Ligeti, G. (Chen, H.)
Etüden
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Info |
Musikrichtung:
Neue Musik / Klavier
VÖ: 26.05.2023
(Naxos / Naxos / CD / DDD / 2022 / 8.574397)
Gesamtspielzeit: 62:27
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DIE MAGIE DES UNMÖGLICHEN
Die 18 Klavieretüden, die György Ligeti von 1985 bis 2001 komponiert hat, galten bei ihrem ersten Erscheinen noch als unspielbar. In ihnen geht die klassische Etüden-Pianistik aus dem Geist von Scarlatti, Chopin, Scriabin oder Debussy mit der Musik außereuropäischer Kulturen (z. B. afrikanische Trommeln, indonesisches Gamelan), den metrischen Experimenten der mittelalterlichen Musik, dem Flow des neuzeitlichen Jazz und der Minimalmusic sowie den Mustern fraktaler Geometrie eine fantastische Synthese ein. Damit hat Ligeti ein neues Kapitel der traditionellen Klaviermusik aufgeschlagen. Inzwischen gehören seine "Études" zum pianistischen Kanon und sind unter anderem in den Aufnahmen von Fredrik Ullén, Pierre-Laurent Aimard, Erika Haase oder zuletzt Danny Driver sowie Cathy Krier dokumentiert – und dies oft auch auf maßstabsetzende Weise.
Nun folgt zum 100. Geburtstag des Komponisten der chinesische Pianist Han Chen auf dem Label NAXOS und spielt sich gleich an die Spitze der illustren Kolleginnen und Kollegen.
Zum einen meistert Chen die spieltechnisch die vom Komponisten geforderten fingerbrecherischen Tempi mit Bravour: Klar, durchhörbar und präsent klingen sämtliche Kompositionen und der temporeiche Zugriff bei den schnellen Stücken beweist noch mal, dass die illusionistischen polyrhythmischen Effekte vor allem eine Sache des richtigen Timings und eben der entsprechenden Geschwindigkeit sind.
Erst dann hebt die Musik so richtig ab und man fragt sich, wie so etwas mit "nur" zehn Fingern möglich sein soll. Oft genug glaubt man nämlich, wenigstens 20 zu hören. Selten hat man gleich die Nr. 1, „Désordre“, mit ihren von irregulären Akzenten überlagerten Pulsationen mal so präzise und, nun ja, eingängige Weise chaotisch gehört. Die sich überlagernden Spiral-Kaskaden des extrem schweren "Vertige" wirken bei Chen mühelos, nicht weniger die aufbrausenden, sich scheinbar ins Unendliche aufwerfenden Wellen der Nr. 14, "Conlonna infinita", die Chen zudem in ihrer noch komplexeren Urfassung "Coloana fara sfârsit" als Dreingabe bietet, als wäre das alles nichts. Auch die hochexpressive Nr. 6 „Automne à Varsovie“ entwickelt ihre tragische Unausweichlichkeit vor allem dann, wenn das Stück so wie hier eher rasch genommen wird: Der finale Sturz in den schwarzen Abgrund der tiefen Register hat bei Chen eine ungemeine Wucht.
Zum anderen frappiert bei diesem Interpreten auch die Poesie des Spiels. Erst der "menschliche Faktor" und das Verständnis ihrer changierenden Schönheiten und Geheimnisse sorgen bei diesen Stücken dafür, dass die Musik jenseits des Spektakulären auch emotional unter die Haut geht. Chen vergisst nie, dass es Ligeti stets auch um Atmosphäre und assoziationsreiche Imagination ging, um surreale Wunderwelten und die Magie des Vieldeutigen. Und zuletzt auch um eine gewisse Melancholie und Traurigkeit im Wissen um die Endlichkeit und die unlösbaren Rätsel in der Musik wie im Leben.
Nicht wenige Stücke sind zudem ganz oder in Teilen auch bewusst langsam komponiert, kultivieren eine sublime Harmonik jenseits von Tonalität und Atonalität. Der weite Atem und das Verweilen im Klang bei "Cordes à vide", "Arc-en-ciel" oder den ausgeprägten "Andante"-Teilen der letzten Etüden sind bei Chen ebenso gegeben wie die feine Justierung der internen Dramatik bei den virtuosen Paradestücken.
Zwei Capriccii aus dem Jahr 1947 fungieren als Zugaben und zeigen, wie sehr der späte Ligeti mit den Etüden zu seinen ungarischen Anfängen zurückkehrt, ohne sich zu wiederholen. Das Alte ist im Neuem bei ihm aufgehoben, offen zur Zukunft – und sei es als eine Frage, die am Ende unbeantwortet bleibt.
Georg Henkel
Trackliste |
Études Buch 1, 2 & 3
Capriccios Nr. 1 & 2 |
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Besetzung |
Han Chen, Klavier
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