Die Nacht von Sevilla: Spanisches Saisonabschlußkonzert bei der Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz
Guillermo García Calvo, seit Beginn der Spielzeit 2017/18 Generalmusikdirektor der Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz, ist gebürtiger Madrilene – was liegt also näher, diesen Aspekt zu nutzen und dem Publikum einige Preziosen der spanischen Musikkultur nahezubringen? Gesagt, getan: Das letzte Sinfoniekonzert dieser Saison trägt den Titel „Spanische Nacht“ und enthält fünf Werke von vier Komponisten, unter die sich interessanterweise auch ein Franzose gemischt hat. Ein „Hit“ ist dabei, der Rest erklingt in deutschen Konzertsälen eher selten. Passenderweise hängt im Bühnenhintergrund eine riesige spanische Flagge, bei welcher der obere rote Streifen kurioserweise dunkler wirkt als der untere – aber das kann eine beleuchtungsbedingte optische Täuschung gewesen sein. Mit dem Franzosen geht es los: Emmanuel Chabrier schrieb seine Rhapsodie España nach einer 1882er Rundreise durch Spanien, auf der er in seinem Reisetagebuch verschiedene Motive von Volkstänzen und -liedern festgehalten hatte, die er nach seiner Rückkehr nach Paris zunächst in einer Klavierkomposition verarbeitete, welchselbige dann noch zu einer Orchesterfassung erweitert wurde. Das Stück beginnt zwar leise, aber die Kastagnetten machen schon mächtig Tempo, und voluminöse Zunahmen lassen denn auch nicht lange auf sich warten. Das Ganze entspricht auch klanglich einer Rundreise mit immer neuen Eindrücken, ist also sehr abwechslungsreich gehalten, ohne aber fragmentiert zu wirken. Beschwingtere Passagen alternieren mit knarzenden Fagotten, die Posaunen werfen kurze Themen über einen Streicherteppich, und in den Schlußteil legen alle Beteiligten einiges an Feuer. Joaquín Rodrigo, dessen Lebensdaten fast das komplette 20. Jahrhundert umspannen (er wurde 1901 geboren und starb 1999), bedachte die Harfe mehrfach als Soloinstrument, so auch in der 1952 entstandenen Fantasía sevillana Sones en la Giralda. Das bei Chabrier noch sehr groß besetzte Orchester verkleinert sich deutlich – kein Schlagwerk, fast keine Blechbläser, auch die anderen Instrumentengruppen dünnen sich aus. Den Soloposten kann das Orchester aus den eigenen Reihen besetzen: Helke Scheibe spielt sonst die Orchesterharfe. Im düsteren Beginn klingt ihr Instrument bisweilen orientalisch angehaucht, in die maurischen Zeiten Spaniens zurückblickend; darunter liegen Streicherflächen, in welche die Holzbläser einzelne Einwürfe einweben. Nicht alle Harfe-Holz-Interaktionen gelingen paßgenau, was der Gesamtstimmung aber keinen Abbruch tut. Für das unterschwellig treibende Tempo ist zumeist die Solistin zuständig, oberschwellig passiert das erst, als sie mit einem markanten Thema in den zweiten Teil der Komposition überleitet. Calvo dosiert das Orchester so, dass man die Solistin trotz Mezzoforte noch hört, und es entwickelt sich ein lockeres Getänzel, in dem Scheibe einige artistische Fähigkeiten beim Umblättern unter Beweis stellen muß. Das Ganze ist hübsche, wenngleich eher unauffällige Musik, und die Solistin wird mit zwei Vorhängen belohnt, spielt aber keine Zugabe. Mit der Sinfonia sevillana op. 23 von Joaquín Turina bleiben wir gleich in der Fußballfreunden wohlbekannten Stadt (Anhänger dieser Sportart erinnern sich noch an die „Nacht von Sevilla“ zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich bei der Weltmeisterschaft 1982 oder auch an das legendäre 12:1 der Spanier im Folgejahr in der EM-Qualifikation gegen Malta, mit dem die Iberer die punktgleichen Niederländer am letzten Spieltag noch aus dem Wettbewerb kegelten) und blicken im ersten, „Panorama“ genannten Satz zunächst von oben auf sie. Die Bühne füllt sich wieder, und die Musiker erzeugen zunächst ein großes akustisches Staunen über den titelgebenden, offensichtlich beeindruckenden Rundblick, der allerdings auch bald mit einigen Detaileindrücken angereichert wird. Womit der schräge Ausbruch optisch verknüpft ist, muß Kennern der Stadtsilhouette zu ergründen vorbehalten bleiben – der spätere Posaunen-Choralbombast jedenfalls hat an diesem Abend einige Größe, bleibt allerdings ebenso episodenhaft wie das Violinsolo und die flotte Kombination verschiedener Ausblicke, die mit einem Schlag zu Ende geht. Im zweiten Satz „Por el río Guadalquivir“ begeben