Jagd auf Lichtstrahlen: 9. Sinfoniekonzert der Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz
Olavi Elts, Gastdirigent beim 9. Sinfoniekonzert der Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz, ist Este und in verschiedensten Stilistika zu Hause, was auch das auf den ersten Blick recht bunt anmutende Programm assoziiert, dessen innerer Zusammenhang sich erst auf den dritten Blick erschließt. Also hinein ins Geschehen: Franz Schreker steht stilistisch am Ende der Spätromantik, bereits hinüber in die Felder der atonalen Systeme lugend, diese aber noch nicht betretend und damit beispielsweise Sigfrid Karg-Elert oder Franz Schmidt vergleichbar, wobei Schreker trotzdem modern genug agierte, um von den Nationalsozialisten als entartet eingestuft zu werden. Zu einem längerwährenden Konflikt kam es ähnlich wie bei Karg-Elert aber nicht: Schreker starb nur ein Jahr nach der „Machtergreifung“ an einem Herzinfarkt, gerade erst in der zweiten Hälfte des sechsten Lebensjahrzehnts angekommen, und verschwand dann stillschweigend von den Spielplänen. Erfolge hatte er hauptsächlich mit seinen Bühnenwerken gefeiert, darunter der Oper Die Gezeichneten, für die er bereits vorab ein Orchesterwerk schrieb und es Vorspiel zu einem Drama nannte – es ist also nicht zu verwechseln mit der Opernouvertüre, auch wenn es einen ähnlichen Zweck erfüllt, sondern läßt sich strukturell eher mit gewissen als Suite zusammengefaßten Opernexzerpten vergleichen, wie man sie etwa von Richard Strauss‘Der Rosenkavalier kennt. Der Rezensent hat das heute nach Jahrzehnten des Vergessens wieder etwas öfter gespielte Die Gezeichneten noch nie gesehen, besitzt auch keine Tonaufnahme und muß das Werk dieses Abends also gewissermaßen autonom betrachten. Dass wir hier in der Spätromantik liegen, zeigt schon der riesige Orchesterapparat, dem mit Klavier und Celesta auch eher rare Farben hinzugefügt werden – aber rein stimmungsmäßig wäre die Verortung gleichfalls recht bald klargeworden. Das weitgehend tonal bleibende Stück hebt mit viel spröder Weichheit an, die dann größeren Klangflächen weicht. Das erste Tutti strebt volumenseitig nach mehr, die anschließende, eher unterschwellige Beschleunigung fordert von Dirigent und Orchester eine genau abgestimmte Leistung und bekommt die an diesem Abend auch. Bombast gibt es einigen, und dass diesem baubedingt in der Chemnitzer Stadthalle üblicherweise etwas die Wucht fehlt, ist der Stammbesucher ja bereits gewöhnt. Düsternis macht sich nur selten breit, dafür werden die nächsten Bombastpassagen pathosgesteigert und entführen den Hörer automatisch nach Italien, wo die Handlung der Oper spielt. Hübsche Wassereffekte zeigen das Händchen des Komponisten für Naturalismus, auch fröhliche Tanzpassagen sind ihm nicht fremd, die über viele Zwischenstufen allerdings in der Katastrophe enden. Der Tod bleibt freilich nur kurz anwesend und macht bald einem langen Schlußgeplänkel Platz. Das interessante, ohne das strukturelle Hintergrundwissen allerdings schwer erschließbare Stück erntet einigen Applaus. Richard Strauss‘ Vater war Hornist, und der Sohn schrieb zwei Hornkonzerte, ein sehr frühes und ein sehr spätes. An diesem Abend erklingt das frühe, Nr. 1 Es-Dur op. 11, geschrieben anno 1883 und von seinem Vater nicht gespielt, da dieser es als zu schwer erachtete. Nun bleiben solche Einschätzungen immer relativ – interessanter aber ist die stilistische Einordnung: Nicht nur dass das Werk kaum Elemente von Strauss‘ späterem Kompositionsstil enthält, selbst für sein Entstehungsjahr wirkt das Konzert reichlich anachronistisch, hat mit Romantik, gar Spätromantik überhaupt nichts zu tun und kommt entsprechend mit einer minimalen Orchesterbesetzung aus, wodurch die beiden Bühnenarbeiter nach dem riesig besetzten Schreker-Stück einiges an Umräumarbeit zu leisten haben. Ins