DSCH gegen den Rest der Welt: Andrei Ionita, Dmitri Liss und das MDR Sinfonieorchester spielen ein reines Schostakowitsch-Programm
Musik von Dmitri Schostakowitsch erklingt in der Saison 2017/18 im Leipziger Gewandhaus auffällig häufig – und das ganz ohne ein Komponistenjubiläum, das ja sonst üblicherweise den Anlaß für gewisse Ballungen in den Spielplänen bildet. Der MAS-Stammleser hat einige der Konzertberichte sicherlich gelesen, vom Gewandhausorchester, vom Leipziger Universitätsorchester und eben auch vom MDR Sinfonieorchester. Bisher aber waren Werke Schostakowitschs in den vom Rezensenten erlebten Konzerten dieser Saison immer mit solchen anderer Komponisten gepaart – an diesem Sonntagabend ist das nun anders: Das Programm gehört ausschließlich dem großen, immer noch umstrittenen Russen. Einen für ein Sinfoniekonzert typischen Programmzuschnitt zusammenzustellen fällt freilich auch dann nicht schwer, hat Schostakowitsch doch neben 15 Sinfonien auch eine Handvoll Solokonzerte geschrieben, die man bei einem derartigen Zuschnittswunsch mit einer der Sinfonien paaren kann. Solches geschieht nun an diesem Abend, der mit dem 1. Konzert für Violoncello und Orchester Es-Dur op. 107 anhebt, seinerzeit geschrieben für den großen Mstislaw Rostropowitsch und auch mit diesem uraufgeführt. In dessen Fußstapfen tritt der junge Rumäne Andrei Ionita, der mit ebenjenem Konzert 21jährig anno 2015 den Tschaikowski-Wettbewerb in Moskau gewann und damit seinen Durchbruch auf den internationalen Konzertpodien schaffte. Dass der Cellist voller überbordender Energie steckt, wird gleich im eröffnenden Allegretto deutlich: Die trocken-lakonische Einleitung, die Dirigent Dmitri Liss vorsieht, mündet alsbald in funkensprühendes Spiel des Solisten, und noch ehe die Pauke auch nur einen Schlag zur Dramatiksteigerung gesetzt hat, wirft Ionita sein Instrument hin und her, als würde er nur durch die Kombination aus Spiel und zusätzlicher Bewegung ausreichend Energie los, um nicht zu explodieren. Liss legt passenderweise ein recht zügiges Tempo an den Tag, und wenn der Komponist Hast und Hektik darstellen möchte, so tun die Protagonisten dieses Abends das natürlich, ohne mit der Wimper zu zucken. Fluß ist da, wenn er nötig ist, und auch wenn mancher Dialog des Solisten mit einzelnen Instrumentengruppen, etwa den Hörnern, nicht mit der letzten Portion Harmonie gelingt, so stimmt doch ein zupackender Schluß fast uneingeschränkt positiv. Dass Ionita und Liss auch anders können, zeigen sie im Moderato-Satz. Schon dessen Einleitung ist so breit angelegt wie die Westsibirische Tiefebene, an deren Rand in Jekaterinburg der Dirigent üblicherweise arbeitet (als Chef des Ural Philharmonic Orchestra, mit dem er auch regelmäßig auf Tour geht), und Lieblichkeit ist dort durchaus kein Fremdwort. Auch hier gelingen freilich nicht alle Interaktionen Ionitas mit den Orchestermusikern – mit den Hörnern findet der junge Rumäne bis auf einen wirklich tiefen Moment keine gemeinsame Sprache, mit den Orchestercelli und den Bratschen gleich danach allerdings sehr wohl. Mit einem gekonnt singenden Ton laviert der Solist zwischen Romantik und Düsternis hin und her, und Liss beweist ein Händchen für die mehrstufige Dramatisierung. Für das letzte Quentchen Entrückung in der Celesta-Passage ist das Publikum zwar zu unruhig, dennoch gelingt im Satzschluß einiges an Spannung. Die versucht Ionita auch in den dritten Satz hinüberzuretten – ungewöhnlicherweise hat Schostakowitsch die Solokadenz als Extrasatz auskomponiert –, was trotz weiterer Tempoverringerung nur bedingt gelingt – der Kampf gegen die Huster im Publikum endet unentschieden. Trotzdem gibt sich der Solist alle Mühe, läßt das Tempo sehr weit unten, wagt es, ausklingende Einzelzupfer lange stehenzulassen, und kontrastiert diesen Teil somit wirkungsvoll mit dem folgenden wilden Gesäge. Letzteres soll theoretisch die Basis für das abschließende Allegro con moto bilden – Liss weicht allerdings etwas von den gewohnten Pfaden ab, indem er hier einen eigentümlichen schwingenden Unterton einbringt, der unterschwellig noch viel länger erhalten bleibt, als man das oberflächlich vermuten würde. Das planmäßige motorische Gehetze kommt noch früh genug, Ionita und Liss legen auch optisch viel Aktivität an den Tag, das Konglomerat aus Motorik und Unterbrechungen wirkt paßgenau legiert, aber nicht zu mechanisch, und nach dem zackig-knappen Schluß passiert etwas, was der Rezensent in seiner jahrzehntelangen Konzertpraxis so auch noch nicht gesehen hat: Ionita, noch voll im Energiefluß der letzten Töne, springt wie eine losgelassene Feder noch fast in den abebbenden Schlußton hinein auf und reicht Liss die Hand, noch ehe der Zeit hatte, seine Arme sinken zu lassen. Das Publikum im gut ge-, aber alles andere als überfüllten Gewandhaus spendet reichlich Applaus für den jungen Wilden, und der bedankt sich mit der Sarabande aus Bachs fünfter