wir uns zunächst in eine offenbar frühlingshafte pastorale Uferlandschaft des Namensgebers: Turina fordert Naturalismus nicht nur im munteren Wellenspiel ein, Calvo und seine Musiker liefern ihn. Die Sologeige ertönt wie von weit her, und nur einige kleine Stromschnellen mischen sich in den überwiegend an einen ruhigen Altarm erinnernden Klangeindruck. Das Finale des Satzes bietet hübsche Kammermusik, alle sind sich einsatztechnisch einig, und so überzeugt das Ergebnis ohne Wenn und Aber. Zum dritten Satz bewegen wir uns einige Kilometer von Sevilla weg, zu einer „Fiesta en San Juan Aznalfarache“, eine Stadt in der Provinz Sevilla, die gleichfalls am Guadalquivir liegt. Hier beginnt der Hörer bald in Widerstreit mit seiner Erwartungshaltung zu geraten: Das eine große Party verheißende Tutti zu Satzbeginn weicht nämlich schnell einem Mix aus etwas Vorwärtsdrang und vielen verharrenden Passagen, die sich später fast in eine Art Entrückung wandeln. Keine Ahnung, welche Substanzen auf dieser Fiesta konsumiert werden: Immer wieder täuscht Turina eine flotte Sohle vor, bringt die Tanzwilligen aber mittels rhythmischer Eskapaden zu Fall, und der Schlußbombast mutet feierlich, aber gewiß nicht feiernd an. Nach der Pause folgt zunächst der eingangs erwähnte Hit des Programms: Joaquín Rodrigos in etlichen Bearbeitungen bekannt gewordenes Concierto de Aranjuez in seiner für Gitarre und Orchester geschriebenen Urfassung. Die Sätze tragen keine spanischen, sondern klassische lateinische Bezeichnungen, und mit einem Allegro con spirito geht’s los. Das markant rhythmisierte Hauptthema wandert vom Solisten zum Orchester und wieder zurück, und Calvo dosiert das wieder ausgedünnte Orchester so, dass man zumindest die vollgriffigen Akkorde des Gitarristen Rafael Aguirre auch noch gegen voluminösere Tuttipassagen deutlich hören kann. Das ist bei den Einzelzupfpassagen allerdings etwas schwieriger – hier ist der Hörer auf die Piano-Passagen des Orchesters angewiesen, um festzustellen, dass das Zusammenspiel über weite Strecken prima funktioniert. Um mögliche Probleme wissend, hat Rodrigo die beiden voluminösesten Orchestertutti dann auch gleich ohne parallele Gitarrenstimme gelassen – eine weise Entscheidung. Das Adagio ist derjenige Satz, der ein Eigenleben zu führen begonnen hat, woran etwa eine Bearbeitung von Miles Davis nicht ganz unschuldig ist, so dass wohl mancher Hörer im Geiste mitsummt oder -pfeift. Die schwelgerische Stimmung herüberzubringen gelingt Calvo, Aguirre und dem Orchester gut – viele Passagen streicheln die Seele, und trotz streckenweise recht vieler Noten aus der Gitarre leidet auch der Eskapismusfaktor nicht. Trotzdem grenzt auch die Entwicklung einer gewissen Dramatik hier nicht an Hexerei, die Düsternis nimmt zwar keine abgründigen Dimensionen an, ist aber doch vorhanden, und speziell in die Kadenz legt Aguirre teilweise enorme Spannung. Der gewöhnungsbedürftige, aber exzellent umgesetzte Bombasteinschub besitzt viel Größe, und im Satzschluß tritt ein Verschnupfter im Saal in Widerstreit mit den Spannungserzeugern auf der Bühne, was eine Art Patt ergibt. Das Allegro gentile an dritter Position ruft allein anhand des Titels wieder die Fußballfans auf den Plan (der knüppelharte Verteidiger Claudio Gentile wurde anno 1982 mit Italien Weltmeister), liefert musikalisch aber keine Argumente für solche Gedankenspiele. Der Satz entwickelt sich eher beschwingt als schnell, das Orchester agiert teils enorm durchsichtig, was zugleich die Balance zum Gitarristen weiter verbessern hilft. Alles bleibt im tonalen Bereich (das ist 1940 zur Zeit der Komposition des Werkes durchaus nicht selbstverständlich), allerdings irgendwie unauffällig, fast gläsern wirkend, wenngleich im weiteren Verlauf durchaus auch zupackendere Passagen auftreten, etwa das markante dreitönig aufsteigende Hauptthema. Diverse Melodik kommt einem auch hier zumindest diffus bekannt vor, Orchester und Solist geben trotz kompositionsseitiger Zurückhaltung ihr Bestes und werden mit begeistertem Applaus belohnt. Der steigert sich freilich noch, denn Aguirre bedankt sich gleich mit zwei Zugaben: Granada von Augustín Lara – interessanterweise kein Spanier, sondern ein Mexikaner – und Gran Jota von Francisco Tárrega, ein Stück, das im achtjährigen Aguirre den Wunsch erweckte, sich näher mit dem Instrument Gitarre