Vom christlichen Existentialismus über den Agnostizismus bis zum russischen Futurismus – all das dient in Aleksey Evdokimovs Doom Metal Lexicanum als geistiger Hintergrund
Aleksey Evdokimov bzw. Alexej Jewdokimow (je nachdem, welches Transliterationssystem man anwenden möchte) gehört offensichtlich zu den beneidenswerten Personen, die herausgefunden haben, wie ihre Tage mehr als 24 Stunden umfassen können. Der Mann ist voll berufstätig (als Ingenieur in der russischen Marine), hat Frau und Kind, schreibt für ein halbes Dutzend Magazine, davon bei zweien in verantwortlicher Redakteursfunktion, und hat so ganz nebenbei auch noch ein großformatiges Bandlexikon über seinen geliebten Doom Metal zusammengestellt, das eigentlich den nahezu doppelten Umfang hätte haben sollen, aber letztlich in etwas „abgespeckter“, freilich nicht minder beeindruckender Weise erschienen ist. Doom Metal Lexicanum heißt das Werk und stellt auf 300 A4-Seiten 364 Bands vor, wobei es pro Band normalerweise mindestens eine Coverabbildung und nicht selten auch noch ein Bandfoto zu sehen gibt. Der grundsätzliche Stil ist so klassisch, wie es klassischer nicht geht: Bandname und Herkunftsland als Überschrift, dann aber keine strukturellen Angaben, sondern gleich mit dem Text beginnend, die Gründungsbesetzung also irgendwo in den ersten Sätzen nennend und sich dann chronologisch durch die Bandgeschichte arbeitend. Die Diskographie schließt den jeweiligen Bandeintrag ab, wobei sie sich auf volle Alben beschränkt – Singles, EPs, Splits, Sampler und diverse Sonderformate werden im Text benannt, aber nicht in der Diskographie aufgezählt, was schlicht und einfach Platzgründe hat, zumal so manche Band von den genannten Sonderformaten eine gewaltige Menge aufzuweisen hat. Eine Besonderheit, die das Doom Metal Lexicanum von ähnlichen Publikationen abhebt, ist der Aspekt, dass Jewdokimow (der Rezensent als DDR-Kind entscheidet sich selbstverständlich für die ebendort üblich gewesene Transliterationsvariante) sich nicht aufs simple Nacherzählen der Bandgeschichte und das Studium von Quellen sekundärer Art beschränkt, sondern Interviewfragmente mit den Bandmitgliedern integriert, und zwar nicht etwa aus irgendwelchen Interviews von irgendwem, sondern aus von ihm höchstselbst geführten, also eine Primärquelle, wie sie puristischer nicht denkbar erscheint. Wenn man bedenkt, dass das Manuskript eigentlich knapp 600 Bands umfaßte, wird der Aspekt des Eingangsabsatzes noch einmal verdeutlicht, zumal Jewdokimow das Ganze nicht mal in seiner Muttersprache Russisch, sondern in der Fremdsprache Englisch tut. Zwar sind das zumindest teilweise keine Exklusivinterviews für das Buch, sondern solche, die für eines der Magazine entstanden sind, aber der enorme Arbeitsberg wird dadurch letztlich kaum geringer, und der Achtung vor dem Zeitmanagement des Autors tut das selbstverständlich keinen Abbruch. Für das Buch war er zudem klug genug, sich professionelle Hilfe zu holen, nämlich Mike Liassides und Tana Haugo Kawahara, die sich der sprachlichen Ausfeilung des englischen Textes widmeten. Nun ahnt jeder, dass selbst bei einem mit einem gewissen Nischendasein behafteten Genre wie dem Doom Metal die Vorstellung von 364 Bands allenfalls einen Tropfen auf einem heißen Stein bedeutet. Jewdokimow fokussiert sich daher auf Doombands klassischer Ausprägung sowie auf diejenigen, die in die psychedelische und in die Stoner-Richtung weitergegangen sind, während der Death Doom nur peripher gestreift wird und die ganz extremen Spielarten wie Funeral oder Drone Doom völlig außen vor bleiben – Jewdokimow deutet im Vorwort allerdings an, dass er mit dem Gedanken spiele, eines Tages auch für diese Sparten ein Buch zu machen, und so mancher Leser/Nutzer schließt wohl gleich den Gedanken an, dass der fleißige Autor sich ja vielleicht sogar noch zu einem zweiten Teil der Ursprungsausrichtung durchringt, mit all den zwischenzeitlich gestrichenen Formationen. Der Fokus liegt hier im Buch auf den jüngeren Vertretern – von den etwas älteren sind nur die markantesten vertreten, und auf die Urväter Black Sabbath hat Jewdokimow gleich ganz verzichtet, behandelt diese aber natürlich in der zweiseitigen Geschichte des Doom Metals, die den Bandkapiteln vorangestellt ist. Strukturelle Fragen wie etwa die religiöse Ausrichtung der Bands sind für die Auswahl irrelevant (vor dem Problem, wie mit nationalsozialistischen Genrevertretern umzugehen sei, stand der Autor offensichtlich nicht), und so gibt es im Buch zwar eine ganze Reihe von Agnostikern, aber auf der anderen Seite steht gleich als erste Band eine gottesfürchtige im Lexikon, auch noch eine deutsche: A Sickness Unto Death. Da sich am anderen Ende des Alphabets das US-amerikanische Bandprojekt Zaum befindet, erstreckt sich die geistige Reichweite des lexikalischen Teils also sozusagen vom christlichen Existentialismus Søren Kierkegaards bis zum russischen Futurismus Alexej Krutschonychs. Grundkriterium für die Aufnahme ins Buch war allerdings das Vorhandensein mindestens einer Full-Length-Platte. Den mit Abstand längsten Eintrag haben Cathedral mit reichlich sechs Seiten, gefolgt von Candlemass mit knapp fünf – aber auch den ganz kurzen, nicht mal halbseitigen Einträgen merkt man die Liebe des Autors zu seinem Sujet an, und dass Jewdokimow ein enzyklopädisches Wissen angesammelt hat, bedarf keiner näheren Erläuterung mehr. Das Englisch ist gut verständlich, und obwohl der Autor durchaus den primären Fokus auf die reine Informationsvermittlung legt, scheut er sich auch nicht vor Wertungen, wenngleich sich diese nicht in einem Punktsystem o.ä. widerspiegeln.
