Mit Samson um die Welt: Das Leipziger Universitätsorchester spielt sein Sommersemesterkonzert
Die Praxis, dass einzelne Nummern aus Opern auch eine Parallelexistenz als Orchesterstück führen, ist in vergangenen Jahrhunderten gang und gäbe gewesen und hat den Kanon der Orchesterwerke durchaus nicht nur aufgebläht, sondern auch tatsächlich bereichert. Noch heute findet man etwa Wagner-Opernvorspiele häufig im Konzertsaal, und „in der zweiten Reihe“ bietet sich ein äußerst breites Spektrum, aus dem sich das Leipziger Universitätsorchester als Opener für das Sommersemesterkonzert 2017 eins herausgreift: „Danse Bacchanale“ aus der Oper Samson et Dalila von Camille Saint-Saëns, im Opernkontext das musikalische Abbild einer Siegesfeier der Philister über die Hebräer, nachdem die Philisterin Dalila dem hebräischen Helden Samson das Geheimnis von dessen übermenschlichen Kräften entlockt hatte: seine langen Haare, die ihm daraufhin abgeschoren werden. Dass sich das Geschehen noch einmal wenden wird, wissen die Philister an der besagten Stelle der Handlung noch nicht, ergo feiern sie den Sieg mit großer Ausgelassenheit, die sich natürlich auch in der Musik Bahn bricht, ergänzt um orientalische Elemente. Nach dem nervösen Auftaktzupfer führt die Oboe mit einer orientalischen Melodie gekonnt in diese musikalische Welt ein, und das Orchester meistert die geforderte Lockerheit in den tänzerischen Passagen erstklassig. Dirigent Frédéric Tschumi überzeugt mit einem geschickten, weit unten beginnenden Dynamikmanagement, die wieder oboendominierten ruhigen Passagen gelingen schön entrückt, und das große Hauptbreak versieht Tschumi fast mit wienerischem Kolorit. Wie er und seine Musiker sich dem wechselvollen Geschehen, das an einen Rundgang über eine in mehreren Räumen ablaufende Party erinnert, widmen, das verrät Sinn für Details, ebenso wie der gekonnte Übergang in den bombastischen, aber keineswegs alles zerstörenden Bombastschluß, als das orientalische Thema nunmehr ins Orchester wandert: Die Party ist wild, kommt aber ohne zerschlagenes Porzellan aus, und dass der Applaus merkwürdig kurzatmig bleibt, liegt in diesem Falle weder am Orchester noch am Dirigenten und auch nicht am Stück. Fünf Monate zuvor hat der Rezensent beim Philharmonischen Orchester Altenburg-Gera Sergej Rachmaninoffs 3. Klavierkonzert gehört (siehe Rezension auf diesen Seiten), nun steht beim Leipziger Universitätsorchester dessen Vorgänger auf dem Programm. Ob der Klaviersolist hier auch 30.000 Noten zu spielen hat? Technisch hochgradig anspruchsvoll ist das Werk auf jeden Fall auch, und so wartet auf Daeun Song, Meisterklassenstudentin an der hiesigen Musikhochschule, eine große Aufgabe, der sich die Koreanerin autark betrachtet in achtbarer Weise entledigt. Die Portion Dramatik, die sie in die markanten acht Eröffnungsakkorde legt, gibt jedenfalls zu einigen Hoffnungen Anlaß, die freilich nicht erfüllt werden: Das Klavier wirkt in der Folge häufig als „Beiwerk“, auch die Balance wirft zunächst noch Probleme auf, wenn etwa Tiefstreicherflächen das Soloinstrument ohne weiteres ins klangliche Abseits stellen. Diese Balance bekommt Tschumi nach einiger Zeit und noch im 1., Moderato überschriebenen Satz besser in den Griff, das Miteinander von Orchester und Solistin aber nicht, welches eher ein Nebeneinander darstellt. Das schließt nicht aus, dass vor allem im hymnischeren Teil des Satzes einige wirklich betörende Wirkungen gelingen, begünstigt nicht zuletzt dadurch, dass Tschumi das Wort