Musik an sich


Reviews
Henri III. de Brabant u. a. (Schmelzer)

Poissance d’amours. mystiques, moines & ménestrels


Info
Musikrichtung: Mittelalter Ensemble

VÖ: 01.04.2008

Glossa / Note 1CD (AD DDD 2007) / Best. Nr. GCD P32103

Gesamtspielzeit: 77:08

Internet:

http://www.graindelavoix.be/



IRDISCHE UND HIMMLISCHE FREUDEN

Jede moderne Interpretation mittelalterlicher Musik hat notwendig etwas Spekulatives. Wenn sich aber ein bestimmter Aufführungsstil, der „richtig“ klingt und überzeugt, erst einmal auf breiter Linie durchgesetzt hat, dann verwechselt das durch Konzerte und Plattenaufnahmen geeichte Ohr diesen Stand der Interpretation allerdings ganz gerne mit der historischen Wahrheit.
Ohrenöffner, die die etablierten Pfade verlassen und Neues riskieren, sind daher hochwillkommen.

Gegen das Gewohnte auf der Grundlage aufführungspraktischer Kenntnisse und sicherer musikalischer Instinkte anzumusizieren, ist ein Markenzeichen des belgischen Ensembles Graindelavoix. Wie sich der Interpretations-Kanon Alter Musik um neue Farben erweitern lässt, hat die Gruppe um den Sänger-Dirigenten Björn Schmelzer schon bei zwei Vorgängerprojekten bewiesen. Die Missa Caput von Johannes Ockeghem wurde durch die alte französische Verzierungspraxis der Machicotage in ein Stück Neue Musik zwischen Orient und Okzident verwandelt. Auch weltlichen Stücke aus der Feder von Binchios gewannen durch instrumentale und vokale Improvisationen eine ungeahnte Modernität.
Auf der jüngsten Platte haben sich die Musiker/innen und Sänger/innen des seltenen Repertoires ihrer eigenen Heimat angenommen: Musik der Troubadoure, Mönche und Mystikerinnen aus dem Brabant des 13. Jahrhunderts steht auf dem Programm. Schmelzers ausführlicher Essay im Beiheft lässt erahnen, wie aufwändig die Recherche zu dem Projekt gewesen sein muss. In loser Verschränkung finden sich geistliche und weltliche Liebeslieder, die einmal die Schöne Dame, ein anders Mal Heilige besingen.

Gleich der eröffnende Hymnus O Ecclesia der Hildegard von Bingen, der als Handschrift in die Zisterzienserabtei von Villiers gelangt ist, erfährt eine faszinierende Neudeutung als liturgisches Minidrama. Ungewöhnlich ist die Besetzung mit einer Männer- und einer Frauengruppe (handelte es sich um ein Doppelkloster?). Üppige Ornamente steigern den großzügigen Schwung des Stücks ins Ekstatische.
Alles andere als asketisch klingen auch die aus Villiers selbst stammenden Stücke, die als improvisierte Organa dargeboten werden. Dass Graindelavoix neben einer diskret farbigen Instrumentierung auch eine prononcierte nasale oder kehlige Färbung der Stimme nicht verschmäht, verleiht jedem Stück ein unverkennbares Kolorit. Das ist für die hochsubjektive Lyrik brabantischer Mystikerinnen ebenso angemessen wie für die diversen Minnegesänge, die zum Teil aus fürstlicher Feder stammen.
Diese Alte Musik wird dem modernen Hörer gerade dadurch nahe gebracht, dass ihre ästhetische Fremdheit betont wird. Graindelavoix projiziert sie in ein nach wie vor wenig erschlossenes Land zwischen historischer Kunst- und Volksmusik, zwischen eingängiger Stilisierung und archaischer Unmittelbarkeit. Die Alte Musik wird zur Neuen Musik. Ich wünsche mir noch weitere derart farbige Hörabenteuer auf diesem Niveau!



Georg Henkel



Besetzung

Graindelavoix
Ltg. Björn Schmelzer



 << 
Zurück zur Review-Übersicht
 >>