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Pearl Jam: "Vs." und "Vitalogy" als Box neu aufgelegt





Was ist eigentlich Grunge? So richtig klanglich definieren konnte dieses kurze Phänomen keiner. Mehr als die gemeinsamen Nenner „Flanellhemden“, „Depritexte jammernder Jugendlicher“ und „Bands aus Seattle“ kommen da meist nicht heraus. Also lassen wir es mal, darüber zu referieren. Schauen wir uns lieber an, welche Protagonisten von damals überhaupt nicht da sind. Vor zwei Jahren meldeten sich Alice in Chains mit neuem Sänger und dem fabulösen Black gives way to blue zurück. Wenig überraschend gab es Chris Cornell schnell auf, der neueste Discohit zu werden und auch Soundgarden sind ebenso wieder zurück. Doch eine unnachgiebige Konstante gab es seit Anfang der 90er durchgehend: Pearl Jam. Bilanz sind seit 1991 neun Studio- und zig Livealben. Bereits vor zwei Jahren gab es eine große Wiederveröffentlichung des Debüts Ten. Jetzt folgen im nicht kleineren Rahmen die beiden Nachfolger Vs. und Vitalogy. Ausgestattet mit jeweils drei Bonustracks, neu verpackt und im runderneuerten Sound kommen die Alben wieder in den Handel. Entweder einzeln, als Dreifach-Deluxe Edition mit dem unveröffentlichtem Livealbum Live at the Orpheum Theatre, sowie über die Homepage der Band als exklusives Fanpaket mit fünf LPs, vier CDs, einer Musikcassette, digitalem Download, einem Notizbuch, sowie einem Umschlag mit Pearl Jam-Sammlerstücken. Wir haben uns die 3-CD-Version mal vorgenommen und näher angeschaut. Die drei Silberscheiben stecken in neuen Digipacks aus dickerem Karton. Umhüllt wird das Ganze von einem stabilen, schwarzen Pappschuber mit verkleinerten Coverabbildungen. Doch nun zu den einzelnen Alben.


VS.

Mit Ten und den Hits „Jeremy“ und „Alive“ schafften es Pearl Jam zusammen mit Nirvana, beflügelt durch den wahnsinnigen Medienhype, bis an die Spitze. Da lastete natürlich einiges an Druck auf den Schultern der Band. Doch dem im Herbst 1993 veröffentlichten Vs., welches ursprünglich Five againts one heißen sollte, hörte man das überraschenderweise nicht an. Vielmehr klingt es wie ein Sturm nach vorne und ist zugleich eine kleine Abkehr vom Ten-Sound. Sämtliche, leichte Stadionrockverweise, welche man von der Vorgängerband Mother Love Bone mit herüber rettete, waren verschwunden und Vs. präsentiert sich relativ rau und kantig, was etwas auf Kosten der großen Melodien geht. Gleich das pumpende „Go“ und das unharmonische „Animal“ poltern stark nach vorne. Doch das folgende leicht folkige „Daughter“, sowie „Glorified G“ und „Dissident“ holen die Freunde des Debüts wieder mit ins Boot und zeigen Pearl Jam als gereifte aber geradlinige Rockband. Dem entgegen steht das etwas experimentelle mit Ethnoeinschlag versehene „W.M.A.“. „Blood“, „Rats“ und „Leash“ sind dagegen wieder krachende Rocktitel. Mit „Rearviewmirror“ (inkl. eingängigem Refrain mit eingängigen Gitarrentexturen) und „Elderley woman behind the counter in a small town“ (wieder folkig im fast walzerartigen Rhythmus) verstecken noch zwei echte Highlights in der zweiten Hälfte. Mit dem düsteren „Indifference“ beendet der Fünfer ein hervorragendes Album, welches bis heute zu seinen besten zählt und in all den Jahren nichts an Charme verloren hat..
Vs. wurde von Pearl Jam-Intimus Brendan O'Brien neu bearbeitet, welcher schon das Original produzierte. Dadurch klingt das Ganze ein klein bisschen differenzierter als das Original, ohne gleichzeitig die Ecken und Kanten zu verlieren. Allerdings ist der Unterschied nur im Direktvergleich zu hören und keineswegs so groß wie bei Ten, welches vom restlichen 80er-Jahre-Muff befreit wurde. So wirklich nötig war das Ganze also nicht. Als Bonus befinden sich drei weitere Titel auf der CD. „Hold on“ ist eine etwas unspektakuläre und akustische Demoversion. Weiter findet man noch einen angenehme Studioouttake von „Cready stomp“, sowie die bereits bekannte und wirklich gute Coverversion von Victoria Williams' „Crazy Mary“.