eröffnende Allegro legen Elts, das Orchester und der Solist Felix Klieser ein durchaus zügiges Tempo, aber die richtigen Stärken entfalten sie erst im Andante-Satz, wo Klieser über dem ziemlich weit unten angesiedelten Tempo einen sehr schönen gesanglichen Hornton entfaltet, während Elts das Orchester zu einer unauffällig scheinenden, aber enorm wirkungsvollen Dramatisierung führt. Deren Früchte erntet dann der finale Rondo-Satz, der lange Zeit in übersichtlichen Tempolagen verbleibt und trotzdem oder gerade deswegen an Ausdrucksstärke gewinnt. Die diversen Dialoge mit der Flöte dominiert der Solohornist zwar, hält aber so weit Maß, dass ein Miteinander spürbar ist, und im fröhlich-flotten Kehraus geben alle alles und werden mit stehendem Applaus des Publikums belohnt. Soweit, so normal. Was bisher noch nicht zur Sprache kam: Klieser ist kein gewöhnlicher Hornist – er wurde ohne Arme geboren, wollte aber trotzdem schon seit dem Kleinkindalter unbedingt Hornist werden und spielt sein Instrument daher mit den Füßen, den Ventilapparat mit dem linken Fuß bedienend. Bei den affenschnellen Passagen im Finale des dritten Satzes bricht sich schon der normale Spieler beinahe die Hand, und das mit dem Fuß so zu spielen grenzt an ein Wunder. Säße ein Blinder im Publikum, der also nicht sähe, wie Klieser spielt, er käme nie auf die Idee, keinen „normalen“ Hornisten vor sich zu haben – am Klangbild wie am Ausdruck müssen keine Abstriche gemacht werden (für Dämpferpassagen hat Klieser eine eigene Mechanik entwickelt, die er mit dem rechten Fuß bedienen kann – sie wird für dieses Strauss-Konzert aber nicht gebraucht). Dass der Klang des Horns nach einer Seite stärker abstrahlt, ist normal, und der auf der anderen Seite sitzende Rezensent muß sich daher zunächst etwas anstrengen und das Ohr „trainieren“, um den Hornisten angemessen zu hören, aber trotzdem kommt genug Power von der Bühne, um auch hierin keinerlei Manko zu sehen, und ein „normaler“ Hornist hätte ja das gleiche Problem gehabt, wenngleich er sein Instrument möglicherweise noch etwas variabel halten kann, was Klieser mit seinem Gestell, auf dem das Horn befestigt ist, nicht möglich ist. Aber das sind eher theoretische Überlegungen – was zählt, ist die Praxis: Klieser gibt ein leuchtendes Beispiel ab, dass man als Gehandicappter nicht automatisch einen „Behindertenbonus“ braucht, sondern unter gewissen Rahmenbedingungen gleiche Leistungen wie ein Nicht-Gehandicappter erzielen kann (oder gar bessere). Zu den sympathischen Details zählt dann auch, dass Klieser gleichfalls einen Blumenstrauß bekommt, obwohl er den nicht halten kann – die Blumen werden an die Seite gelegt, und die Konzertmeisterin nimmt sie ihm am Ende mit. Vorher bedankt sich der Hornist für die stehenden Ovationen aber noch mit einem Jagdstück von Rossini, das eigentlich für vier Hörner geschrieben ist, hier aber in Kliesers eigenem Arrangement für Solohorn erklingt, im klassischen Jagdgestus gehalten ist und die Fähigkeiten dieses Musikers ein weiteres Mal eindrucksvoll unter Beweis stellt. Nach der Pause begeben wir uns zunächst ins Jahr 1968, in welchem Photoptosis von Bernd Alois Zimmermann, übrigens als Auftragswerk der Gelsenkirchener Stadtsparkasse, entstand, zwei Jahre vor dem Suizid des Komponisten und in dessen 50. Lebensjahr, was praktisch bedeutet, dass er anno 2018 100 Jahre alt geworden wäre, wodurch sich die derzeit etwas größere Präsenz seiner Werke auf diversen Spielplänen erklärt. Photoptosis, so Zimmermann, soll das musikalische Äquivalent der optischen Veränderung von Farbflächen unter Lichteinfall darstellen, wobei zu Anfang schräge Düsternis dominiert, die nur gelegentlich von ein paar Lichttupfern erhellt wird. Der 1. Ausbruch bleibt episodenhaft, wenngleich die Strahlenbündel langsam dicker werden, und diese Tendenz setzt