Monteverdi, C. (Fuget, St. – Les Épopées)

L’Orfeo


Info
Musikrichtung: Barock / Oper

VÖ: 21.06.2024

(CSV / Naxos / 2 CD / DDD / 2022 / CSV)

Gesamtspielzeit: 110:53



DIE MODERNITÄT DES BAROCK

Diese Interpretation von Claudio Monteverdis „L‘Orfeo“ dürfte die bei weitem farbigste, dynamischte und auch risikofreudigste Version sein, die bislang aufgezeichnet wurde. Stéphane Fuget und „Les Épopées“ machen den in zwei historsichen Drucken überlieferten Notentext dieser „Ur-Oper“ zum Ausgangspunkt einer von frischen Ideen strotzenden Inszenierung mit Hörspielqualitäten.

Zwar haben Improvisationen und hinzugefügte Verzierungen seit der historisch informierten Wiederentdeckung dieses berühmten Werks immer schon eine wesentliche Rolle gespielt. Aber hier wird das Spektrum an Gestaltungsmöglichkeiten nochmals erweitert: Gleich in der eröffnenden Toccata erlaubt sich die Trompete einen juchzenden Schlenker – wahrlich ein Vorzeichen für das, was folgt. Es gibt mikrotonale Modulationen und ornamentale Übergänge sowie reichlich Koloraturen und Arpeggien, mit denen Phrasen und auch einzelne Töne geformt werden. Dazu kommen Tempoverzögerungen und -beschleunigungen sowie ein Artikulationspektrum, das von der emphatisch erhöhten Rede über arioses Singen, expressives Atmen und Flüstern bis hin zum Schmerzensschrei reicht. Stimmen wie Instrumente beteiligen sich gleichermaßen daran.

Diese spielerische Freiheit steht im Dienst einer Steigerung des Ausdrucks. Schon bei Monteverdis „Ulisse“ hat Fuget gezeigt, wie "schwingungsfähig" das frühbarocke „recitar cantando“, das "sprechende" (rezitierende) bzw. "darstellende Singen", ist. Der 1640 aufgeführte „Ulisse“ freilich gehört schon einer späteren Generation von Opern an, bei dem vieles skizzenhafter notiert ist und ad hoc den Aufführungsbedingungen angepasst wurde.
Dagegen steht „L‘Orfeo“ von 1607 noch ganz am Anfang der Entwicklung. In den beiden Drucken ist vieles ausgearbeiteter und festgelegter. Auch wurde „L‘Orfeo“ im fürstlichen Auftrag als Experimentalwerk für ein handverlesenes Publikum komponiert, unter Ausschöpfung aller damals bekannten musikalisch-dramatischen Formen, traditionellen wie neuesten. Deshalb gibt es hier noch ein groß besetztes Renaissance-Orchester. Darum agiert hier noch ein Madrigal-Chor. Und deswegen ist Monteverdis Geniestreich per se schon sehr farbig und formal komplex angelegt.

Fugets Lesart setzt diesen Reichtum noch einmal in besonderer Weise frei. Seine Version wurzelt im Gesang ebenso wie im Sprechtheater. Er macht mit seinen Interpret:innen, die allerlei Wagnisse eingehen, die verschiedenen historischen und stilistischen Schichten hörbar, die in diesem Werk an einer Epochenschwelle noch einmal zusammengehen.
Bereits die im Prolog auftretende La Musica präsentiert in ihrem Monolog verdichtet die Stilfülle, die Monteverdi inspiriert hat. Und bereits hier darf sich die Macht der Musik auch instrumental ihrer ganzen verführerischen Pracht entfalten. Das Orchester und vor allem die Continuo-Gruppe werden zum Mitakteur, die das gesungene Wort illuminieren. Das Schlagwerk ist währende der gesamten Oper vielfach gefordert. Es setzt nicht nur rhythmische, sondern auch atmosphärische Farbakzente, wenn es z. B. einen Hochzeitschor der Hirten mehr wie einen rituellen neoantiken Festzug erscheinen lässt. Sollten die Trompeten in der eröffnenden Toccata gedämpft sein, wie es in der Partitur vorgeschrieben ist, so merkt man davon jedenfalls nichts. Auch sonst setzt Fuget auf volle, leuchtende Farben, selbst die leisen Stellen haben Präsenz.

Bei seinem ersten großen Auftritt, „Rosa de ciel“, ist Orfeo sowohl Redner wie auch Sänger. Das Stück ist schwärmerischer Hymnus an die Sonne und ihren Schöpfer und ein vehementes Liebesbekenntnis. Man hört den Halbgott, der ebenso Mensch wie ein Wesen übernatürlicher Abstammung ist. Immer dann, wenn Orfeo menschlich fühlt, als Mensch agiert und sich ausdrückt, artikuliert er sich auch „irdischer“, d. h. näher an der gesprochenen Sprache. Wenn er aus seiner göttlichen Natur heraus singt, klingt er belkantischer. Das ist dann vor allem bei dem großen Monolog „Possente spirito“ der Fall, wo es darum geht, mit ergreifendem Gesang den unterweltlichen Fährmann Charon zu bezwingen.

Das Ohr, dieses alte Gewohnheitstier, reagiert ob manch plötzlichen „Registerwechsel“ im Vortrag vielleicht irritiert. Darf man das so machen? Ist das nicht zu viel des Guten? Es ist ein bisschen wie bei dem Covermotiv der Produktion: Es sieht auf den ersten Blick barock aus, ist aber 19. Jahrhundert.
So ist es oft eine Gratwanderung zwischen Stilisierung und einem gewissen „Verismus“, zwischen Manierismus und Manieriertheit. Man kann die interpretatorischen Entscheidungen im Einzelnen also durchaus diskutieren. Im Ganzen aber sorgt dieser Angang für eine unablässige Spannung, die bis zum Schluss nicht abreißt und einen das vielgespielte Werk neu entdecken lässt. Das ist in einem übersättigten Klassikmusikmarkt nicht wenig!

Die sängerische Besetzung trägt diesen Ansatz auf höchstem Niveau mit, angefangen mit Julian Pregardien, der sich in der Hauptrolle rückhaltlos auf die affektiven und rhetorischen Metamorphosen einlässt. Berührend zart die Musica und Eurydike von Gewndoline Blondeel, eindringlich die jugendliche Unglücksbotin und Speranza von Eva Zaïcek. Der sinnlichen Proserpina von Marie Perbost kann man keinen Wunsch abschlagen. Ein knurriger, fast buffohafter Typ ist der Charon in der Darbietung von Luigi de Donato. Pluto hat in Luc Bertin-Hugault einen Sänger, der eine angemessen dunkel-imperiale Tonfülle mitbringt. Unter den Hirten ragt Cyril Auvity hervor, der neben weiteren kleineren Rollen auch den Apoll mit himmlischer Klarheit singt. Eine Buffo-Farbe wiederum bringt Paul Figuier als 3. Hirte ins Spiel, aber dieser Eindruck mag auch an der stimmfachtypischen etwas larmoyanten Färbung liegen.



Georg Henkel



Besetzung

Julian Pregardien, Gwendoline Blondeel, Marie Perbost, Eva Zaicik, Cyril Auvity, Luigi de Donato, Luc Bertin-Hugault u. a.

Les Épopées

Stéphane Fuget, Cembalo & Leitung



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