1. Go (3:13)
2. Animal (2:48)
3. Daughter (3:55)
4. Glorified G (3:26)
5. Dissident (3:34)
6. W.M.A. (5:58)
7. Blood (2:50)
8. Rearviewmirror (4:43)
9. Rats (4:15)
10. Elderly Woman Behind the Counter in a Small Town (3:16)
11. Leash (3:08)
12. Indifference (5:08)
13. Hold On (Bonus Track) (4:40)
14. Cready Stomp (Bonus Track) (3:22)
15. Crazy Mary (Bonus Track) (5:39)


Vitalogy

Mitte der 90er Jahre hatten Pearl Jam nicht nur ihre erfolgreichste, sondern auch ihre kreativste Phase. Bereits ein Jahr nach Vs. stand schon der Nachfolger Vitalogy in den Händlerregalen. Die Verweigerungshaltung in Sachen Interviews und der damals üblichen Vermarktung anhand Videoclips verfolgte die Band auch hier weiter. War Vs. teilweise schon etwas weniger leicht verdaulich, trieben es Pearl Jam hier auf die Spitze. Vitalogy ist nicht nur aufgrund der eigentümlichen Produktion, sondern vor allem wegen der Songs bis heute das sprödeste und teilweise auch seltsamste Werk der Band und nicht gerade der richtige Start in die Diskografie der Seattler. Der Einstieg mit „Last exit“ und „Spin the black circle“ ist noch recht gefällig, auch wenn die Band dem Hörer hier krachend und garagenrockig ihre Songs entgegen haut. Da ist erst einmal Durchatmen angesagt. Zwar ist das folgende „Not for you“ etwas schleppender, aber dafür nicht weniger trotzig und kratzig. Erst recht nicht „Tremor Christ“ mit seinen schrägen Gitarrentönen. Das ist beim ersten Mal schon relativ harter Tobak. Das gilt natürlich besonders für die recht unsinnigen Stücke „Bugs“, „Aya Davanita“ und „Stupid mop“. Aber glücklicherweise finden sich trotzdem einige Titel auf dem Album, welche aus dem Stand heraus zu Klassikern mutierten. Da wäre zum Beispiel das treibende aber trotzdem mit einem eingängigen Refrain versehene „Corduroy“. Oder auch das ruhige und melodische „Nothingman“, bei dem Pearl Jam ihre Folkwurzeln wieder durchblitzen lassen. Ebenfalls schön ist die melancholische Abschlussballade „Immortality“. Doch der herausragendste Titel ist das mitreißende und sich von Sekunde zu Sekunde steigernde „Betterman“. Egal was die Rockfans damals unter dem Begriff Grunge verstanden - mit dieser Platte stellten Pearl Jam die Denkweise gehörig auf den Kopf!
Auch Vitalogy profitiert etwas von der Neubearbeitung Brendan O'Briens. Besonders die Gitarrensounds klingen etwas angenehmer und druckvoller als im Original. Trotzdem handelt es sich immer noch um ein raues und sehr direktes Album, welches erst einmal erarbeitet werden will. Die Bonustracks fallen hier etwas unspektakulärer aus. Mit Lost dogs hat man seine Archive eben bereits ziemlich leer geräumt. Man bekommt eine reduzierte und nur von Orgel und Gitarre getragene Version von „Betterman“, eine marginal alternative Aufnahme von „Corduroy“, sowie eine etwas entzerrte und schöne Demoversion von „Nothingman“. Etwas schade ist natürlich, dass man das Album nicht wieder in die einem alten Medizinbuch nachempfundene Hülle gepackt hat.

