Coroner
Mental Vortex
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Hatten Coroner bisher im Jahrestakt Alben vorgelegt, so nahmen sie sich für Mental Vortex zwei Jahre Zeit, was auch mit dem Umstand zu tun hatte, dass sie zwischenzeitlich endlich mal vernünftig auf Tour gehen konnten, um den Vorgänger No More Color zu promoten – sie zogen u.a. mit Watchtower kreuz und quer durch Europa. Die Zeit bis zum Albumviertling wurde auch sonst äußerst sinnvoll genutzt, nämlich für eine Rückbesinnung auf alte Stärken und gleichzeitig den Weg zu neuen Ufern beleuchtend, ohne grundsätzlich die Welt des komplexen Thrash Metals zu verlassen. Aber schon der Opener „Divine Step (Conspectu Mortis)“ macht drei Dinge klar. Zum ersten trauen sich Coroner wieder, ihre Ideen länger auszuspielen, was sie in früheren Zeiten schon getan hatten, ehe sie auf No More Color bei kompakten, aber zu wenig Individualität aufweisenden, da zu stark komprimierten Vierminütern angekommen waren. Von den acht neuen Songs sind die beiden kürzesten knapp unter fünf Minuten lang – das war auf No More Color die Marke des längsten der dortigen acht. Zum zweiten entdeckt das Schweizer Trio eine neue Freude an der Geradlinigkeit, die mit dem erwähnten Hang, die Ideen länger wirken zu lassen und ihnen mehr Raum zum Atmen zu geben, eine wirkmächtige Symbiose eingeht. Schon im Opener nämlich traut sich Marquis Marky, einen Drumbeat auch mal längere Zeit durchzuhalten, und eine geradlinige Midtemponummer wie „Son Of Lilith“ hat man von dem Trio so noch gar nicht gehört. Zum dritten aber ist da der Blick nach vorn: Die düsteren Akustikelemente, die bereits auf den Vorgängern hier und da eingeführt wurden, nehmen nun einen deutlich breiteren Raum ein, stellen in „Divine Step (Conspectu Mortis)“ einen großen Zentralpart inmitten des speedigen Rahmens und bilden andererseits einen Rahmen um die Midtempowelten von „Son Of Lilith“. Auch in „Semtex Revolution“ finden sie sich, wobei dieser an Position 3 befindliche Song derjenige ist, der strukturell am stärksten an die Vorgängerwerke erinnert und wo Gitarrist Tommy T. Baron, der schon im Opener durch viel Spielfreude geglänzt hatte, wieder einige dieser typischen perlenden klassikinspirierten Läufe spielt, die man von ihm schon seit den frühen Coroner-Tagen kennt und liebt. Dieser Song bietet ebenso wie „Pale Sister“ und „About Life“ im Re-Release-Booklet eine strukturelle Unklarheit, indem hier bei den Creditangaben im Lyricteil nur Baron als Songwriter angegeben ist, in der Tracklist am Bookletende aber wie bei den anderen Eigenkompositionen Baron und Bassist/Sänger Ron Royce (Edelmann schrieb wie üblich die Texte). Sonderlich stark vom Rest des Materials unterscheiden sich die drei Nummern freilich nicht – da fällt eher „Sirens“ aus dem Rahmen, das relativ nahe an den midtempolastigen Power Metal rückt, obwohl es sich nicht um ein Savatage-Cover handelt, und „Metamorphosis“ täuscht diese Richtung gleich nochmal an, bevor ein großes Speedsolo und einige komplexere Anflüge in Tateinheit mit wieder einem dieser halbakustisch unterdüsterten Refrains die Verhältnisse anders gestalten. Trotzdem wird man hier und da das Gefühl nicht los, ein „richtiger“ Sänger hätte Coroner gut zu Gesicht gestanden – so richtig einprägsam ist gesangsseitig auch auf diesem Viertling nur ein einziger Song ausgefallen, und zwar das abschließende Beatles-Cover „I Want You (She’s So Heavy)“, weil man das halt schon anderweitig im Ohr sitzen hat. Dafür läßt der Glockenpart hinter einem der Refrains von „Pale Sister“ aufhorchen – das wäre nun wieder eine Idee gewesen, die man sich deutlich intensiver verarbeitet gewünscht hätte, und auch das anschließende Solo wird eher einfallslos ausgeblendet. Da macht das angeblueste und mit Gastkeyboards von Kent Smith ausstaffierte Beatles-Cover deutlich mehr Hörspaß. Mit 7:15 stellt es auch den längsten der acht Songs dar, was anhand der eher kompakten Vorlage bedeuten könnte, dass sich die Instrumentalisten wieder einiges an Freiraum gönnen – eine Theorie, die freilich nicht so richtig zutrifft, da es sich eher um geringfügige Variationen des Hauptthemas handelt. Zugleich überrascht es im Mittelteil aber auch mit einem clean gesungenen Refrain. Zu vermuten steht, dass das die im Booklet angegebenen Backingvokalisten Janelle Sadler und Steve Gruden sind – wenn das nämlich Royce wäre, müßte man verzweifelt fragen, wieso er diese Klarstimme nicht in den Eigenkompositionen an passender Stelle einsetzt ... An das plötzliche Ende von Song wie Scheibe muß man sich allerdings gewöhnen, aber das hat bei Accepts „Princess Of The Dawn“ bzw. Restless And Wild ja auch geklappt.
Der Re-Release von Mental Vortex erscheint nicht wie seine drei Vorgänger bei Century Media, sondern bei den wiederbelebten Noise Records, ist remastert, kommt ohne Bonustracks aus und macht insgesamt einen deutlich anspruchsvolleren Eindruck als die teilweise eher billig wirkenden Re-Releases der ersten drei Scheiben. Der Digipack enthält ein Booklet mit allen Texten, etlichen Fotos sowie diversen historischen Dokumenten, wobei durchaus nicht alle aus der Mental Vortex-Zeit stammen, sondern beispielsweise auch eine Story aus dem Totentanz-Magazin zutage tritt, die anläßlich des Debütalbums R.I.P. erschien. Leider kann man gestaltungsbedingt nicht alle Dokumente vollständig lesen, und die auf dem Digi aufgedruckte Spielzeit von „Sirens“ ist auch eine reichliche halbe Minute zu lang, aber insgesamt bleibt der Eindruck doch ein recht positiver. Da Mental Vortex seinen Vorgänger No More Color auch musikalisch deutlich in die Tasche steckt, zeigt die Formkurve erfreulicherweise also allenthalben nach oben.
Roland Ludwig
Trackliste |
1 | Divine Step (Conspectu Mortis) | 7:05 |
2 | Son Of Lilith | 6:55 |
3 | Semtex Revolution | 5:31 |
4 | Sirens | 4:56 |
5 | Metamorphosis | 5:35 |
6 | Pale Sister | 4:55 |
7 | About Life | 5:18 |
8 | I Want You (She’s So Heavy) | 7:15 |
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Besetzung |
Ron Royce (Voc, B)
Tommy T. Baron (Git)
Marquis Marky (Dr)
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