Einer der erbaulichsten Aspekte am Metal ist seine Globalität – auch dieser findet sich im Buch wieder, indem etliche Bands aus „exotischeren“ Ländern zum Zuge kommen. Und wer außer ein paar Spezialisten weiß schon Näheres über Bands wie Umbrarum Regni aus Paraguay? Bei den Klassikern aus seiner eigenen Heimat hatte Jewdokimow kaum Auswahlprobleme – so viele Bands der traditionellen Doom-Spielarten gibt es in Rußland gar nicht (dafür umso mehr Funeral-Doom-Bands), und so sind neben ein paar jüngeren Vertretern lediglich die Urväter Scald vertreten, während Stonehenge überraschenderweise fehlen, ebenso die kultigen Weißrussen Gods Tower. Allein für diese beiden lohnt sich ein zweiter Band durchaus ... Soweit es der Rezensent beurteilen kann, ist der Inhalt nahezu fehlerfrei (dass doch etwas durchrutscht wie fehlende Kursivformatierungen oder eine zirkelschlüssige Albumzuweisung im Kapitel über die Mexikaner Ultratumba, passiert bei einem solchen Großwerk halt mal) – interessant wäre aber vielleicht der Hinweis gewesen, dass Scalds Will Of The Gods Is A Great Power, wie die originale Kassettenaufnahme hieß, in nahezu allen seinen mittlerweile recht zahlreichen Re-Releases des „A“ beraubt wurde. Auf S. 223 ist zumindest in der dem Rezensenten vorliegenden Auflage außerdem ein kleiner Layoutfehler passiert, und der zieht sich dann in Form einer nach vorn gerückten Zeile zum Glück nicht durch den ganzen Rest des lexikalischen Teils, sondern nur bis auf S. 239, hinter welcher der Buchstabe T beginnt, wo der Fehler vermutlich auffiel und ausgeglichen wurde. Hinter dem Z kommen noch ein Interview mit Cathedral-Mastermind Lee Dorrian aus dem Jahr 2005 (der hier schrägerweise konsequent Dorian geschrieben wird, vorn im Lexikoneintrag Cathedrals aber korrekt Dorrian), eine kurze Abhandlung von Sami Hynninen (besser bekannt als Albert Witchfinder von The Reverend Bizarre) über Hexen und dunkle Magie im Doom Metal und speziell im Schaffen seiner eigenen Band sowie schließlich acht Seiten über den Einfluß von H.P. Lovecraft im Metal, speziell im Doom Metal. Alle drei Bestandteile hätte es nicht zwingend gebraucht, aber sie mögen ihre Leser finden. Für Freunde der gepflegten metallischen Geschwindigkeitsunterschreitung ein Pflichtbuch, zumal es derzeit keinerlei Alternativen am Markt zu geben scheint (Garry Sharpe-Youngs A–Z Of Doom And Stoner Metal stammt vom Anfang dieses Jahrtausends und ist mittlerweile selbst antiquarisch kaum noch zu bekommen). Bei dem einen oder anderen gut sortierten Mailorder könnte noch ein Exemplar des Doom Metal Lexicanum aufzutreiben sein (im Nuclear-Blast-Shop, wo der Rezensent sein Exemplar erworben hat, ist zum Rezensionszeitpunkt allerdings keins mehr verfügbar), ansonsten bleibt nur noch eine Bestellung direkt über die Cult-Never-Dies-Homepage. Und ein aktueller Blick auf die Facebookseite erfreut tatsächlich mit der Kunde, dass das Buch keine Eintagsfliege bleiben wird, sondern den Auftakt zu einer Reihe bildet wird, so dass sich die oben genannte Andeutung also tatsächlich bewahrheitet und das Herz des geneigten Doom-Anhängers höher, äh, langsamer schlagen dürfte: Noch im Jahr 2020 sollen gleich zwei (!) weitere Bände erscheinen. Roland Ludwig |
|
|
|