Popeye bei Sonnenaufgang heimatlos: Pascal „Raskal“ Clair arbeitet 40 Jahre französische Metalgeschichte in Texten und Dokumenten auf




Info
Autor: Pascal „Raskal“ Clair

Titel: Made In France – 40 Years Of Metal 1976–2016 – Best-Of: Illustrations, Photos, Covers, Texts

Verlag: Eigenproduktion

Preis: € 15

120 Seiten

Internet:
http://www.metal-integral.org

Die bisherigen Ausgaben des Made In France-Buchprojektes, also die Editionen der Jahre 2001, 2003 und 2008, umfaßten jeweils einen Mix aus lexikalischen und anders gearteten Teilen. Das hat sich mit der aktuellen Ausgabe 2020 grundlegend geändert, denn aufgrund der inhaltlichen Fülle und des extrem gewachsenen Lexikon-Teils entschied sich Autor Pascal „Raskal“ Clair für eine Zweiteilung. Das Lexikon ist also jetzt wirklich ein reines Nachschlagewerk, und dazu gibt es einen unabhängigen „Prosaband“, den Raskal mit dem Titel Best-Of versehen hat – und das trifft strukturell auch genau ins Schwarze, denn hier gibt es eine Auswahl von Texten und anderen Materialien, die schon in den ersten drei Editionen vertreten waren.
Zu beachten ist allerdings eins: Die Ausgaben 2001 und 2003 waren nur in Französisch erschienen, die 2008er hingegen gab es in einer französischen und einer englischen Edition. Das Best-Of-Buch nun mixt Inhalte in beiden Sprachen, wobei naturgemäß alles aus den ersten beiden in Französisch gehalten ist. Vom Gesamtumfang her nehmen diese ganz alten Materialien aber summiert nur ein Viertel ein, und zwar gibt es jeweils die Einführung, einen zeitaktuellen Szenereport sowie ein breites Sammelsurium an Abbildungen, sowohl Bandfotos als auch Flyer, Plakate, Polls und nicht zuletzt diverse Coverabbildungen, darunter eine Doppelseite mit Fanzines, unter denen eins mit dem ungewöhnlichen Namen Schlag ins Auge sticht – in der abgebildeten Nullnummer ging es außer ums 1985er Festival im belgischen Poperinge unter anderem um ADX, Exodus und eine Band namens Heimatlos. Außerdem gibt es ein Plakat- oder Flyermotiv zum Festival d’Albi am 18. Juli 1986, bei dem die legendären gottesfürchtigen US-Amerikaner Joshua als Headliner auftraten – das dürfte im Rahmen ihrer nicht minder legendären Europatour zum Surrender-Album gewesen sein, die sie mit einem Interrail-Ticket (!) bestritten und auf der sie mit dem Produzenten Dieter Dierks in Verbindung kamen, mit dem sie dann das Folgealbum Intense Defense einspielten – zwei Scheiben, die heute als Klassiker des melodischen Hardrock gelten.
Das Gros des Buches widmet sich Stoff aus dem 2008er Band, und hier mischen sich dann französische und englische Texte, wobei erstere in der Mehrzahl sind, aber auch für den Nicht-Französisch-Sprecher mancherlei Interessantes am Start sein sollte. Von zentraler Bedeutung ist vor allem der große Überblick über die Entwicklung der französischen Hardrock- und Metalszene zwischen 1976 und 2008, den man in beiden Sprachen nachlesen kann, wobei eine etwas unglückliche Übersetzung auf S. 35 dazu führt, dass der englische Text Accept plötzlich in England verortet. Hochinteressant ist der Aspekt, dass die Revitalisierung der Traditionsmetalszene Frankreichs in den Neunzigern zwar auch von HammerFall geprägt wurde, in noch stärkerer Weise (und zudem etwas früher) aber von den Brasilianern Angra, die beim damals führenden französischen Indie-Metal-Label NTS unter Vertrag standen und in Frankreich extrem populär gewesen sein müssen – der Mitschnitt der Live-EP Holy Live in unserem westlichen Nachbarland war also kein Zufall.

Als nächstes folgt ein ausführlicher französischer Bericht über das Explosion-Métallique-Festival, das Raskal selbst veranstaltete – als 20-Jähriger „Business-Neuling“ im Februar 1985 in einem Alpenort namens Chambéry, und am Konzerttag fing es auch noch an zu schneien. Es kamen trotzdem 600 Leute, und das Ganze wurde zum Erfolg, der auch mit zahlreichen Fotos und anderen Dokumenten dargestellt wird, und damit die Nicht-Französisch-Sprachigen die Freude am Erfolg teilen können, bekommen sie eine einseitige Zusammenfassung in Englisch. Über die Geschehnisse rund um das erste französische Metalfestival, das Sunrise in Mulhouse am 10. und 11.09.1983, gibt es abermals einen ausführlichen französischen Bericht, zahlreiche Dokumentabbildungen und eine Kurzzusammenfassung in Englisch, was geschah: Die erste Band, die auf den Flyern und Plakaten noch nicht mal angekündigten Holländer Blackout, spielten, und danach mußte das Festival (mit den beiden Tagesheadlinern Black Sabbath – das war im Rahmen der sowieso vom Pech verfolgten Tour mit Ian Gillan zum Born Again-Album – und Blue Öyster Cult) abgebrochen werden, weil ein Unwetter die Bühnentechnik zerstörte.
Einem kurzen Report über Raskals eigene Band Black Shock (die ein Demo mit einer Strichzeichnung als Cover herausbrachten, auf der ein Berg, das Bandlogo in ausführlicher Form sowie als dreidimensionales Kürzel, vier kleine Nadelbäume und ein von hinter dem Berg hervor schallender Ruf „Hoooooo...“ zu sehen sind) folgen einige Interviews bzw. Tonträgerreviews mit bzw. über französische(n) Bands in englischsprachigen Fanzines, darunter ein legendärer Verriß von Der Kaiser aus der Feder von Dave Reynolds. Die letzten 25 Seiten gehören Bildergalerien: Bandfotos, abermals Zinecover, Democover, CD-Cover (darunter nun endlich auch das legendäre zu Titans Popeye Le Road), Single-Cover, Plakate, Flyer, Annoncen und alle möglichen anderen Memorabilien gestalten ein abwechslungsreiches Bild der französischen Metalszene. Das Adjektiv „farbigen“ hätte nur bedingt in diesen Satz gepaßt, denn alles ist leider nur in Schwarz-Weiß gehalten, was für die historischen Materialien zwar durchaus passend ist, aber denen aus der jüngeren Vergangenheit (zumal die Bilder offenkundig nicht oder zumindest nicht durchgängig für den Schwarzweißdruck optimiert wurden) etwas an Aussagekraft raubt. Da bleibt für die nächste Ausgabe also noch etwas Steigerungspotential. Grundsätzlich aber ermöglicht auch dieser Band interessante Einblicke in die metallische Szenegeschichte unseres westlichen Nachbarlandes, wenngleich der Reiz für den der französischen Sprache mächtigen Leser im Direktvergleich ein Stück ausgeprägter ist als für denjenigen, der sich diese Sprache allenfalls im verstehenden Lesen zu erschließen versuchen kann.

Zum Rezensionszeitpunkt sind beide Made In France-Bände in Deutschland u.a. über den Shop von High Roller Records bestellbar. Sollten sie eines Tages vergriffen sein oder andere Fragen bestehen, wende man sich am besten direkt an den Autor.


Roland Ludwig



 << 
Zurück zur Artikelübersicht
 >>