Musik an sich


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Senleches – Solgae – Trebor u. a. (Young)

Corps Feminin. L’Avant-Garde de Jean Duc de Berry


Info
Musikrichtung: Mittelalter Ensemble

VÖ: 01.04.2010

(Arcana / Note 1 CD / DDD / 2000-2010 / Best. Nr. A 355)

Gesamtspielzeit: 67:46



LABYRINTHISCH

Der kunstsinnige Jean Duc de Berry ist vor allem als fürstlicher Auftraggeber prächtiger gotischer Handschriften bekannt, deren herrliche Miniaturen auch moderne Augen in entzücktes Staunen versetzen. Noch auf winzigste Fläche wurde ein ganzer Kosmos aus himmlischen und irdischen Figuren, aus Engeln, Heiligen und mittelalterlichen Alltagsszenen gebannt. Die vorherrschenden Farben, Lapislazuli-Blau und Gold, leuchten wie frisch gemalt. Die Komposition dieser Bilder ist nicht nur stimmig, sondern überaus sinnig angelegt. Freilich erschließen sich nur einem Kenner des kompositorischen Regelwerks und der verborgenen Symbolik die Darstellungen in ihrer ganzen Tiefe.

Ähnlich verhält es sich mit den zwölf Stücken, die das Ferrara Ensemble unter der Leitung von Crawford Young auf dieser Platte vorstellt. Allesamt stammen sie aus der Zeit des Duc de Berry, sind ihm oder Familienangehörigen anlässlich herausragender Ereignisse gewidmet. Gut möglich also, dass er sie auch gehört hat.
Es handelt sich im wahrsten Sinne um Avantgarde-Musik des Spätmittelalters, die unter der (modernen) Bezeichnung Ars subtilior bekannt ist. Wie bei den oben genannten Miniaturen muss man nicht all ihre konstruktiven Geheimnisse verstehen, um sich an ihrer Kunst und ihrem Wohlklang zu erfreuen. Und ähnlich wie bei den Beispielen aus der bildenden Kunst nimmt man doch mehr wahr, wenn man wenigstens ein wenig von ihren Hintersinnigkeiten durchschaut. Da ist der auskunftsfreudige Beitrag von Young, der auch als Musikwissenschaftler ein Experte für dieses Repertoire ist, sehr willkommen. Wenn man weiß, dass beim eröffnenden Angelorum psalat tripudium das Verhältnis der guten himmlischen Engel (Oberstimme) und der gefallenen luziferischen Engel (Unterstimme) durch die perfekte dreiteilige (trinitarische!) Zählzeit und die imperfekte zweiteilige Zählzeit symbolisiert wird, kann man nur staunen, wie selbstverständlich sich die streng organisierte polyphone Satzweise und ein ätherischer Klangzauber verbunden haben.
Wie so oft bei diesem Repertoire wirkt die Musik eigentümlich statisch. Die „Melodie“ besteht aus kleinen, komplex rhythmisierten Zellen, die unablässig entwickelt bzw. sequenziert werden. Aber es fehlt unsere moderne Leittönigkeit. Auch Kadenzen haben mehr was von einem Innehalten denn von einem wirklichen Abschluss. Die mittelalterlichen Modi kreisen gleichsam um sich selbst und die Musik entfaltet sich wie ein geheimnisvolles Mandala.

Die außerirdische Schönheit dieser Kompositionen steht daher trotz ihres Wohlklangs den Werken des 20. Jahrhunderts näher als z. B. den Werken der Wiener Klassik. Feinste rhythmische Schwebungen lassen sich wohl kaum mehr als atmosphärisch wahrnehmen. Man muss sich einhören, will man die subtilen Variationen und Ausdrucksnuancen wahrnehmen.
Dabei kitzelt z. B. die expressive Chromatik von Medee fu en amer veritable noch recht offensiv die Ohren. Die besungene leidenschaftliche Liebe der berühmten mythischen Zauberin Medea bekommt durch harmonische Anschärfungen eine angemessen pathologische Note; zugleich verrät diese Interpretation einiges vom Gemütszustand desjenigen, der das Stück einst geschrieben bzw. gedichtet hat. Ganz anders dagegen der zarte spirituelle Eros, der die geschmeidige Oberstimme von Roses et lis ay veu en une flour inspiriert hat. Die Marien-Frömmigkeit konnte sich damals durchaus in der Sprache profaner Lyrik und elaboriertester Kompositionskunst äußern.
Auch eine Instrumentalkomposition wie Prinicipio di virtu, deren gleichsam spätbarocke Virtuosität verblüfft, muss man einfach mehrfach hören, wenn hinter das Spiel ihrer labyrinthischen Permutationen kommen möchte. Bemerkenswert, was Young hier aus der sperrigen Gittern, einem Zupfinstrument, herausholt.

Überhaupt zeigt sich das Ferrara Ensemble wieder einmal auf der Höhe, wenn es um dieses schwierige Repertoire geht. Neben den herrlich klaren Vokalstimmen erfreuen die klangvollen instrumentalen „Begleitungen“. Wegen ihrer immensen Schwierigkeiten galt diese exquisite Kunstmusik lange Zeit als unaufführbar. Doch so, ganz ohne Fehl und Tadel und dafür mit großem musikalischem Gespür gespielt, kann man diese Miniaturen heute ganz selbstverständlich hören und genießen.



Georg Henkel



Trackliste
1Angelorum psalat tripudium (Rodericus)5:47
2 Principio di virtu6:43
3 Fuions de ci fuions povre compgaigne (Senleches)9:13
4 Or voit tout en aventure (Guido)2:42
5 Passerose de beauté la noble flour (Trebor)9:37
6 Medee fu en amer veritable6:16
7 Tel me voit et me regarde (Senleches)3:46
8 Quant joyne cuer en may est amoureux (Trebor)8:08
9 Corps feminin par vertu de nature (Solage)3:04
10 Calextone qui fut dame darouse (Solage)3:26
11 Passerose flours excellente0:58
12 Roses et lis ay veu en une flour (Magister Egidius Augustinus)8:06
Besetzung

Ferrara Ensemble:

Miriam Andersen: Sopran/Harfe
Masako Art: Harfe
Randall Cook & Jessica Marschall: Viola d’arco
Raitis Grigalis: Bariton
Els Janssens: Mezzosopran
Eve Kopli: Sopran
Eric Menzel: Tenor
Lena-Susanna Norin: Alt
Karl-Heinz Schickhaus: Dulce Melos

Crawford Young: Gittern, Laute & Leitung


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