Math-Punk für den Heike-Clan: PoiL Ueda und Don Vito verknoten die Hirne des Publikums im Jenaer Kulturbahnhof
Im Februar 2020 spielten PoiL einen denkwürdigen Gig im Jenaer Kulturbahnhof – und das im doppelten Sinne: Zum einen war es das erste Konzert auf dem gerade neu eingebauten Parkettfußboden, zum anderen aber auch für die allernächste Zukunft ungeplant der letzte, da im März der erste von diversen Lockdowns verhängt wurde. Nun, drei Jahre später, sind die Folgen der Pandemie zwar noch lange nicht ausgestanden und das gewisse Virus immer noch am Vor-sich-hin-Köcheln, aber den Fußboden gibt es immer noch, und daß nach dem PoiL-Gig abermals ein Lockdown verhängt wird, dürfte eher wenig wahrscheinlich und auch für die Zukunft nicht zu hoffen sein. Die Vorband spielt nicht auf der Bühne, sondern ähnlich wie Mother Engine bei einem Streamkonzert im Mai 2020 links im Publikumsbereich. Hinter dem Namen Don Vito könnte man ein hispanophiles Seitenprojekt von J.B.O.-Fronter Veit Kutzer aka Vito C. vermuten, läge damit aber doch ein gutes Stück daneben. Statt dessen verbirgt sich hinter diesem Namen ein ziemlich schräges Leipziger Trio aus zwei Kurzhaarigen an Gitarre und Drums sowie einer Bassistin. Ein Mikrofon hat keiner vor sich stehen, Gesang gibt es also keinen und Ansagen auch nicht. Die Truppe fabriziert zunächst so eine Art Jazzgrind, also wüstes Gepolter jenseits althergebrachter Strukturen und so konstruiert, daß zwar jeder der drei für sich einem oft erkennbaren Plan folgt, aber die Übereinanderlegung dieser Pläne nur selten gängigen Songwriting-Schemata gehorcht und sowas wie durchgehende Rhythmen eher Seltenheitswert besitzen, von Melodien ganz zu schweigen. Math-Punk hat das mal jemand genannt, und das mutet durchaus passend an. Nach vielleicht zehn Minuten hat sich aber entweder das Ohr an die Analyse dieser Strukturen gewöhnt, oder Don Vito schwenken um und spielen jetzt einen Mix aus Dance-Grind und Grunge-Harmonik – vielleicht ist’s auch ein Zusammentreffen beider Faktoren. Jedenfalls kommen nun auch mal über längere Strecken tanzbare Rhythmen zum Einsatz, und der Teil des Publikums, der das Trio im Halbkreis umsteht und sich nicht vom immer noch gehörig schrägen Gesamtbild abschrecken lassen hat, bemüht sich redlich, das Tanzbein in einer der Musik zumindest nicht diametral entgegengesetzten Weise zu schwingen. Hat man sich eine Viertelstunde später an diese Sorte Musik gewöhnt, schwenken Don Vito noch einmal um und zelebrieren in den letzten zehn Minuten des Gigs mehr oder weniger Variationen ein und desselben Hauptthemas überwiegend in angedoomter Manier. Abgesehen von einigen wenigen arg schrillen Rückkopplungen ist das Klangbild ziemlich transparent und die Musik von der Seite gut nachvollziehbar – kompositorisch fällt das wie beschrieben etwas schwerer, macht aber für eine reichliche halbe Stunde Gigdistanz durchaus Hörspaß, wenn man sich auf die Herangehensweise einzulassen bereit ist, was auf gute Teile des Jenaer Publikums durchaus zuzutreffen scheint, so daß sogar eine Zugabe eingefordert (und auch gewährt) wird. Etliche Songs werden offensichtlich am Stück gespielt, so daß nur Kenner der Band die reale Setlist rekonstruieren können; der Rezensent muß sich damit begnügen, hier das wiederzugeben, was auf der handgeschriebenen Liste steht, ohne sagen zu können, ob das dem realen Set entspricht, zumal sich im Dokument auch noch eine kryptische (unten nicht reproduzierte) Numerierung vor einigen Songs findet. Setlist Don Vito (wie niedergeschrieben, ohne Gewähr): Scheiß Schweiß Web 2.0 Ølfrygt GPS ≠ Punk Crystal Motor Special Guest Shit Giovanni Rocky Balboa Constri Shuffle Your Feet Radical Bomingo Funny Is Important Amphetamin Colada Problem PoiL hatten den 2020er Gig als Trio bestritten: ein Drummer, ein Keyboarder und ein Bassist. Für das aktuelle PoiL-Ueda-Projekt aber fand eine Erweiterung zum Quintett statt, zudem mit veränderter Zuordnung im Haupttrio: Der etatmäßige Bassist hat nicht nur seine Gustav-Mahler-Optik an den Nagel gehängt, sondern auch sein Instrument – er spielt jetzt Gitarre, und statt dessen ist ein neuer Bassist dabei. Die markanteste Erweiterung, die auch zum veränderten Bandnamen geführt hat, sitzt vorn in der Bühnenmitte: Junko Ueda zählt zu den profiliertesten japanischen Musikerinnen, die sich mit der Wiedergabe mittelalterlicher Heldenepen und Artverwandtem beschäftigen. Sie spielt Satsuma-Biwa, ein zu den Kurzhalslauten zählendes und aus der Provinz Satsuma im äußersten Südwesten Japans stammendes Saiteninstrument, und singt in einem ganz eigentümlichen Tonfall, der oft ein