1. Last Exit (2:55)
2. Spin The Black Circle (2:47)
3. Not For You (5:52)
4. Tremor Christ (4:12)
5. Nothingman (4:35)
6. Whipping (2:34)
7. Pry, To (1:03)
8. Corduroy (4:37)
9. Bugs (2:44)
10. Satan's Bed (3:30)
11. Betterman (4:26)
12. Aye Davanita (2:57)
13. Immortality (5:28)
14. Stupid Mop (7:28)
15. Betterman (Bonus Track) (3:55)
16. Corduroy (Bonus Track) (4:44)
17. Nothingman (Bonus Track) (4:36)


Live at the Orpheum Theatre 1994

Das Interessanteste für Fans an diesem Dreierpack ist sicherlich diese Live-CD. Wobei man natürlich schon fragen darf, ob man noch ein weiteres Pearl Jam-Livealbum braucht, wenn man schon so viele andere hat. Gute Frage! Aber eine offizielle Liveaufnahme aus dieser Zeit gibt es noch nicht. Also schauen wir uns das Ganze mal etwas genauer an:
Es war genau eine Woche her, dass Kurz Cobain durch seinen Freitod die ganze Rockwelt erschütterte, als dieses Konzert in Boston gespielt wurde. Und Pearl Jam waren gerade dabei sich von der ganzen Grunge-Hysterie loszusagen und endgültig ihren eigenen Weg zu gehen. Man ist im Kern doch nur eine verdammte Rockband in bester 70er-Jahre-Tradition! Das zeigt dieses Album mal wieder deutlich. Es wird ausgelassen musiziert und hier und da auch mal etwas improvisiert. Zumindest musikalisch ist der Unterschied zu den neuzeitlichen Pearl Jam nicht allzu groß. Die Stimmung schien während des Konzerts aufgrund des Ereignisses ein paar Tage zuvor allerdings etwas getrübt und gerade die „härteren“ Songs werden ziemlich aggressiv und kraftvoll rausgehauen. Gespielt wird ein bunter Querschnitt der ersten drei Alben, auch wenn es noch rund ein halbes Jahr dauerte, bevor Vitalogy das Licht der Welt erblickte. Richtig fein kommen dabei das hart eingehämmerte „Not for you“, „Glorified G“, „Once“, sowie „Rearviewmirror“ und der schöne Abschluss „Small town“. Erwähnenswert sind zudem das schmissige Dead Boys-Cover „Sonic reducer“, bei dem die Band Mudhoney-Sänger Mark Arm auf der Bühne begrüßte, sowie ihre Interpretation von „Fuckin' up“, ihres Idols Neil Young, mit dem man ein paar Monate später das grandiose Mirrorball einspielen wird. Der Sound ist klar und druckvoll. Ganz so, wie man es von einer Brendan O'Brien-Produktion erwartet.
Doch nun noch einmal zur Eingangsfrage: Braucht man als Fan dieses Livealbum? Gut, was braucht man schon wirklich? Aber zweifelsohne ist es eine ziemlich gute CD und eine interessante zeitgeschichtliche Aufnahme eines Konzerts aus der ersten Hochphase von Pearl Jam. Das sollte als Antwort mal genügen.

1. Oceans (3:07)
2. Even Flow (5:27)
3. Sonic Reducer (4:42)
4. Immortality (7:03)
5. Glorified G (3:10)
6. Daughter (6:38)
7. Not For You (5:43)
8. Rats (4:44)
9. Blood (4:33)
10. Release (4:46)
11. Tremor Christ (4:12)
12. Once (3:24)
13. Fuckin' Up (4:11)
14. Dirty Frank (4:03)
15. Rearviewmirror (5:15)
15. Elderly Woman Behind the Counter in a Small Town (4:08)




Mario Karl



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