Moderato in der Tempowahl ernstnimmt und auch im Satzfinale auf Überschärfen verzichtet. Den 2. Satz, ein Adagio sostenuto, lassen Tschumi und Song weit unten beginnen, was Tempo und Lautstärke betrifft, aber sie untertreiben es auch nicht. Die diversen kammermusikalischen Dialogstrukturen zwischen dem Klavier und einzelnen Holzblasinstrumenten demonstrieren das ganze Spektrum zwischen Neben- und Miteinander, aber dass das gegenseitige Einfühlen von Klavier und Orchester hier besser gelingt, macht die exzellente gemeinsame Verzögerung vor dem Fagottdialog deutlich. Von der allgemeinen Gestaltung her halten sich Tschumi und Song von Extremen fern, lassen es romantisch, aber nicht zu schwelgend angehen, und die Pianistin bekommt eine enorm spannende Mini-Kadenz gebacken. Das Satzfinale gelingt gleichermaßen romantisch wie schwingend (das muß man auch erstmal schaffen!), und in den letzten Noten kehrt die Hochspannung wieder zurück. Um einen Knalleffekt zu erzeugen, reicht dann zu Beginn des fast attacca anhängenden Allegro scherzando schon ein mäßiges Energielevel aus. Der Drive bleibt aber nicht lange erhalten, Song muß an ihrem Instrument auf verlorenem Posten wüten – hier allerdings planmäßig, weil vom Komponisten so vorgesehen. Das bessere Miteinander aus Satz 2 kann auch in Satz 3 herübergerettet werden, Spannungserzeugung gelingt auch wieder (sogar bei Wiederholungen in identischer Manier, wie eine Klavierpassage über einer Tiefstreicherfläche beweist), aber überraschenderweise verzichtet Tschumi auf die Erzeugung ganz großer Klanglandschaften: Der Triumphpart verrät zwar einiges an Größe, aber das schnelle Finale kommt dann wieder mit einer gewissen Harmlosigkeit daher, so als ob das alles nicht ganz so ernst gemeint gewesen wäre – gegen diesen Eindruck hätte die Pianistin, der eine enorme Energieleistung abverlangt worden ist (Samson wäre stolz auf sie gewesen), aber sicher etwas einzuwenden. Kurioserweise spielt sie die Zugabe, das gefühlvolle Nocturne Nr. 20 cis-Moll op. posth. von Frédéric Chopin, noch vor dem zweiten Vorhang, also dem fürs Orchester. Nach der Pause ist das Klavier wieder im Bühnenuntergrund verschwunden, ansonsten ein Bühnenumbau aber ausgeblieben – Tschumis Dirigentenpult steht also hinter einer großen freien Fläche, auch die Musiker bleiben weit hinten sitzen, zumal noch in etwas aufgelockerterer Form, denn Antonín Dvoráks 7. Sinfonie d-Moll gehört zwar ebenfalls in die Spätromantik, kommt aber mit einer kleineren Besetzung aus als Rachmaninoffs Werk. Die in gewisser Weise entstehende Distanz überbrücken Dirigent und Orchester aber problemlos, wenn man vom grundsätzlichen Aspekt absieht, dass die besagte Sinfonie zwar im Schaffen des tschechischen Komponisten einen Quantensprung hin zu seinem großen sinfonischen Spätwerk darstellt (das dann von der äußerst populären Neunten, der Sinfonie „Aus der neuen Welt“, gekrönt wurde), aber an grundsätzlicher Klangwucht hinter den Werken Bruckners oder gar Mahlers zurückbleibt, diese freilich auch gar nicht erreichen will, was folglich auch nicht Ziel Tschumis und des Orchesters ist. Statt dessen gelingen die heiklen Hornpassagen im 1. Satz, einem Allegro maestoso, durchaus mit Eleganz, und Tschumis zunächst eher behagliche Tempowahl unterstützt den eleganten Charakter noch, wenngleich der Dramatikfaktor durchaus nicht zu klein ausfällt. Energieschübe bleiben hier selten, sitzen aber paßgenau, auch die Steigerung zum Scheintriumph im Satzfinale meistern die Beteiligten