Gefühl epischer Breite vermittelt. Natürlich sind die Texte alle in Japanisch gehalten, und die Thematik bleibt auch im aktuellen Kollaborationsprojekt identisch. Halten wir inne und rekapitulieren: Eine der angesagtesten europäischen Avantgarde-Rock-Bands tut sich mit einer führenden japanischen Mittelalter-Musikerin zusammen, und zusammen vertonen sie alte japanische Heldengeschichten. Das klingt schon in der Theorie abstrus (es will einem kaum ein Analogon einfallen – oder vielleicht doch: Ein progressives Gamelan-Orchester und Till Lindemann interpretieren das Nibelungenlied), und daß PoiL von ihrem eklektizistisch-avantgardistischen Ansatz abweichen würden, davon war auch nicht auszugehen gewesen, und ebenjenes passiert auch nicht. Aber die vier Musiker nehmen sich doch etwas zurück, um in ihren immer noch eindrucksvollen Notenkaskaden Platz für die Sängerin und die Satsuma-Biwa zu schaffen. Daß hier jeder Instrumentalist zu jeder Zeit in der Lage ist, technische Kabinettstückchen vom Stapel zu lassen, weiß sowieso jeder der vielen Anwesenden, und auch im PoiL-Ueda-Material finden sich zahllose Stellen, wo man das Gefühl hat, jeder spiele einfach irgendwas, und das passe mal prima zusammen und reibe sich mal aneinander. Trotzdem findet das Publikum Gelegenheit, hier und da das Tanzbein zu schwingen, ohne in gar zu große Differenzen zu einem wie auch immer gearteten Grundmetrum zu geraten, sofern der Drummer denn tatsächlich mal eins legt. Auf zu offenkundig fernöstlich gestriegelte Elemente verzichten die vier Europäer weitgehend und überlassen dieses Feld primär Ueda, bauen aber an passenden Stellen dann doch ebensolche ein und schaffen sozusagen eine Brücke zwischen Frankreich und Japan, allerdings wie beschrieben eine insgesamt sehr komplex gebaute, die Aufmerksamkeit und ein klares Soundgewand verlangt, welchletzteres wir an diesem Abend im Kulturbahnhof auch geboten bekommen, dazu in sehr angenehmer Lautstärke, die mithilft, daß die Sängerin und ihr Instrument nie in Gefahr geraten, aus dem ihnen zukommenden akustischen Lichtkegel verdrängt zu werden. Die Musik entwickelt sich insgesamt sehr bedächtig, so wie es für die traditionelle fernöstliche Mittelaltermusik (die in etwas abgewandelter Form beispielsweise auch in Korea gepflegt wird) typisch ist. Der Opener „Kujô-Shakujô“, ein buddhistischer Mönchsgesang zur Abwehr böser Geister, dauert dann auch gleich mal geschätzte 20 Minuten (auf dem von diesem Projekt erhältlichen Longplayer ist er dreigeteilt und bringt es summiert auf deren 18) und wird trotz üblicherweise schleichendem Grundbeat (sofern überhaupt vorhanden) nicht langweilig, da überall auf der Bühne quasi permanent was Interessantes, manchmal auch Überraschendes passiert, was die Aufmerksamkeit des Hörers wachhält. Die anderen vier Songs des Sets sind etwas kürzer und befassen sich allesamt mit Geschehnissen aus einem der japanischen Bürgerkriege des 13. Jahrhunderts, als der Heike-Clan und der Genji-Clan um die Vorherrschaft kämpften, wobei diverse Geschehnisse später in Heldenepen verarbeitet wurden, die wiederum die Basis beispielsweise für Stücke des Kabuki-Theaters bilden. „Dan No Ura“ an zweiter Stelle, eine zentrale Schlacht des Konflikts behandelnd, gerät dann auch musikalisch deutlich härter und zupackender, während die drei finalen Stücke über die Flucht des Prinzen Yoshitsune je nach Erfordernis zwischen Spannung, Entspannung und allen möglichen Mischformen pendeln. Das ergibt eine faszinierende, in der Form zumindest nach Kenntnis des Rezensenten noch nie dagewesene Musikform, und das Schöne ist, daß trotz allen Avantgardismus’ das Ganze live so gut funktioniert, als habe die Welt genau darauf gewartet. Zwischen den Songs erklärt Ueda jeweils die Hintergründe der verarbeiteten Geschichten auf Englisch, so daß auch die nicht des Japanischen kundigen Anwesenden (und das dürfte die Mehrheit sein) zumindest eine grundsätzliche Ahnung davon gewinnen können, worum es hier eigentlich geht. Und obwohl man die Hirnverknotung, die PoiL Ueda in ähnlicher Form erzeugen wie auch schon PoiL in der Urform (und in etwas anderer Weise auch Don Vito), als Normalsterblicher nur für eine gewisse Zeit aushält, so führt die Distanz eines etwas über anderthalbstündigen Konzerts das Gros der Anwesenden offensichtlich noch nicht an die Grenze zum Nervigen. Das Quintett wird folgerichtig mit reichlich Applaus bedacht, läßt sich aber zu keiner Zugabe hinreißen. Macht nichts: Zu den eindrücklichsten Konzerterlebnissen des Jahres 2023 zählt dieses allemal. Roland Ludwig |
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