Messiaen, O. (Aimard, P.-L.)

Catalogue d‘Oiseaux


Info
Musikrichtung: Neue Musik Klavier

VÖ: 31.03.2018

(Pentatone / Naxos / 3 SACD hybrid + 1 DVD / 2017 / Best. Nr. PTC 5186 670)

Gesamtspielzeit: 152:51



FREUDE UND MELANCHOLIE

Öffnet man diese SACD-Box mit Olivier Messiaens (1908-1992) monumentalem Klavierzyklus Catalogue d’Oiseaux, dann fallen einem zunächst zwei Vogelfedern entgegen - was für eine charmante Idee! Dabei sollte man sich aber nicht der Vorstellung hingeben, dass die von der Natur und den Gesängen der Vögel inspirierte Musik auf diesen drei SACDs einfach nur irgendwie hübsch ist. Für Messiaen war die Natur dynamisch, mysteriös und erhaben: im Zartesten und Gewaltigsten ein grandioser Ausdruck von Gottes Schöpferkraft.

Die sieben Hefte mit insgesamt 13 Stücken entstanden zwischen 1955 und 1958. Mitten in der Hochzeit des abstrakten Serialismus komponierte Messiaen eine sehr konkrete Naturmusik, deren Hauptmaterial der Gesang von Vögeln seiner französischen Heimat ist: Alpendohle, Loriot, Uhu, Kalanderlerche, Teichrohrsänger, Bussard und Großer Brachvogel heißen z. B. die großen Solisten, denen der Komponist unermüdlich in der Natur lauschte und deren Gesänge er minuziös notierte, wieder und wieder, um aus dem so gewonnenen Material ein ideales Porträt entstehen zu lassen.
Dabei werden nicht nur der jeweils titelgebende Vogel vorgestellt, sondern auch andere „begleitende“ Sänger und Tier- oder Insektenlaute, die Landschaft, die Tageszeit, das Licht und die Farben schlagen sich in der Musik nieder. Zweimal klingt sogar von Ferne Menschlärm herein, am eindruckvollsten das Nebelhorn im letzten Stücke „Der Brachvogel“. Interessanterweise führt das mitunter zu Texturen, die ähnlich komplex und rhapsodisch sind, wie die Musik, die damals in Köln, Darmstadt und Donaueschingen die Musikwelt aufmischte. Und dann wieder ist der Catalogue ganz anders: sinnlich, mystisch, verspielt, in schönsten Farb-Harmonien schwelgend. Keine abstrakte Materialstudie, sondern ekstatische Naturbeschwörung.
Für Messiaen waren die Vögel die "kleinen Boten immaterieller Freude". Zwar fehlt anders als sonst bei Messiaen ein ausdrücklicher religiöser Bezug. Doch geht man sicherlich nicht fehl, den Catalogue als eine Naturmeditation zu hören: Gott verherrlicht sich in seinen musikalischten Schöpfungen, den Vögeln.

Messiaens Hauptinteresse gilt Rhythmus und Klangfarbe; formal besteht seine Musik meist aus der strophen- oder refrainartigen Montage ganz unterschiedlich „gefärbter“ Blöcke. Es findet keine Verarbeitung statt, es gibt nur Variationen des in der Natur Gefundenen oder Erlebten. Dabei stehen ergreifend atmosphärische Naturimpressionen in der Nachfolge Debussys neben verwickelten „Konzerten“ einzelner oder mehrere Vögel, deren nichttemperierte Klangfarbenmelodien und hochkomplizierte Rhythmen Messiaen ingeniös auf das Klavier übertragen hat. Im einen Moment verweilt der Komponist bei der unheimlichen Dunkelheit der Nacht, die mit wuchtigsten, wirklich pechschwarzen Tonkomplexen herandrängt, im nächsten Moment vernimmt man das befremdliche Quaken von Fröschen, um danach in einer aufsteigenden Linie farbiger Tonkomplexe das Farbspiel des beginnenden Sonnenaufgang zu gewahren, bevor unvermittelt Gesänge verschiedener Vögel - Amsel, Rotkehlchen, Zaunkönig - den aufziehenden Tag musikalisch begrüßen. Zum Glück gibt es vom Komponisten ausführliche Kommentare und es ist mit ihrer Hilfe tatsächlich möglich, den Stücken zu folgen.