Cello-Solo-Suite BWV 1011, der die große Linie irgendwie etwas fehlt, aber die trotzdem eigentlich richtig schön ist. Die Schostakowitsch-Interpretationen von Andris Nelsons, die man in jüngerer Vergangenheit an gleicher Stelle mit dem Gewandhausorchester hören konnte, zeichneten sich durch eine extreme Expressivität nicht nur, aber vor allem im langsamen Tempobereich aus. Solche Extremfälle, das sei vorweggenommen, bekommen wir an diesem Abend nicht zu hören, was freilich nicht bedeuten soll, dass die Interpretation von Schostakowitschs Sinfonie Nr. 10 e-Moll op. 93, die Dmitri Liss und das MDR Sinfonieorchester an diesem Abend bieten, etwa zweitrangig, langweilig oder sonstwie uninteressant wäre. Besagte Sinfonie gehört zu den häufiger gespielten des großen Komponisten, und David Timm hatte sie beispielsweise 10 Jahre zuvor zu den Gedenkfeierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Sprengung der Leipziger Universitätskirche aufs Tapet gesetzt, wozu sich die inhaltliche Konnotation blendend eignete, handelt es sich doch quasi um Schostakowitschs Triumphsinfonie, dass er die Stalinsche Kulturbarbarei überlebt hatte. Das gesamte Konzertprogramm ist mit Bekenntnis überschrieben, und um ein bekenntnishaftes Werk handelt es sich denn auch. Im eröffnenden Moderato herrschen düstere Farben, aber Liss entwickelt unterschwellig trotzdem schon einigen Vorwärtsdrang, der vor allem aus den Celli kommt, während das liebliche Klarinettenthema etwaiger ironischer Distanzierung völlig entbehrt. Die ersten Dramatisierungen machen den Interpretationsunterschied Liss‘ und Nelsons‘ bereits mehr als deutlich: Der Russe agiert viel naturalistischer als der expressive Lette, aber trotzdem effektiv, das wühlende Kontrafagott hat große Klasse, und natürlich besitzen beide Herangehensweisen ihre volle Berechtigung. Im zentralen Ausbruch liegt bereits ein recht hoher Energiebetrag, der militärische Charakter gestaltet sich recht bedrohlich, und einige Unschärfen in den Einzelausbrüchen fallen nicht weiter ins Gewicht, zumal die Lavierung durch die endlosen düsteren Landschaften prima gelingt und im Satzschluß einiges an Spannung liegt. Satz 2, ein Allegro, das Schostakowitsch als ein musikalisches Stalin-Porträt verstanden wissen wollte, nimmt Liss in aller gebotener Grobheit wild herausfahrend und sehr akzentuiert, dazu in enormem Tempo, auch wenn die Ironisierung letztlich gar nicht so stark ausfällt wie erwartet: Eine Grundironie liegt in der Gehetztheit, aber ansonsten mutet das lärmende Bild kurioserweise eher wie eine Präzisionswaffe an, worüber sich der Hörer seine Gedanken machen darf. Viel komplexer geht es im Allegretto an dritter Satzposition zu – von der kompositorischen Anlage, aber auch von Liss‘ Lesart her. Beeindruckt zunächst der Tempokontrast zwischen den Hauptthemapassagen, fällt bald auf, dass das Flöten-Seitenthema viel mehr Ironie offenbart als der komplette zweite Satz. Es entwickelt sich eine seltsam indifferente Spannung, die sich z.B. im Solohorn manifestiert, das zwischen Wacklern und richtig beseelten Passagen changiert. Die schwierigen Kontraste zwischen Düsterspannung und Volksfestcharakter aber meistern Orchester und Dirigent erstklassig, Liss vollführt sägende Bewegungen, eine wunderbar lakonische Solovioline überzeugt in analoger Weise wie das fast vogelartig aus den Flöten herangeflogen kommende DSCH-Thema, und im Satzschluß wäre theoretisch reichlich Spannung da, würde nicht simples Bonbonpapiergeknister aus dem Publikum ebenjene praktisch zusammenfalten und in den Papierkorb der Musikgeschichte befördern. Den Andante-Beginn des vierten Satzes läßt Liss tatsächlich recht zurückhaltend spielen, ein etwaiger Entrückungsfaktor aber bleibt weitgehend aus, abgesehen vom beseelten Fagottsolo. Der Übergang ins Allegro gelingt bruchlos, das wilde Hin und Her dort stattet der Dirigent aber nicht mit einer eindeutigen Strategie aus, sondern bleibt bei Normalität im besten Sinne. Trotzdem beginnt er den Aufstieg zur ersten großen DSCH-Steigerung weit unten und schafft daher eine gewisse Linearität, ohne auf Nelsons’sche Extreme zugreifen zu müssen. So läßt sich dann auch der Energietransport im Satzschluß unter den nicht despektierlich gemeinten Begriff „Normalprogramm“ fassen, und viel Jubel im Publikum erzeugen die Beteiligten auch damit. Danach überrascht Liss‘ hierzulande kaum übliches Schema der Einzelhervorhebung der Instrumentengruppen gleich nach Werkende, dem noch eine gesonderte Streichersplittung nach dem 1. Vorhang folgt. Nach dem 2. Vorhang schließlich beginnt Liss in der Partitur zu blättern, findet das gesuchte große Schostakowitsch-Bild, hält diese Seite hoch und induziert damit den letzten großen Jubel, der so plötzlich abebbt, wie er gekommen ist – irgendwie wollen alle nach Hause und verlassen in hohem Tempo den Saal. Interessantes Konzert! Roland Ludwig |
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