Ciciliani, M. (Ensemble Integrales)
Voor het hooren geboren
OFFENE PROZESSE
Der 1970 in Zagreb geborene Marko Ciciliani setzt bei seinen hier vorgestellten Werken auf Interpreten, die nicht einfach exakt vorgegebenes und eindeutiges Material mehr oder weniger notengetreu in Musik verwandeln, sondern sich aktiv am Kompositionsprozess beteiligen: Sei es, dass sie sich wie in dem titelgebenden Voor het hooren geboren entscheiden müssen, wer welche Stimme spielt. Oder dass sie einen Text aussuchen müssen, dessen Buchstaben dann nach bestimmten Regeln den Verlauf des Stückes bestimmen wie in dem nur vordergründig obskuren Matrosen, Leprakranke, Opiumraucher, Spione, mit so’ner Familiengeschichte, wie haben wir da was anderes werden können als Schlampen? für Solo-Viola. Das erinnert an John Cage und Fluxus, an die 1950er- und 60er-Jahre-Avantgarde um Boulez und Stockhausen, greift aber auch unbekümmert Elemente und Instrumente der „klassischen“ E- und U-Musik auf. All dies wird nicht ohne Raffinement zu zum Teil sogar klangschönen, poetischen Momenten verknüpft. Aber aus diesen Momenten fügt sich nicht immer schon ein kohärentes Ganzes, das sozusagen von seiner eigenen Schwerkraft zusammengehalten würde. So begrüßenswert eine solche Offenheit gerade angesichts manch überzüchteter Notationen in der zeitgenössischen Musik sein mag: Nicht weniges erweckt auch den Eindruck von Klangbasteleien, die sich „irgendwie“ ergeben haben (was man freilich auch manchen der übergenau notierten Werke vorwerfen kann). Der amerikanische Komponist Morton Feldman hat das Problem solch offener Prozesse in der zeitgenössischen Musik früh erkannt: Sie sind vor allem für den Interpreten interessant.
Der gelenkte Zufall funktioniert am besten beim ersten Stück Vor het hooren geboren, das in seiner Grundstruktur ja im wesentlichen festgelegt ist und vor allem zu Beginn eine herrlich entspannt-versponnene Stimmung produziert. Die Textur ist aufgrund der elektronisch angereicherten Instrumentation zugleich gläsern und duftig, eine poppige Collage, die klanglich irgendwo zwischen dem 14. Jahrhundert, Indonesien und Love-Parade angesiedelt ist. Besagte Text-Musik dagegen ist mit fast 20 Minuten Dauer ein klangreicher, aber auch zäher Spaziergang über die Bratschensaiten. Und warum diese umständliche Prozedur mit dem Text? Man hangelt sich von Episode zu Episode. Für die Wahrnehmung trägt das Verfahren nichts aus, es könnte auch alles ganz anders sein, ohne dass sich der Eindruck, den das Stück hinterlässt, groß verändern würde. Die vorbeischwirrende „Hummel“ in der Gartenmusik für umhergehende Musiker ist ein hübscher Gag, aber die Musik bleibt ebenfalls im Ungefähren. Auch das den Klangraum auslotende, episodenhafte Körperklang ist mir trotz repetitiver Passagen zu schwammig (s. a. Rezension). Zahlreiche Effekte hat man außerdem schon mal irgendwo irgendwie in der Neuen Musik gehört (z. B. das uhrwerkartige Ticken im letzten Teil – eine Hommage an Ligeti?), ohne dass sie hier zu einer neuen, einprägsamen Gestalt zusammenfinden würden. Bei drei Stücken ist übrigens auch ein Saxophon mit von der Partie. Wegen seiner Wandlungsfähigkeit und Manipulierbarkeit ist es ein Lieblingsinstrument der jüngeren Komponistengeneration. Im kernig und extrovertierten, dafür immerhin bündig wirkenden Signboard-Billboard klingt es wie eine Hendrix-Gitarre.
Kompetenz und Hingabe der Interpreten sind angesichts der Herausforderungen und der zu häufig dann doch seltsam verwaschen wirkenden Ergebnisse umso bewundernswerter. Klanglich ist die Produktion tadellos, dazu gibt es ein ansprechend gestaltetes und gut informierendes Booklet-Cover.
Georg Henkel
Trackliste |
1 | Voor het hooren geboren | 16:28 |
2 | Körperklang | 12:44 |
3 | Matrosen, Leprakranke, Opiumraucher, Spione, mit so’ner Familiengeschichte, wie haben wir da was anderes werden können als Schlampen? | 19:10 |
4 | Signboard-Billboard | 07:46 |
5 | Gartenmusik | 14:27 |
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Besetzung |
Burkhard Friedrich: Saxophone Barbara Lüneburg: Violine, Viola, Schlagzeug Claudia Birkholz: Klavier, Synthesizer Stefan Kohmann: Schlagzeug Nils Grammerstorf: Schlagzeug Marco Ciciliani: Schlagzeug, Elektronik Birgit Beckherrn: Sopran
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