammen. Ein weiterer Clou ist die sogenannte Van-Eyck-Orgel, deren Vorbild auf dem Genter Altar des flämischen Meisters Jan van Eyck zu sehen ist. Dort spielt ein Engel das Instrument.
Die eingespielten Stücke stammen z. B. aus dem Codex Las Huelgas oder dem Codex Montpellier. Weiter finden sich Bearbeitungen von Stücken der Hildegard von Bingen oder eines Organums des in Notre Dame wirkenden Magister Perotinus sowie Kompositionen Landinis, Machauts, Binchois und anderer bedeutender Meister. Dazu gibt es aber auch eine ganze Reihe von Improvisationen von Catalina Vicens und neue Stücke zeitgenössischer junger Komponisten: Carson Cooman, Ivan Moody oder Prach Boondiskulchok (Details).
Auf einen ausführlicheren Begleittext hat man bei dem schön gestalteten Doppelalbum verzichtet, die Informationen wurde auf das unbedingt Notwendige beschränkt. Die Musik soll für sich sprechen – und das tut sie!
Vicens "spielt" nicht einfach "auf" ihren verschiedenen Instrumenten, sie interagiert mit ihnen, nutzt z. B. bei den Organetti die verschiedenen Möglichkeiten, den Klang durch Veränderungen des Wind- und Tastendrucks oder der Registereinstellungen zu modulieren, ja regelrecht zu transformieren.
Die Instrumente können durchaus vertraut, wie Orgeln klingen – aber eben auch wie seltsame Lebewesen, fabelhafte Geschöpfe aus einem magischen Zwischenreich, eben "Organic Creatures". Und diese Kreaturen singen, seufzen, stöhnen, heulen, rauschen, zischen, jodeln, pulsieren, wispern, raunen, atmen – auf eine sehr musikalische Weise, versteht sich.
Vicens lässt sich durch die alten Noten zu Klangexperimenten anregen, die spekulativ sein mögen, aber stets überzeugend im Sinne von stimmigen, klangvollen Ergebnissen sind, die bisweilen durchaus eine gewisse schamanische Wirkung auf den Hörer haben können. Mitunter kommen auch mehrere der kleinen Instrumente zum Einsatz, sie werden dann von Gastmusikern gespielt, auch braucht es für die „Beatmung“ der großen Orgel jemanden, der die Bälge tritt, sogenannte Kalkanten. Durch die Kombination verschiedener Portative lassen sich weitere ungewöhliche Klangmixturen, Cluster oder Mikrotöne erzeugen, die mitunter mehr nach elektronischer als nach analog-akustischer Musik klingen.
Archaische Wirkungen ergeben sich dagegen wie von selbst durch die oft modale Anlage der mittelaterlichen Stücke, mitunter ist beim bloßen Hören auch gar nicht so genau zu sagen, ob es sich um historisches oder ein modernes Stück handelt, ob Vicens eine alte Vorlage durch ihre Spielweisen und improvisierenden Zusätze gleichsam in die Gegenwart katapultiert oder ob ihre Mitstreiter sich von den alten Kompositionen und Instrumenten zu neomittelalterlichen Impressionen haben anregen lassen.
Es spielt, wie gesagt, eigentlich auch keine Rolle: Denn mehr als der Ursprung der jeweiligen Noten steht das akustische, klangliche Ergebnis im Zentrum. Und die Erfahrung des Klang- und Musikmachens und -wahrnehmens, die Erschaffung der Organic Creatures. Entstanden ist so ein Konzeptalbum, das mühelos Brücken über die Jahrhunderte schlägt, das Alte mit dem Neuen verbindet und beides in gleichermaßen unerhörte musikalische Phänomene verwandelt. Special Interest vielleicht – aber es eröffnet neue Horizonte weit über das besondere Instrumentarium und Repertoire hinaus.
Georg Henkel
Besetzung |
Organetti von S. & A. Keppler, J. Rohlf und W. van der Putten; Tauben-Ei-Orgel von W. van der Putten; Van Eyck Orgel (1432), Rekonstruktion von W. van der Putten; gotische Orgel der St Andreas Kirche Ostönnen (ca.1425); Renaissance-Orgel in der Marienkirche Krewerd, Niederlande (1531)
Catalina Vicens
mit: Christophe Deslignes und Jankees Braaksma
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