Mehr gewonnen, als wir je hatten: Dirkschneider mit einer Komplettaufführung des Balls To The Wall-Albums in Leipzig





Wenn Udo Dirkschneider in den letzten anderthalb Jahrzehnten mit U.D.O. oder mit Dirkschneider in Leipzig spielte, dann üblicherweise im Hellraiser – diesmal aber steht das ein gutes Stück mehr Besucher fassende Haus Auensee im Tourplan, und das ist kein ungebührliches Wagnis, sondern ein Volltreffer: Schon Wochen zuvor wird vermeldet, es gäbe nur noch sehr wenig Tickets, und letztlich kann „Ausverkauft“ angesagt werden. Immerhin steht ja auch ein spezielles Programm an, und das reizt offenbar so manchen Altanhänger, mal wieder aus den Löchern zu kriechen.

Vor dem Eingangstor zum Gelände des Hauses Auensee, wo die Einlaßkontrolle stattfindet, steht eine Schlange von einer Länge, wie sie der Rezensent lange nicht gesehen hat. Obwohl die Abfertigung recht zügig geht, ist er zur seltsamen verbrieften (und offenbar eingehaltenen) Anstoßzeit 19.10 Uhr noch nicht in der Halle, sondern erst geraume Zeit später, als All For Metal gerade „Born In Valhalla“ spielen. Zwei Songs lang muß er das Sextett dann noch aushalten, das bekanntlich ein (vermutlich gecastetes) Produzentenprojekt ist, sich aber trotzdem die Peinlichkeit leistet, die Anwesenden aufzufordern, das Merch zu kaufen, weil man als Undergroundband nur so derartige Touren finanzieren könne. Die Instrumentalisten geben sich Mühe und bringen einen halbwegs soliden Vortrag der pseudovikingmetallisch angehauchten Nummern zustande, die beiden Sänger stehen sich akustisch aber live völlig im Wege, und vor allem dann, wenn Tetzel nicht growlt, sondern clean singt, findet sich seine Stimme mit der seines italienischen Kompagnons überhaupt nicht, so dass nicht mal mehr die platt-eingängigen Refrains (und grade der von „Born In Valhalla“ stellt einen fiesen Ohrwurm dar) Wirkung entfalten. „Gods Of Metal“ vom gleichnamigen neuen Album, das der Rezensent noch nicht kennt, beweist, dass das Niveau im Vergleich zum Debüt nicht besser geworden ist, „Goddess Of War“ bildet dann zum Glück schon das letzte Stück des Sets, der auch soundlich zwar in angenehmer Lautstärke, aber eher matt und vor allem in den Saiteninstrumenten zu sehr ineinanderlaufend daherkommt, während man die tuckernden Samples deutlich klarer vernimmt, was eigentlich auch nicht so Sinn und Zweck der Sache sein sollte. Einer gewissen Anzahl Anwesender reicht das Gebotene für einigen Applaus, der Rezensent dankt im Geiste der Schlange am Einlaß, dass er nicht mehr davon hören mußte, und der Bassist sammelt den einzigen Authentizitätspunkt für das Metallica-Zitat in seinem kurzen Solospot. Der Soundmensch rettet die Laune des Rezensenten, indem als erster Song der Umbaupausenmusik Helloweens „A Handful Of Pain“ erklingt – nicht die stärkste Nummer des Better Than Raw-Albums, aber gegenüber dem zuvor Gehörten pures Gold.