zu beschäftigen, weil man damit noch viel interessantere Dinge machen kann als einfach nur Melodien zu zupfen oder Akkorde zu schlagen: Perkussive Anwendungen finden sich hier ebenso wie Echowirkungen, und das Ende macht einen fast pseudomilitärischen Eindruck. Solcherart Expressivität und die launige Erklärung Aguirres, der sich als sympathische Labertasche entpuppt (er lehrt seit fast zehn Jahren an der Robert-Schumann-Hochschule in Düsseldorf und spricht ein sehr gutes, mit sympathischem Akzent versehenes Deutsch), sorgen dafür, dass der Applaus nach der zweiten Zugabe noch frenetischer ausfällt als nach dem eigentlichen Hauptstück und der Solist gar stehende Ovationen bekommt. Das wäre eigentlich ein gekonnter Abschluß des Konzertprogramms gewesen, zumal die Zeit mittlerweile auch recht fortgeschritten ist. Aber ein Stück steht noch an: die Suite española op. 47 von Isaac Albéniz, auch das ursprünglich eine Klavierkomposition, die in diesem Falle allerdings nicht vom Komponisten selbst für Orchester bearbeitet wurde, sondern erst lange nach dessen Tod vom Dirigenten Rafael Frühbeck de Burgos, nachdem bereits zuvor der Leipziger Hofmeister-Verlag eigenmächtig die Suite um vier aus anderen Kontexten stammende Werke des Komponisten erweitert hatte. Von diesen nun acht Stücken erklingen in Chemnitz vier, und angesichts der Dominanz einer gewissen Stadt im Gesamtprogramm überrascht es nicht, dass „Sevilla“ den Auftakt bildet. Hier dominieren zunächst traditionelle kastagnettendominierte Tanzmotive, die allerdings durchaus dynamikvariabel umgesetzt werden und einer gewissen Grundeleganz nie entbehren. Allerdings bleibt es nicht dabei: Pauken und Glocke versetzen uns in die Nacht, allerdings keine total finstere, bedrohliche, sondern eine eher liebliche flötendominierte, die dann in einen eher unauffälligen Schluß mündet. In „Granada“ waren wir außerhalb des regulären Programms ja schon – jetzt kommen wir aber offenbar auch nachts dorthin: Bedächtige, cellodominierte Flächen wechseln mit verträumten Holzsoli, die Harfe wispert, der Düsterbombast hat auch hier nichts Bedrohliches an sich, und Orchester und Dirigent gelingt ein einfach nur richtig schöner Satzschluß. „Asturias“ soll sich gemäß Programmheft eigentlich nicht auf die nordwestspanische Region, sondern das historische Königreich Asturien beziehen, aber auch die geographische Anbindung ergibt musikalisch durchaus Sinn: Das relativ bewegte Bild assoziiert einen Widerstreit zwischen Flamenco und Meereswellen, bevor sich ein feierlicher Bläserdialog aus Holz und Blech ergibt. Der Schlußteil verquickt diese Elemente dann noch stärker und baut noch einen überraschend düsteren Faktor ein, der aber auch zu dieser eher herben Region passen würde. „Castilla“ ruft zum Schluß verbal nochmal die Fußballfreunde hervor (der FC Castilla ist praktisch die zweite Mannschaft von Real Madrid), auch wenn weder Komponist noch Bearbeiter diese Assoziation geplant haben dürften. Aus dem Schlagwerk kommt zwar einiges an Tempo, aber obwohl auch andere Orchestermusiker an den Ketten zerren, läßt der Komponist sie abermals nicht los. Der generell recht schlagwerklastige Satz bietet erst zum Schluß nochmal eine furiose Passage, aber die verschwindet ebenso plötzlich, wie sie gekommen ist, und dann ist das Stück auf einmal zu Ende. Orchesterzugaben sind im üblichen Betrieb selten, aber zum Saisonabschluß packen Calvo und die Musiker doch noch eine aus, obwohl die Zeiger der Uhr mittlerweile für ein Orchesterkonzert ungewöhnlich weit vorgerückt sind. Aber Begeisterung und Kondition sind allgemein noch da, und Ruperto Chapís „Preludio“ aus La Revoltosa entpuppt sich als Bombastgedonner, das mit leisen, aber trotzdem enorm schnellen Passagen durchsetzt ist. Der Mittelteil hingegen gerät überraschend ätherisch, mündet in eine fast wienerisch anmutende Passage (vielleicht gestaltungstechnisch kein Zufall, denn Calvo hat lange in Wien gearbeitet), bevor der Schlußteil wieder wilden frenetischen Lärm bietet, den man mit einer großen spanischen Fiesta viel eher verbindet als die zwischenzeitlich doch recht nachdenklichen Klänge, die das Programm geboten hat. Das Publikum zeigt sich jedenfalls hochgradig begeistert, und so rundet sich das Bild eines würdigen Saisonabschlusses. Roland Ludwig |
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