Dem Interpreten wird ein Höchstmaß an technischer Meisterschaft und Einfühlungsvermögen abverlangt. Die bloße Ausführung der Noten, und mag sie noch so korrekt sein, kann völlig unpoetisch und tot wirken, wenn sie nicht innerlich von eigenem Naturerleben befruchtet ist. Im Grunde muss man sich mit den originalen Vogelgesänge einmal wirklich intensiv beschäftigt haben, um ein Gespür dafür zu bekommen, wie so etwas klingt.

Nun hat sich Pierre-Laurent Aimard des Zyklus angenommen, ein erwiesener Neue-Musik- und Messiaen-Experte, der mit Messiaen persönlich befreundet war. Seine tiefe Vertrautheit mit der Sprache Messiaens und sein stupendes pianistisches Können versetzen den Hörer gleichsam auf den ersten Ton in Messiaens poetisches Spiel der Naturkräfte. Angesichts der fortschreitenden menschengemachten Zerstörung der natürlichen Lebensräume und der Ausrottung inzwischen selbst von sogenannten Allerweltsvögeln hört man diese Musik heute auch mit einer gewissen Trauer: Messiaens Zyklus scheint zum Requiem der von ihm bewunderten Spezies werden.
Auch Aimard scheint dies so zu sehen: Bei aller Natur-Herrlichkeit schwingt doch gewisser melancholischer Ton in seiner Darstellung mit. Manche Momente sind von einer ergreifenden, zebrechlichen Zartheit. Während z. B. Anatol Ugorski (DG) bei seiner Einspielung die Farben sehr direkt, mitunter hymnisch strahlen lässt und den Vögeln ein unwiderstehliche Lebendigkeit und ekstatische Fröhlichkeit verleiht, dominieren bei Aimard gedämpftere Farben und ein Chiaroscuro feinster Hell-Dunkel-Schattierungen. Bei ihm steht der Zyklus deutlicher als bei Ugorski in der Tradition Debussys, während bei Ugorski mitunter George Gershwin nicht allzu fern ist (man vergleich nur beider Einspielungen von "Der Teichrohrsänger"). Aus Airmards Sensibilität erwachsenen einfühlsame und atmosphärisch dichte Impressionen vor allem bei den Nachstücken ("Der Waldkauz", "Die Heidelerche" und vor allem der in eine fantatisch-surreale Klang-Szenerie eingebettete "Steinrötel) .
Im Ganzen klingen die Stücke bei ihm einheitlicher, lyrischer; das unterschiedliche Material wird weniger disparat herausgestellt und die dynamischen und klangfarblichen Kontraste werden von ihm subtil dosiert und moduliert, was markante Akzente nicht ausschließt. Aimards profunde Kenntnis neuer Klavier-Musik, z. B. seine Auseinandersetzung mit den Werken von Boulez und Stockhausen, findet seinen Ausdruck in seiner Kunst, auch abstrakteste Figurationen zu versinnlichen und in jedem Moment musikalisch zu vermitteln. Angesichts dieser Qualitäten ist schade, dass Aimard das 1970 komponierte Stück La Fauvette des jardins (Die Gartengrasmücke) nicht mit aufgenommen hat - geistig und inhaltlich gehört es zum Zyklus dazu. Dafür gibt es eine Bonus-DVD mit Einführungen zu den Stücken und Interviews mit dem Pianisten.

Auch aufnahmetechnisch ist die Aufnahme gelungen; der Klang des Steinways ist warm, rund, ausgewogen, nicht zu direkt und nicht zu distanziert. Jede Nuance von Aimards Spiel wurde eingefangen und noch die gelegentlichen massiven Schläge in den tiefschwarzen Bassregistern klingen sonor und gewissermaßen farbig.



Georg Henkel



Trackliste
SACD I (Buch 1 bis 3) : 60:16
SACD II (Buch 4) : 31:37
SACD III (Buch 5-7): 60:58
Besetzung

Pierre-Laurent Aimard, Klavier


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