Als zweite Band spielen leider nicht Chrome Shift, die vor zwei Dekaden mit Ripples In Time ein sehr starkes Progmetalalbum veröffentlicht hatten, aber danach schnell wieder auf dem Bandfriedhof verschwanden und sich bis heute nicht wiedervereinigt haben, sondern Crowshift, eine finnische Nachwuchsband, die bisher nur ihr selbstbetiteltes Debüt draußen hat und sich auf Material von diesem konzentrieren dürfte, sollte man zumindest vermuten. Genauer ergründen kann man diesen Fakt wohl nur, wenn man das Material sehr genau kennt – der Sound an diesem Abend besteht, obwohl nicht überlaut, aus Drums, Vocals, ein paar Leadgitarren, gelegentlich wahrnehmbaren hintergründig mitlaufenden Keyboards und einem Geräusch, zu dem die anderen Instrumente zusammenlaufen. Man ahnt, dass das eine Art moderner Melodic Death sein soll, und es finden sich durchaus Songs, die eine interessante Struktur zu haben scheinen – aber wie die genau aussieht, kann man anhand des Liveeindrucks nicht analysieren. Der Sänger führt hauptsächlich rauhen Power-Metal-Gesang an der Grenze zum Thrash ins Gefecht – wer sich noch an Capricorn erinnert, findet in Adrian einen passenden Vergleich. Mit dem Drummer stellt der Vokalist auch die Kurzhaarigen-Abteilung der Band, die drei Saitenbediener sind alle langhaarig. Crowshift stellen allerdings ein äußerst eigenartiges Verständnis von Showdynamik unter Beweis, indem sie jeweils nach zwei oder drei Songs einen durchgehenden, aber völlig undramatischen Keyboardsound vom Band kommen lassen, von der Bühne gehen, der Sänger nach einer Minute wiederkommt, den nächsten Song ansagt und die mittlerweile auch zurückgekehrten Mitmusiker mit selbigem beginnen, ohne dass man eine dramaturgische Funktion dieses Elements erkennen könnte – vielleicht ist das ja auf dem Album auch so und hat dort irgendeine Funktion, aber hier wirkt es seltsam. Der Setcloser ist dann einer, der nicht auf dem Debütalbum steht, sondern laut Ansage erst in der Woche zuvor als Single erschienen ist: Wer den Text von Alannah Myles’ „Black Velvet“ intus hat, erkennt den Song schon in der ersten Strophe, der Rezensent dann immerhin im ersten Refrain. Crowshift werden freundlich beklatscht, passen stilistisch aber so gar nicht zum Headliner, und die Nichtnachvollziehbarkeit der Songs wegen der Soundverhältnisse tut ihr Übriges. Dafür gibt der Soundmensch hinterher wieder sein Bestes, indem er reihenweise Klassiker aus der Konserve läßt: „Ace Of Spades“, „Paranoid“, „Breaking The Law“, „The Number Of The Beast“ undundund.

Unter dem Namen Dirkschneider agiert Udo D. seit einer knappen Dekade bekanntlich immer dann, wenn er Accept-Programme spielt, während er mit U.D.O. konsequent auf Accept-Material verzichtet. Diesmal handelt es sich außerdem wie eingangs erwähnt um ein spezielles Programm, nämlich eine Komplettaufführung des Balls To The Wall-Albums. Selbiges haben Udo und seine Mitstreiter aus Anlaß des 40jährigen Erscheinungsjubiläums neu aufgenommen – so zumindest die offizielle Begründung, auch wenn die das Raum-Zeit-Kontinuum ein wenig krümmt. Nun ist ja so ein Projekt durchaus mit einem gewissen Risiko behaftet, und als warnendes Beispiel, wie schnell man mit sowas aufs Antlitz fällt, möge der Name Manowar genügen. Udo und seine Kollegen haben das Konzept allerdings etwas abgewandelt und für jeden der zehn Songs einen Gastsänger oder eine Gastsängerin eingeladen, so dass die Neufassung sozusagen einen strukturellen Mehrwert bekommt, neue Zielgruppen erschließt und sich zugleich nicht mehr automatisch einem Direktvergleich mit dem historischen Original stellen muß. In der Livesituation stellt sich die Lage aber wieder anders dar – von den zehn Gästen ist keiner mit auf Tour, und auch auf die Option, vielleicht einen der Vokalisten der Vorbands als Duettpartner mit auf die Bühne zu holen, wird zumindest an diesem Abend in Leipzig kein Gebrauch gemacht.
Gerahmt wird die Balls To The Wall-Gesamtaufführung von zwei Blöcken mit anderem Accept-Material. Das „Heidi, Heido, Heida“-Intro stellt die Lungen der Anwesenden vor die erste von vielen Herausforderungen, fleißig mitzuformulieren, aber wüßte man nicht, dass darauf üblicherweise „Fast As A Shark“ folgt, man hätte sich im Drumgewitter von Dirkschneider-Filius Sven schwer getan, das zu erkennen – selbst die Stimme vom Chef selbst steht sehr weit im akustischen Hintergrund. Da die Drumschlagzahl in „Living For Tonite“ und „Midnight Mover“ geringer ist, kann der Soundmensch diese Songs für die schrittweise Ausbalancierung nutzen, „Breaker“ schwimmt naturgemäß nochmal ziemlich im Soundmatsch, aber dann wird’s deutlich besser, und es entsteht ein sehr lautes, aber recht ausgewogenes Klangbild, in dem man natürlich auch Udo selber prima durchhört. Und man staunt Bauklötze: Vor zehn, fünfzehn Jahren, als der Rezensent ihn mehrfach live erlebt hat, konnte man trotz nach wie vor starker Leistung einen gewissen altersbedingten Stimmabbau nicht verhehlen – der mittlerweile über 70 Lenze zählende Sänger ist aktuell aber immer noch in gleicher Form wie damals, und das stellt durchaus keine Selbstverständlichkeit dar. Klar, der alte Fuchs weiß, wo er sich zurücknehmen und seinen allesamt mitsingenden Bandkollegen (oder dem Publikum) das Hauptfeld überlassen kann – aber dort, wo er selber gefragt ist, da liefert er auf diesem vierten Gig der laufenden Tour ab. Dass er sich auf eine gut eingespielte Band verlassen kann, ist natürlich auch eine feine Sache – und mit Peter Baltes hat er ja schon vor fünf Jahrzehnten die Bühne geteilt. Die alten Streitigkeiten über die Wünsche des Bassisten, auch mehr zu singen, sind längst vergeben und vergessen, und so wird auch auf dieser Tour eine der alten Leadgesangsnummern des Tieftöners ausgepackt – nicht „The King“ oder „Crossroads“, auf die der Rezensent heimlich gehofft hat, aber die Ballade „Breaking Up Again“ vom Breaker-Album ist auch nicht von schlechten Eltern – und wer hat die schon mal live gehört?