sich auch über den 2. Ausbruch hinweg fort. Die Klangfarbenzusammensetzung im Orchester atmet eine spätromantikkompatible Vielfalt, neben Klavier und Celesta besetzt Zimmermann auch noch eine Orgel, wobei der Organist an seinem Instrument verbleibt, während sein Tastenkollege zwischen Klavier und Celesta hin und her wetzen (und die Noten jeweils mitnehmen!) muß. Der 3. Ausbruch führt zu immer lauterer Schrägheit, die Strahlungsintensität verbrennt die Oberflächen mittlerweile, und auch die dynamische Rückführung im zweiten Teil der Komposition, die u.a. mittels diverser eingewobener Zitate (markant z.B. der Tanz der Zuckerfee, den das Gros der Anwesenden im Saal weniger aus seinem Originalkontext, sondern eher als Titelmelodie von Willi Schwabes Rumpelkammer im Ohr haben dürfte) erfolgt, ändert die Lage nur vorübergehend – die nächste Verdichtung läßt nicht lange auf sich warten. Im dritten Teil hat die Sonne dann, obwohl das Ozonloch noch gar nicht so groß ist (wir befinden uns, man erinnere sich, im Jahr 1968), alles verbrannt, läßt die musikalische Brutalität nur noch wenige Lücken, und der rockmusikalisch sozialisierte Hörer könnte unwillkürlich an das Coverartwork zu Psychotic Waltz‘A Social Grace denken, selbst wenn auch dieses erst zwei Dekaden später entstanden ist. Das Publikum spendet verwirrt anmutenden, aber doch freundlichen Applaus. Ein weiterer Großumbau folgt: Wolfgang Amadeus Mozarts Sinfonie Nr. 40 g-Moll KV 550 ist trotz des Faktums, dass an diesem Abend die 1791er Spätfassung mit zwei hinzugefügten Klarinetten erklingt, sehr übersichtlich besetzt – ein ausgedünnter Streicherapparat, zwei Hörner und sieben Holzbläser, das reicht. Auch der stimmungstechnische Kontrast nimmt große Ausmaße an, trotz des Moll-Tongeschlechts: Das Hauptthema des Molto-Allegro-Satzes könnten vermutlich viele Hörer mitpfeifen, und Elts fordert Beschwingtheit vom Orchester und bekommt sie auch geliefert. Der sonst eher sachorientierte Este setzt hier stärker auf den Emotionenfaktor, natürlich trotzdem mit sicherer Technik gepaart, und das Tempo gerät zwar durchaus zügig, aber nicht überhastet. Im Andante betont Elts den naturalistischen Faktor stark – das kennen wir von ihm ja schon aus dem Schreker-Stück. Den Kontrast zwischen dem eher bedächtigen Tempo und dem gelegentlichen Streichergeflirre so paßgenau hinzubekommen muß man auch erstmal schaffen, und obwohl einige Holzpassagen etwas wackeln, entwickelt sich daraus kein Gefühl einer etwaigen Gefährdung. Die dunklen Wolken kommen von woanders: Die lauten Stellen nimmt Elts wirklich laut, sehr laut sogar, und die typisch mozartische Eleganz leidet ein wenig unter dem Kontrastsetzungswillen des Dirigenten. Das setzt sich im Menuetto fort – so brutal wie an diesem Abend hat man Mozart wohl kaum einmal gehört: Alles jagt förmlich hin und her, und die Rückführung zu wenigstens latenter Eleganz gelingt nur noch unter großer Mühe. Zum richtigen Problem wächst sich die kontrastbetonende Strategie dann im abschließenden Allegro assai aus, das nahezu attacca auf den dritten Satz folgt. Elts läßt die Geschwindigkeit noch weiter nach oben schrauben, die wenigen Verharrungen verhuschen wirkungslos, dafür schleichen sich in die hyperschnellen Passagen etliche Unsicherheiten ein, wo sich die Musiker erst am jeweiligen Phrasenende wieder finden. Dynamiksteigeurng nach hinten ist auch keine mehr drin, und am Ende fühlt man sich irgendwie, als sei ein ICE an einem vorbeigefahren. Das soll nicht heißen, Mozart sei eher mit einem schwerfällig dahinschleichenden Güterzug zu assoziieren, aber bei dem hätte man in der Vorbeifahrt tatsächlich mehr Details wahrgenommen. Das Publikum spendet stabilen Applaus, aber Enthusiasmus bleibt weitgehend aus – irgendwie schade drum. Roland Ludwig |
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