Scarlatti, A. / Händel, G.F. / Monteverdi, C. (Lindsey)
Tiranno
DIE FRAU DER TAUSEND FARBEN
Viel Raum für Dramatik und Emotionen, damit auch Stoff für Opern und Kantaten, bietet seit jeher die Geschichte um den größenwahnsinnigen Kaiser Nero, seine inzestuöse Beziehung zu seiner Mutter Agrippina, seine gewaltsam endende Ehe mit seiner ersten Frau Octavia und seine Affäre mit der bildschönen und nicht minder skrupellosen Poppea (die am Ende ebenfalls einer Gewalttat Neros zum Opfer fiel). Ein gefundenes Fressen für eine derart wandlungsfähige Sängerin wie die Mezzosopranistin Kate Lindsey. Widmete sie sich auf ihrem Erfolgsalbum vom vergangenen Jahr (Arianna) dem Mythos der Ariadne quer durch die Musikgeschichte, kann sie hier nun also mal als Agrippina, mal als Poppea und nicht zuletzt als Nero höchstselbst leiden, fluchen, in Liebesrausch versinken und am Rande des Wahnsinns toben bzw. taumeln.
Erstaunlich, dass dabei mit Alessandro Scarlattis Kantate "La morte di Nerone" sogar eine Weltersteinspielung vorliegt, denn das Stück passt als Parallelwerk hervorragend zu seinem "Il Nerone", bietet aber ganz andere Facetten und eine Fülle erlesenster Affektmalereien. Ebenfalls der Vergessenheit entrissen wurde Bartolomeo Monaris (1662-1697) "La Poppea", das mit einigen bizarren tonartlichen Effekten aufwartet und auch jenseits dessen der Wiederentdeckung wert ist. Händels "Agrippina condotta a morire" ist ein wenig bekannter und diente dem Komponisten später selbst als Steinbruch, nicht zuletzt für eine Opern. Schließlich dürfen natürlich Auszüge aus Claudio Monteverdies "L´incoronazione di Poppea" nicht fehlen, denn ergreifender und raffinierter ist der Stoff nie wieder vertont worden.
So reist man im Laufe des Albums durch knapp 70 Jahre barocker Musikgeschichte und genießt dabei auch mit den kantatenhaften Szenen so etwas wie fünf "Opern" in 75 Minuten. Dafür, dass es ein echter Genuss ist, sorgt Kate Lindsey mit ihrer verblüffenden Vielzahl stimmfarblicher Nuancen und Schattierungen sowie mit einer konsequent von den emotionalen Wechselbädern der verkörperten Figuren her entwickelten Ausgestaltung bis in die kleinste Silbe hinein. Da ist vom kindlich-naiven Wahnsinn bis zur Raserei alles dabei, vor allem aber vollziehen sich die Wechsel auch innerhalb einer Arie, ja teils innerhalb eines Taktes so bruchlos wie blitzschnell - die Stimmung kippt, alles erscheint labil und als stete Gratwanderung. Nur die Tongebung selbst wird von dieser Labilität nie erfasst, sondern bleibt durch sämtliche Lagen klangschön und souverän. Zugleich vermeidet Lindsey alle Manierismen, denn es gibt keinerlei Effekt um des Effektes willen. Alles ist Mittel zur Figurenzeichnung, so dass die Personen eine atemberaubende Plastizität und psychologische Tiefenschärfe erhalten. Kein Wunder, dass einem da durchaus beim Zuhören auch einmal der kalte Schauer über den Rücken läuft.
Das kleine Ensemble Arcangelo versieht den Instrumentalpart so kraftvoll wie ausdrucksstark.
Ein Album, das dem Titel gemäß seine ganz eigene Tyrannei entfaltet: weil es schlicht süchtig macht.
Sven Kerkhoff
Trackliste |
A. Scarlatti: Il Nerone (1698?)
G.F. Händel: Agrippina condotto a moriere, HWV 110 (c. 1707-09)
C. Monteverdi: L´incoronazione di Poppea (1643)
B. Monari: La Poppea (1685)
A. Scralatti: La morte di nerone (c. 1690?) |
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Besetzung |
Kate Lindey: Mezzosopran
Nardus Williams: Sopran
Andrew Staples: Tenor
Arcangelo
Jonathan Cohen: Ltg.
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