Rockmusik – die laute Seite des Kirchentags (Teil 3, Samstag)
Tag 3 – Samstag, der 28. 5. 2005
Am letzten Tag habe ich die Musik etwas weiter in den Hintergrund geschoben. Der „Markt der Möglichkeiten“ war der Schwerpunkt am Vormittag, eine Messe, die sich über zwei Hallen erstreckte. Dort können Gemeinden besondere Projekte vorstellen, christliche Organisationen sich selber darstellen und und und. „Schwule Pfarrer“ und „hochkirchliche Klöster“, „Christen in der PDS“ und die „Militärseelsorge“, „Freunde der ostpreußischen Kirche“ und die „Seemannsmission“ und hunderte anderer Organisation stehen hier zum Gespräch und zur Kontaktaufnahme bereit. Beispielsweise die „Religiösen Sozialisten“, die seit 80 Jahren daran arbeiten, das Evangelium von Jesus Christus kämpferisch gegen die Schattenseiten der kapitalistischen Gesellschaft in Stellung zu bringen.
Und auch in den Messehallen merkte man: Musik ist überall. Man kann ihr nicht entkommen. Als ich mich zwischen den Ständen des Marktes in den übervollen Gängen entlang schob, fingen mich plötzlich Klänge ein, die ein wenig an die Folkies von gestern erinnerten. Das Diakonische Werk, das natürlich breit vertreten war, hatte eine Klezmer-Gruppe eingeladen.
Eine nette Überraschung. Denn der erste Musik-Event dieses Tages stand eigentlich erst um 17.30 Uhr auf meinem Programm. Und es war noch nicht einmal Mittag.
Bevor ich den Ska-Rockern accident meine Aufwartung machen konnte, hatte ich noch ein Mittagessen mit einem ehemaligen Schulfreund, einen Gang durch die Kirchentagsbuchhandlung (Umfang etwa eine Messehalle) und drei Stunden Standdienst am Stand des Evangelischen Religionsunterrichts zu absolvieren. Aber auch dabei ließ mich die Musik nie ganz allein. Vor der Halle 2, der Kirchentagsbuchhandlung, stand beispielsweise ein Leierkastenmann, der für irgendeinen guten Zweck sammelte. Genau zu meiner „Dienstzeit“ fand in der Halle, in der sich unser RU-Stand befand ein Streitgespräch zum Thema „Religion und religiöse Symbole in der Schule“ stattfand. Ein Thema, das aus Berliner Sicht besonders brennt. Nachdem die SPD/PDS-Regierung gemeinsam mit dem Kopftuch auch gleich alle anderen religiösen Symbole für öffentliche Bedienstete verboten hat, ist man derzeit dabei, dem Religionsunterricht an der Schule den Garaus zu machen.
Und dann hatte sich das lange Warten gelohnt. Pünktlich zum Konzert von accident erreichte ich die bereits völlig überfüllte Messehalle 37. Nur mein Presseausweis verschaffte mir noch die Möglichkeit unter dem neidischen Blick etlicher Wartender an der Security vorbei, die wie fast überall auf dem Messegelände von Pfadfinder gestellt wurde, in die Halle zu gelangen.
Ska und Rock hatte die seit Weihnachten 2003 bestehende Band angekündigt. Und genau das gab es im Wechsel zu hören. Rock in kleiner Besetzung. Ska wenn die Bläser mit an den Start gingen. Dabei gab es ein klares Qualitätsgefälle. Die Rockparts waren austauschbar und ließen die Temperatur im Saal merklich sinken. Aber wenn das Gebläse den Ska-Sound in die Menge blies, kochte die Menge sofort über. accident starteten wie die Talking Heads in ihrem Film Stop making Sense. Der Drummer begann alleine auf der Bühne. Einige Sekunden später stieß der Bassist dazu. Es folgte der Gitarrist, die Bläser und zu guter letzt Oliver Mally, der Sänger und unumstrittene Frontmann. Dass es bereits Sekunden nach Beginn des Konzertes voll abging, ist vor allem sein Verdienst. Äußerst professionell packte er das Publikum. Der geborene Entertainer.
Dann legte man nach – und feuerte mit “1999“ einen der besten Songs der kalifornischen Ska Legende O.C. Supertones in die Menge. Die Ska-Teile für sich genommen waren die dem Kasseler CVJM entsprungenen accident die Party-Sieger des Kirchentages, die sehr nah auf den Gesamtsieger [Earth:link] aufschließen konnten. Leider, so warnte mich Oliver vorsorglich, sind auf der Debüt-CD der Band fast nur Rock-Songs zu hören. Man habe keine Cover-Songs aufnehmen wollen. Und die Ska-Songs seien eben fast durchweg Fremdkompositionen.
Nach anderthalb Stunden schälte ich mich geschafft aus dem Raum. Das Pogen in der Menge hat mir bewiesen, dass die letzten 25 Jahre doch nicht ganz spurlos an mir vorbei gegangen sind. Aber sei’s drum. Der Spaß war es wert. Im gemäßigten Rentnerschritt schlappte ich dann über Messe- und Expo-Gelände zur Bahn, um nach hause zu fahren. Dabei musste ich wie am Vortag an der EDG-Bühne vorbei. Wieder einmal wurde mir der Reichtum des Kirchentagsangebots bewusst. Völlig unangekündigt, in keinem Programm vermerkt, wirbelte eine Latino-Band über die Bühne, die nicht nur mich, sondern eine ganze Reihe anderer Kirchentagsbesucher minutenlang fesselte, bevor sie ihren Weg von einer zur nächsten Veranstaltung fortsetzten. Wer will, kann sich einen kompletten Kirchentag an solchen ungeplanten Attraktionen festhalten.
