Vergessene Alliteration: Das Philharmonische Orchester Altenburg-Gera bringt Mendelssohn, Medek, Marimba und Mathis den Maler zusammen
„Wider das Vergessen“ heißt eine Veranstaltungsreihe des Altenburg-Geraer Theaters, die sich der Pflege von Repertoire widmet, das in der Vergangenheit aus verschiedenen Gründen ins Hintertreffen geraten war. Die drei Komponisten im Programm des 7. Sinfoniekonzerts des hauseigenen Orchesters in der Saison 2023/24 hatten allesamt mit politischen Mißhelligkeiten zu tun. Dem ersten blieb zumindest der größte Teil der Mißhelligkeiten zu Lebzeiten erspart – als sein Werk von den Nationalsozialisten verboten wurde, war Felix Mendelssohn Bartholdy schon fast ein Jahrhundert tot, und auch einen Großteil der antijüdischen Angriffe auf sein Schaffen, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts anschwellend, erlebte er nicht mehr mit. Zu hören ist an diesem Abend seine Ouvertüre op. 26 „Die Hebriden“, alternativ unter dem Titel „Die Fingalshöhle“ segelnd, die der Rezensent kurioserweise eine Woche später gleich nochmal hören wird, dann im Gewandhaus mit dem Santa Monica High School Symphony Orchestra. Wie dort Jim Wang wählt auch in Gera Marco Parisotto ein breites, aber durchaus nicht schleppendes Tempo, und einige der Tutti laufen tatsächlich so weit ineinander, dass man wähnen könnte, in der alternativtitelgebenden Höhle zu stehen. Kurioserweise bleiben an beiden Abenden die Bläser irgendwie Fremdkörper im Geschehen, dafür freut man sich in Gera über die schönen Streicherwelten, und den Naturalismus bekommen auch beide Orchester hin. Parisotto dirigiert mit sehr ausladenden Gesten, nimmt die Verharrungen relativ weit zurück – aber den letzten Verzauberungsfaktor muß er schuldig bleiben, wird jedoch trotzdem mit erstaunlich ausdauerndem Applaus belohnt. Tilo Medek fuhr in der DDR eine gleichermaßen eigenartige wie für so manchen Kollegen gleichfalls typische Strategie – er schuf Werke zu systemkonformen Themen, suchte sich aber auch Nischen. Trotzdem oder gerade deshalb mußte er 1977 die DDR verlassen, zumal er sich gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns ausgesprochen hatte, was zu dem Kuriosum führte, dass sein Konzert für Marimbaphon und Orchester zwar in der DDR komponiert wurde und 1976 auch eine Rundfunkproduktion entstand, seine Erstsendung und die Uraufführung vor Publikum aber 1978 bzw. 1980 in der BRD stattfanden. Auch nach 1989 hat das Werk keine sonderlich große Verbreitung gefunden. An der Musik kann’s nicht gelegen haben bzw. liegen – da sind sich gute Teile des Publikums nach der Aufführung in Gera einig. Um den ersten Satz zu verstehen, ist es allerdings nutzbringend, vorher das Programmheft gelesen zu haben. Der heißt nämlich „Alleingang“, und daraus erklärt sich, wieso der Marimba-Solist Richard Putz (Foto) und das Philharmonische Orchester Altenburg-Gera in diesem Satz gefühlt nicht zu einem Miteinander finden dürfen, sondern jeder seinen Stiefel herunterspielt. Putz, der rechts unterhalb des Dirigentenpultes steht, beginnt mit einem langen Solo, das er quasi aus dem Nichts holt und große Dynamik aufbaut, während das Orchester lange Zeit nur monotone Akkorde einwirft. Als sich seine Aufgaben dann weiten, fällt schnell auf, dass es im tonalen Bereich bleibt – von den „typischen“ atonalen Experimenten des späten 20. Jahrhunderts hält sich Medek fern. Spannung kommt in diesem Satz besonders dann auf, wenn Putz im Pianissimo agiert, und zudem kann man mit Interesse beobachten, wie die Schlägel mit den unterschiedlich farbigen Köpfen auch unterschiedliche Sounds ergeben – so weit im Vordergrund erlebt man einen Marimba-Spieler ja sonst praktisch nie, und die unterschiedlichen Farben zeigen unterschiedliche Härten der Schlägelköpfe an, woraus die erwähnten Soundunterschiede resultieren. Die Coda des Satzes bestreitet dann das Orchester allein, und dieses schleppende Solo besitzt eine beeindruckend fahle Farbe. Das „Stilleben“ an zweiter Satzposition bietet immer wieder choralartige Ansätze, wobei Putz oft recht düster agiert. Das Tempo ist passenderweise schleppend, nur wenige Ausbrüche setzen Kontrapunkte. In diesem Satz aber fällt auf, dass der Solist und das Orchester nunmehr viel intensiver dialogisch arbeiten – der „Alleingang“ ist offenkundig vorbei. Den „Einschluß“ eröffnet ein dramatisch-finsteres Intro aus Pauken und Blech, bevor Putz wieder soliert und gekonnt mit dem Nachhall der extrem tiefen Töne seines Instruments spielt. Aus dem Orchester kommt abermals viel Dramatik, beispielsweise mit wild sägenden Celli, es geht generell recht