Diese Frage stellt sich natürlich auch bei der nun folgenden Balls To The Wall-Komplettaufführung. Als dieses Album 1984 betourt wurde, stand der antifaschistische Schutzwall bekanntlich noch, und falls nicht zufällig an diesem Abend im Haus Auensee ein paar Menschen im Publikum gewesen sein sollten, die nach der Wende vom Westen in den Osten gezogen sind, wird niemand der Anwesenden diese Tour selbst miterlebt haben. Der Titeltrack ist natürlich Pflichtprogramm auf Dirkschneider-Setlisten wie auch noch heute bei Accept – aber dann muß man schon graben. 1985 wurde die Japan-Tour mitgeschnitten und Jahre später als Staying A Life-Doppeldecker veröffentlicht – aktuelles Album und damit am umfangreichsten vertreten war Metal Heart, aber neben dem Titeltrack schafften es auch noch drei weitere Balls To The Wall-Stücke aufs Livealbum: „London Leatherboys“, „Love Child“ und „Head Over Heels“. „Losers And Winners“ wiederum fand man später noch gelegentlich in Accept-Setlisten wieder. Damit kann die Hälfte des Albums als in Livefassungen bekannt vorausgesetzt werden – die andere Hälfte ist dafür umso obskurer und stellt mit „Fight It Back“ interessanterweise den einzigen Speedie des Albums, der im Direktvergleich mit „Fast As A Shark“ allerdings auch deutlich gemäßigter daherkommt. Diesen wie „Losing More Than You’ve Ever Had“, „Turn Me On“, „Guardians Of The Night“ und „Winter Dreams“ erkennt man automatisch daran, dass die Anzahl derjenigen, die die Lyrics andächtig mitformulieren, deutlich abnimmt – die Stimmung bleibt aber trotzdem exzellent und der Applaus herzlich; zudem wird der Vokalist mehrfach mit „Udo“-Sprechchören angefeuert. Nicht mal die Tatsache, dass das entspannte „Winter Dreams“, das bei einer chronologischen Aufführung des Albums naturgemäß am Ende steht, hier auch das Ende des Hauptsets bildet, kann die Stimmung markant beeinträchtigen, zumal ja noch ein Zugabenblock folgt und der gleich mit „Princess Of The Dawn“ gemäß Aufforderung von Dirkschneider-Filius Sven alles abreißt. „Up To The Limit“ und „Burning“ schließen den Set nach etwas über 100 Minuten auf sehr hohem Niveau ab, und als „Bound To Fail“ als Outro vom Band kommt, ist klar, dass der Restless And Wild-Titeltrack diesmal ebenso in den Katakomben bleiben mußte wie das komplette Material vom Russian Roulette-Album. Aber das macht ja nichts – Udo verabschiedet sich vom Publikum mit einem herzlichen „Bis zum nächsten Mal“, gedenkt also offensichtlich noch nicht in Rente zu gehen und hat das, wenn er das aktuelle Stimmvermögen wenigstens konservieren kann, auch nicht nötig. Ob es dieses nächste Mal wirklich gibt und, wenn ja, ob der Rezensent dabei ist, wird die Zukunft zeigen. Falls nein, hätte sich jedenfalls ein Kreis geschlossen: Im Haus Auensee hat der Damals-noch-nicht-Rezensent Udo 1994 auf Accepts Death Row-Tour das erste Mal live gesehen, und das letzte Liveerlebnis mit dem Solinger Urgestein hätte dann auch an dieser Stelle stattgefunden. Aber wie auch immer: In Anlehnung an einen der Songtitel von Balls To The Wall haben wir an diesem Abend mehr gewonnen, als wir je hatten.

Setlist Dirkschneider:
Fast As A Shark
Living For Tonite
Midnight Mover
Breaker
Flash Rockin’ Man
Metal Heart
Breaking Up Again
--
Balls To The Wall
London Leatherboys
Fight It Back
Head Over Heels
Losing More Than You’ve Ever Had
Love Child
Turn Me On
Losers And Winners
Guardian Of The Night
Winter Dreams
--
Princess Of The Dawn
Up To The Limit
Burning
Bound To Fail


Roland Ludwig



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