ebenso gekonnt wie die anschließende Rückkehr in die Behaglichkeit, und nur der ruhige Schlußteil wirkt etwas zu unkoordiniert. Die Koordination ist im zweiten Satz, einem Poco adagio, schnell wieder da, und so kann man die ruhige Einleitung als richtig schön bezeichnen. Über wellenartige Bewegungen lenkt Tschumi den Satz geschickt in größere Düsternis und nimmt noch mehr Tempo heraus. Der Düsterbombast, den Dvorák sich hier wünscht, bleibt allerdings auch fragmentarisch und muß sich mit viel umliegendem Geplänkel messen, in das Tschumi und das Orchester allerdings auch etliches an düsterer Spannung zu legen imstande sind. Folkloreelemente, die Dvorák gern einzusetzen pflegte, bleiben in der Siebenten selten, aber im mit Vivace ausgewiesenen Scherzo gibt es doch welche. Tschumi nimmt die entsprechenden Passagen zunächst eher beschwingt als flott, und obwohl der Zug zum Tor durchweg spürbar bleibt, schafft es der Dirigent, diesen eher unterschwellig zu plazieren, und so bekommt er zum Ende der jeweiligen Außenteile auch noch eine gehörige Schärfung des Ausdrucks hin, zumal das Trio eher unauffällig daherkommt und im besten Sinne als normal zu bezeichnen ist. Das mit „Allegro“ überschriebene „Finale“ gibt dem Dirigenten die Gelegenheit, im Kontext dieser Sinfonie relativ viel an Kontrasten zu zeichnen. Anfängliches Geplänkel geht also bald in messerscharfe Passagen über, die wahlweise auch sehr raumgreifend ausfallen. Der durchschnittliche Dynamiklevel nimmt deutlich zu, aber stimmungsmäßig wissen auch die diversen Verharrungen zu überzeugen, wenngleich sie bisweilen etwas zu holprig von der Bühne kommen. Die Kunst, unterschwellig enormen Zug zum Tor zu entwickeln, pflegen Tschumi und das Orchester allerdings auch hier, die Schichtungsstruktur überzeugt und ergibt einen ziemlich druckvollen, sozusagen samsoniten Schlußteil, in dem nicht mal die Tatsache, dass irgendjemand bei den Streichern ziemlich markant schief sägt, die Freude über das Erklimmen des Gipfels trüben kann, so dass reichlicher Applaus des zu einem guten Stück über der Hälfte gefüllten Gewandhauses die Musiker belohnt. Kenner der Konzerte des Leipziger Universitätsorchesters wissen nun, dass mit einer Zugabe zu rechnen ist, üblicherweise mit Kostümen, Schauspieleinlagen und diversen absonderlichen Einfällen, und im zweiten Konzertteil sieht man da oft hier und da schon unauffällige Tütchen oder andere Utensilien liegen. Überraschenderweise entdeckt man an diesem Abend aber keine solchen – was hat das zu bedeuten? Die Antwort lautet: Es gibt wieder eine strukturell ungewöhnliche Zugabe, aber diesmal eine ganz anderer Sorte. Das Orchester legt nämlich seine Instrumente ab, stellt sich an den hinteren Bühnenrand vor die Orgelempore und verwandelt sich in einen Chor. Dargeboten wird zudem nichts Humoristisches, sondern eine Gänsehautversion von Joseph Gabriel Rheinbergers sechsstimmigem „Abendlied“ op. 69/3, die ohne Samsonsche Kraftelemente auskommt, dafür jedoch unterstreicht, dass das Orchester „nebenbei“ auch ein gutes Gesangsensemble abgäbe (bekanntermaßen spielen hier Studenten, die alles mögliche andere, aber eben nicht Musik studieren, und bei ihnen ist es erst recht nicht selbstverständlich, dass sie nicht nur ein Instrument orchestertauglich beherrschen, sondern auch noch singen können), und ein interessantes Konzert auf einem enorm hohen Niveau abschließt. Die Homepage verrät die nächsten Konzerttermine im Wintersemester 2017/18. Foto: Gunnar Dressler Roland Ludwig |
|
|
|