Charpentier, M.-A. (Jarry, G.)
David et Jonathas
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Info |
Musikrichtung:
Barock / Oper - Oratorium
VÖ: 02.06.2023
(CVS / Note 1 / 2 CD + DVD/Blue-Ray / DDD / 2022 / CVS 102)
Gesamtspielzeit: 250:43
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BIBLISCHES SEELENDRAMA
Die biblisch inspirierte Musiktragödie „David et Jonathas“, die Marc-Antoine Charpentier 1688 für das Pariser Jesuitenkolleg Louis-le-Grand komponiert hat, war ursprünglich Teil eines pädagogischen Spektakels unter Beteiligung der adeligen Schüler des Kollegs, die neben der Rhetorik auch in Gesang und Tanz unterrichtet wurden: Katholische Hochkultur für den katholischen Hochadel.
Der Prolog und die fünf Akte von Charpentiers Musik wechselten mit den fünf Akten eines (nicht erhaltenen) lateinischen Sprechtheaterstücks ab, das gewissermaßen die komplementäre Geschichte erzählt: die von König Saul, dem Vater Jonathans.
Aber auch ohne das gesprochene Drama fügen sich Charpentiers „Einlagen“ zu einem geschlossenen Ganzen: Saul, der legendäre erste Herrscher Israels, verliert nach dem glanzvollen Beginn seiner Herrschaft die Gunst Gottes und verfällt in Schwermut. Schließlich sucht er eine Geisterbeschwörerin auf, die ihm sein zukünftiges Schicksal kundtun soll. Gottes Gnade geht derweil auf den Hirtenjungen David über, den eine tiefe Freundschaft, ja Liebesbeziehung mit Sauls Sohn Jonathan verbindet. Saul verfolgt den Aufstieg Davids mit Eifersucht und schließlich Hass. Es endet im Krieg: Saul sucht den Tod auf dem Schlachtfeld, Jonathan stirbt am Ende in Davids Armen, und dieser, der im Sieg alles verloren hat, was er liebt, wird der neue König.
Charpentiers Oper verhandelt im Kern die Beziehung der beiden jungen Männer, die im Macht- und Ränkespiel zwischen die Fronten aus Pflicht und Neigung geraten. Angesichts der besonderen Qualitäten der Musik ist man dankbar, dass dieses Werk in einer Kopie nahezu vollständig erhalten geblieben ist. Jeder Akt beginnt mit einer meisterlich kontrapunktischen Ouvertüre, die das Thema und die Stimmung der folgenden Szenen anspielt. Das Rezitativ ist auf das Nötigste reduziert, die Musik verströmt sich arios-melodisch in manchmal großen Monologen oder auch in ausladenden Chorfresken. Zwischen großen Steigerungsmomenten gibt es viel Raum für kammermusikalische Intimität. Die Charaktere gewinnen dadurch ein prägnantes Profil: Saul ist ein tragischer Antiheld, der seiner eigenen Verzweiflung zum Opfer fällt. Innig und berührend sind die Begegnungen zwischen David und Jonathan gestaltet, sie ragen in ihrer Ausdrucksintensität aus der Musik der Zeit heraus.
Bislang gab es eine überschaubare Zahl von Produktionen, zuletzt 2012 in einer Inszenierung auf DVD unter der Leitung von William Christie (BelAir), der das Werk 1988 schon einmal für CD eingespielt hat (Harmonia Mundi). Im selben Jahr wurde auch eine Interpretation unter Michel Corboz von 1982 beim Label Erato wiederveröffentlicht. Eine weitere Version hat 2010 Andrew Walker mit dem Orchestra of the Antipodes vorgelegt. Anhand der Produktionen lassen sich swohl der spieltechnische Fortschritt wie die stilistische Entwicklung in der Aufführungspraxis verfolgen. Diese jüngste Produktion entstand in der Schlosskirche von Versailles und erscheint sowohl auf CD wie auch szenisch als DVD bzw. Bluray-Disc.
Gaétan Jarry formt die Musik mit den Musiker:innen des „Ensembles Maguerite Louise“ sehr plastisch, nutzt die klangfarblichen Differenzierungsmöglichkeiten des kleinen Orchesters und wahrt dabei einen kultivierten, oft verinnerlichten Ton, der vordergründiges Pathos vermeidet. Die prominente Kirchenakustik hat die Tontechnik freilich hörbar herausgefordert. Der Nachhall vergrößert die Stimmen und Instrumente. Das erhöht zwar die Wirkung mancher Szenen, bedingt aber auch eine gewisse Weichzeichnung vor allem bei den Chorszenen.
Exzellent neben den nuancierten Orchester- und Chorleistungen sind die Darbietungen der Solistinnen und Solisten, allen voran der sensibel geführte, immer wieder auch bezwingend aufstrahlende hohe Tenor des Reinhoud van Mechelen als David: das Ideal-Porträt eines tugendhaften, auch emotional berührbaren Herrschers. Erschütternd intensiv gerät die von Choreinwürfen begleitete Klage Davids über den Tod des Freundes im 5. Akt. Van Mechelens klarer Ton harmoniert sehr schön mit dem knabenhaften Sopran von Caroline Arnaud, die Jonathan als hingebungsvollen jugendlichen Idealisten zeichnet. Sehr berührend gelingt ihr unter anderem Jonathans Monolog im 4. Akt, in der er seiner Verlassenheit auf ergreifende Weise Ausdruck verleiht.
Auch die übrigen Sänger sind herausragend: der nobel-tragische Bariton von David Witczak als Saul, der Tenor von Antonin Rondepierre in der Rolle des intriganten Joabels, der kernige Bass von Virgile Ancely als Achis oder François-Olivier Jean, der die Hexe von Endor (La Pythonisse) mit unheimlicher Präsenz ausstattet. In dieses pauschale Lob dürfen auch die Sänger:innen in den zahlreichen Nebenrollen eingeschlossen werden.
Die Multimedia-Produktion bringt eine reine Hör- wie auch eine Bühnenfassung. Letztere wurde von Marashall Pynkoski (Inszenierung), Jeannette Lajeunesse Zingg (Choreographie) und Christian Lacroix (Kostüme) historisierend als barockes Spektakel in der Versailler Schlosskapelle inszeniert. Die Bilder erinnern an altmeisterliche Gemälde. Ein großer Einbau mit Bögen, Treppen und Baldachin dient wahlweise als Behausung der Hexe, als Palast oder Kriegslager. Insbesondere die verschwenderischen Kostüme von Lacroix setzen prächtige Akzente. Beide Fassungen treffen sich in ihrem stilisierenden Ansatz, wobei der historisierende Bilderbogen eine gewisse ästhetische Distanz zum Geschehen schafft. Freilich kann man so erahnen, wie dieses Werk im 17. Jahrhundert über die Bühne gegangen sein könnte.
Georg Henkel
Trackliste |
CDs: 118:43
DVD/Blueray: 132:00 |
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Besetzung |
Reinoud van Mechelen, Caroline Arnaud, David Witczak, Francois-Olivier Jean, Antonin Rondepierre, Virgile Ancely u. a.
Chor und Orchester des Ensemble Marguerite Louise
Gaétan Jarry, Leitung
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