Einen letzten Zwischenstopp hatte ich noch eingeplant. Ohne große Erwartungen zwar, aber ich hatte gelesen, dass auf der Diakoniebühne am Steintor, wo eigentlich ein Schlagerfest geplant war, kurzfristig die Allee der Kosmonauten eingesprungen war. Der derzeitige Deutschpop ist zwar nicht mein Ding, aber da die Truppe ja auch in den säkularen Medien recht angesagt ist, wollte ich die Chance nutzen, sie im relativ kleinen Rahmen – Das Konzert war ja kaum angekündigt. – zu erleben.
Reichlich vor dem Konzert war ich da. Gespräche mit den Musikern waren nicht drin. Das erste Mal war der Backstage-Bereich, wenn man das beim Kirchentag überhaupt so nennen darf, auch mit Presseausweis dicht. Schuld daran war nicht die Arroganz der Shooting Stars, sondern das Medien-Interesse. Journalisten, noch wichtiger als ich, waren mit Kamera und Mikrofon dabei, den Musikern vor dem Auftritt zu Leibe zu rücken. Da ich nun auch nicht so interessiert war, ging ich zum nächsten Dönerstand und widmete mich vor dem Auftritt meinem Magen. Dann suchte ich einen Kiosk in der Nähe auf, um auch etwas für die ausgetrocknete Kehle zu tun und bevorratete mich für das Konzert.
Fast schon bewusst gelangweilt und desinteressiert näherte ich mich wieder dem Ort des Geschehens, wo sich nun bereits Sänger Mischa Martin und Drummer Jott Fürwitt, die den Kern der Kosmonauten bilden, gemeinsam mit vier weiteren Herren an insgesamt 16 Saiten und etlichen Tasten auf der Bühne befanden. Dass diese Herren erst einmal namenlos bleiben, ist kein Zufall, sondern bezeichnend. Die Allee der Kosmonauten, so verriet es mir der Herr der Tasten nach dem Konzert, ist keine Band im eigentlichen Sinn, sondern ein Projekt von Mischa und Jott, das noch mit wechselnden Musikern arbeitet.
Vor diesen Infos stand aber das Konzert, das mich zwar nicht in Euphorie versetzte, aber doch mehr packte, als ich erwartet hatte. Mischa und Co haben Charisma und können sich prima verkaufen. Manche dramatische Momente werden zwar etwas simple über Wiederholungen erzielt, aber as tut der Wirkung keinen Abbruch. Und mit Songs wie dem anscheinend an Van Halens “Jump“ angelehnte “Wenn sie tanzt“ kann man auch Rock-Fans wie mich um den Finger wickeln. Zu gute kam der Truppe natürlich auch die Fähigkeit, wirklich professionell zu agieren.
Beeindruckend aber war vor allem Frontmann und Mädchenschwarm Mischa, der zwischen den Texten predigte, missionierte und Bibeltexte rezitierte. Man merkte, dass hier nichts Angelesenes verbreitet wurde. Misch sprach aus dem eigenen Leben, das nicht immer so fromm gewesen ist. Er sei vor dem Konzert am Steintor herumgegangen, erzählte er plötzlich. Und er habe sich die Gegend angesehen. Ein türkisches (islamisches) Wohnviertel auf der einen Seite; ein Rotlichtviertel gegenüber. Solche Gegenden kenne er gut. Käufliche Liebe, Alkohol und Drogen sind ihm nicht fremd, deutete er an. Aber er habe einen neuen Weg gefunden – und von dem erzähle er nun, sagte er. Es war spannend dabei in die Gesichter von den Menschen zu schauen, die nicht wegen des Krchentags da waren, sondern zu den regulären Nutzern des Steintor-Viertels gehörten. Die Band stamme aus dem Umfeld einer Freien Evangelischen und einer Baptisten-Gemeinde erklärte mir der Keyboarder hinterher. Und Misch predige nicht nur auf dem Kirchentag, beantworte er eine entsprechende Frage. Er könne gar nicht anders. Egal ob man auf säkularen Festivals oder im Sportstudio auftrete, Mische sei so voll davon, dass er gar nicht anders könne, als von Gott, Jesus und seinem Glauben zu reden.
Ein denkwürdiger Abschluss des Kirchentags. So ist er gedacht – nicht als Selbstbestätigung für Inner Circle-Christen, sondern als leuchtendes Signal in die Gesellschaft hinein. “Ihr sollt euer Licht nicht unter den Scheffel stellen,“ hat schon Jesus gesagt. Und somit waren die Leuchttürme des Mittwoch abends im übertragenen Sinn bis zum Ende des Kirchentags überall in Hannover zu sehen und zu hören. Zu Christus brauchte mich Mischa zwar nicht mehr zu bekehren. Aber vielleicht hat er mich für die Allee der Kosmonauten gewonnen. Demnächst werde ich die CD bekommen. Dann wird man sehen. (www.alleederkosmonauten.de)
Den Abschlussgottesdienst des Kirchentags habe ich mir gespart. Während 200.000 auf das Abendmahl warteten fuhr ich am Sonntag schon wieder Richtung Berlin – die Musik von Charisma, accident, Eileen Q, C.braz und anderen im Kopfhörer.
Norbert von Fransecky
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