Ravel, M. (Roth, F.-X.)
L’Heure espagnole. Bolero
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Info |
Musikrichtung:
Klassische Moderne / Oper
VÖ: 16.06.2023
(Harmonia Mundi / Harmonia Mundi / CD / DDD 2022 / HMM 905361)
Gesamtspielzeit: 64:36
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LUSTSPIELERISCH
Was für eine Maskerade! Für seine erste Oper „L’Heure espagnole“ griff Maurice Ravel auf ein frivoles Libretto zurück, in dem die in verschiedener Hinsicht unbefriedigte Uhrmachergemahlin Concepción mit ihrem nicht besonders hellen Gemahl (Señor Torquémada) sowie zwei Liebhabern (dem selbstgefälligen Bankier Don Iñigo Gomez und dem schöngeistigen Poeten Gonzalve) zunehmend frustriert jongliert. Zum Glück betritt der handfeste Maultiertreiber Ramiro die Szene, der durch seine zupackende Art nicht nur die Techtelmechtel der liebesbedürftigen Señora zu sortieren hilft (indem er die in Standuhren versteckten Liebhaber hin und her transportiert), sondern am Ende ob seiner Qualitäten auch das Rennen um einen Platz im Bett der aparten Dame gewinnt.
Aus dieser Vorlage destillierte Ravel ein Operchen von gerade mal 45 Minuten, über das sich bei der Uraufführung 1911 Publikum wie Kritik ereiferten: Wie konnte ein vielversprechender Komponist sein Talent nur an derlei ("musikalische Pornographie"!) verschwenden? Dabei genügt bereits das witzige uhrentickende Vorspiel, um zu erkennen, dass Ravel die Farce lediglich als Vorwand benutzt, um seinen eigentlichen Akteur auf die Klangbühne zu bringen: das Orchester! Denn dieses illustriert, kommentiert und parodiert, was die Figuren in flotten umgangssprachlichen Dialogen und gelegentlichen aufblühenden Ariosi verhandeln. Dieses ironische Doppelspiel muss man mithören, dann erschließt sich Ravels augenzwinkenrnde Kunst, eine spanisch kolorierte französische Variante der italienischen Buffo-Oper zu kreiieren.
Der Dirigent dieser Neueinspielung, François-Xavier Roth, erkennt in diesem Einakter gar ein komplementäres Gegenstück zu Debussys monumentaler iefenpsychologischer "Pelléas"-Oper. Mit seinem historisch informierten und instrumental entsprechend ausgerüsteten Orchester „Les Siècles“ hat er Ravels „Spanische Stunde“ jetzt ebenfalls eingespielt (unter anderem kommt dabei das historische Sarrusophone zum Einsatz, ein Doppelrohrblattinstrument mit „Saxophonkörper“, das heute oft durch das Kontrafagott ersetzt wird, aber eben doch ganz anderes klingt).
Transparent und luftig setzt Roth den raffinierten orchestralen Beitrag des Komponisten in Szene: unter genauer Beachtung der vorgeschriebenen Tempi, dynamisch breit gestaffelt, kontrast- und farbreich – nicht als Hintergrund, sondern als klingendes Environment, in dem sich das frisch und fröhlich agierende Vokalquintett ganz selbstverständlich bewegt.
Dieses soll, so Ravel, mehr Sprechen als Singen – wohl eine Referenz an die französische Barockoper. Und da ist vor allem die mit cooler Passion, Schick und Pikanz aufwartende Concepción der Isabelle Druet vorzüglich besetzt. Die Sängerin hat im deklamatorischen Repertoire des 17. und 18. Jahrhunderts reiche Erfahrung gesammelt, ist überdies eine ausgebildete Schauspielerin – voilà: Diese Concepción weiß eigentlich von Anfang an genau, was sie will und bekommt es auch (nämlich die Bizeps von Ramiro und was dieser sonst noch so zu bieten hat).
Julien Behr verkörpert den selbstverliebten Poeten Gonzalve mit schönstem Tenortimbre, wodurch dessen enervierende Abgehobenheit zusätzlich gesteigert wird.
Jean Teitgen zeichnet den Bankier genießerisch als feisten Lüstling; Loïc Felix gönnt dafür dem gehörnten Uhrmacher, der bis zum Schluss nicht weiß, was die Stunde geschlagen hat, durchaus sympathische Seiten.
Schließlich ist da noch der Ramiro des ebenfalls im barocken Genre erfahrenen Thomas Dolié. Er lässt vokal nicht nur die Muskeln spielen, sondern gestaltet die angelegten Charakterzüge differenziert, denn der vermeintlich schlichte Maultiertreiber hat nicht nur Sinn für die Poesie der Uhrwerke, sondern versteht auch das komplexe Seelenleben der Frauen …
Auch wer die klassische Referenzeinspielung unter Lorin Maazel (DG) im Regal hat, wird Freude an dieser neuen Fassung haben.
Nach dieser Kurzweil folgt noch der „Bolero“, ein All-Time-Hit aus „Nicht-Musik“. Eine stimmige Wahl: Man kann ihn als eine Art erotisches Schlussballett hören. Wobei die eherne Strenge der Konzeption bei Roth, der hinsichtlich Tempo und Rhythmus keine Schlenker zulässt, auf fast schon bedrohliche Weise kulminiert. Gag oder Schreck? Beim orgiastischen Schluss weiß man nicht so recht, ob er hymnisch oder nicht doch eher apokalyptisch gemeint ist. Das ist bei einem Verkleidungskünstler wie Ravel genau der richtige Ansatz!
Georg Henkel
Besetzung |
Isabelle Druet, Julien Behr, Loïc Felix, Thomas Dolié, Jean Teitgen
Les Siècles
Leitung: François-Xavier Roth
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