wüst zu, Putz spielt auch mal mit den Griffen der Schlägel – und plötzlich macht sich ein wunderbar relaxter Groove bemerkbar, vielleicht der titelgebende Einschluß. Die Finaldramatik steigert das zuvor Gehörte jedenfalls nicht, sondern reproduziert sie „nur“. „Ein DDR-Bürger (nicht) in Amerika“ lautet der hintersinnige Titel des Finalsatzes, der gleich mehrere Meta-Ebenen auffährt. Medek mixt hier spätromantische Melodien mit amerikanischem Groove, so dass selbst die 75jährige Besucherin zwei Plätze rechts neben dem Rezensenten mit Kopfnicken beginnt. Der Ritt durch die Musikgeschichte zitiert aber auch Bach (gleich zu Beginn des Marimba-Solos) und springt munter hin und her, ehe das Orchester völlig überraschend einen traditionellen Triumphpart auffährt. Den gibt es dann nochmal, aber mit Marimba – und man staunt zum wiederholten Male, wie gut man dieses beispielsweise in der BigBand gern ins klangliche Abseits gestellte Instrument im transparenten Sound dieses Abends durchhören kann. Nach dem witzigen Schluß bricht das Publikum in intensiven Applaus aus und bekommt eine Zugabe von Putz – natürlich auch nichts von der Stange, sondern ein eigenes Arrangement von „Structure In Emotion“, einem Song des israelischen Jazzbassisten Avishai Cohen. Und der Marimbaspieler hat eine beeindruckende polyphone Umsetzung geschaffen, hält das Tempo weit unten, aber mit Vorwärtsdrang – feiner Abschluß eines hochinteressanten Programmpunktes: Schlagzeugkonzerte sind ja seit einigen Jahren sehr in Mode gekommen, und obwohl man Medeks Werk anhört, dass es aus den Siebzigern stammt und keins aus der aktuellen Welle etwa von Widmungskompositionen für Martin Grubinger ist, so lohnt sich seine Wiederentdeckung doch definitiv. Paul Hindemith wurde von einigen nationalsozialistischen Größen durchaus geschätzt, aber letztlich bewahrte ihn das nicht vor der Einstufung als entartet und zudem „jüdisch versippt“, so dass er Deutschland verließ. Seine Sinfonie „Mathis der Maler“ stellt ein „Nebenprodukt“ der gleichnamigen Oper über den Maler Matthias Grünewald dar, und kurioserweise hat der Rezensent dieses nicht gar zu häufig gespielte Werk erst zwei Monate zuvor mit dem Sinfonieorchester der Leipziger Musikhochschule gehört. Das „Engelkonzert“, das zugleich die Opernouvertüre darstellt, fällt durch eine recht indifferente Einleitung auf, und Parisotto läßt auch das Tutti kaum strahlen, legt aber einen gekonnten Pfad durch die kleinteilige Weiterentwicklung, die sich ouvertürentypisch quer durch die Themen der Oper holzt, und hält auch die schnelleren Tempi durchaus überschaubar. Die Hörner erweisen sich phasenweise als etwas anfällig, was besser werden muß und auch besser wird: Die Strategie des italienischen Dirigenten sieht zwar nach wie vor keine strahlenden Tutti vor, aber eine silbrig glänzende Hinleitung zu einem goldenen Satzfinale. Die „Grablegung“ an zweiter Stelle nimmt der Dirigent fahl, aber nicht tieftraurig, und das Voranschreiten erfolgt zwar langsam, aber mit unwiderstehlichem Drive. Das Holz liefert einige prächtige Soli, und Parisotto entwickelt den relativ kurzen Satz in Richtung Finale mit großer Behutsamkeit. Die „Versuchung des heiligen Antonius“ ist der letzte und auch längste Satz des Werkes. Die spannungsvoll-drängende Entwicklung hin zu den jeweiligen Tuttiausbrüchen überzeugt, wobei die „nachhallende“ kleine Trommel immer wieder auffällt. Parisotto wählt ein recht zügiges Grundtempo, weiß aber, wann er bremsen muß, um den feisten Blechchorälen ihre volle Wirkmächtigkeit einzuräumen. Der ruhige Mittelteil wird von Trillern aus den Violinen eingeleitet, die ein wenig brauchen, bis sie die angestrebte sinistre Stimmung erreichen – der Kampf gegen die Versucher wogt dann aber enorm breit hin und her, freilich ohne großes Kampfgetümmel. Dramatik gibt’s erst wieder im Schlußteil, dessen Zerklüftung überschaubar bleibt, aber viel interne Dynamik atmet. Zudem bringt der Dirigent das Kunststück fertig, die fugierten Teile nicht überzubetonen, aber dennoch eine sehr klare Struktur zu transportieren. Das Blech gibt im Finale voluminös nochmal alles – und der Teil des Publikums, der das Werk nicht kennt oder kein Programmheft hat, wundert sich, wieso die anderen plötzlich zu applaudieren beginnen, obwohl ja erst drei Sätze gespielt sind. Aber das Werk hat halt im Gegensatz zu den meisten anderen Sinfonien keinen vierten, und so gibt es dann auch verdienten und lange ausdauernden Applaus von allen der in leider nur überschaubarer Kopfzahl Erschienenen. Roland Ludwig |
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