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Info
Zeit: 30.05.2020
Ort: Jena, Kulturbahnhof
Internet:
http://www.kuba-jena.de
http://www.zwo20.live/
http://www.facebook.com/MotherEngineRock/
http://www.heavypsychsounds.com
Im Iran ist das Szenario weitreichend bekannt: Da man als Metalband dort kaum Möglichkeiten besitzt, live aufzutreten, aber das Land bis in die allerletzte Provinz prima mit schnellem Internet versorgt ist, sind Online-Konzerte, per Stream aus dem heimischen Proberaum übertragen, dort gang und gäbe. In Deutschland mit seiner über Jahrhunderte gewachsenen Konzertkultur erschienen solche Szenarien lange schwer vorstellbar, bis, ja, bis dieses seltsame Virus pandemisch wurde und die behördlich verhängten Kontaktsperren das Konzertleben praktisch zum Erliegen brachten. Ergo kamen auch hier findige Köpfe auf die Idee, das Publikum zumindest online an wie auch immer gearteten Veranstaltungen teilhaben zu lassen. In Jena wurde daraus gleich eine ganze Reihe namens Zwo20 mit einem bunten Mix von der Lesung über den DJ-Set bis hin zum Rockkonzert, aufgezeichnet jeweils von einem engagierten lokalen Team ehrenamtlicher Medienmacher und in doppelter Weise zugänglich: als Livestream direkt während der Veranstaltung, aber auch danach noch (in leicht überarbeiteter Variante) dauerhaft abrufbar, beispielsweise auf www.zwo20.live, wo man zugleich die nächsten Daten und Künstler auskundschaften und selbstverständlich auch mit einer Spende die Arbeit der Jenaer Kulturmacher unterstützen kann.
Am Samstag vor Pfingsten ist von den verschiedenen an Zwo20 beteiligten Veranstaltern Cosmic Dawn an der Reihe, und zwar mit einem Konzert von Mother Engine aus Plauen, die bereits mehrfach im Kulturbahnhof gespielt haben. Die Aufbauarbeiten vor Ort haben schon am Freitag begonnen und noch weite Teile des Samstags angedauert – der technische Aufwand für so ein Event ist nachvollziehbarerweise viel größer als für ein „normales“ Konzert, selbst wenn Veit vom Theaterhaus Jena schon früher im Jahr, also unabhängig von coronisierten Entwicklungen, begonnen hatte, KuBa-Konzerte auch visuell aufzuzeichnen und auf Youtube zu publizieren, so dass ein gewisser Erfahrungsschatz bereits vorhanden ist. Aber dieser Abend ist doch nochmal deutlich anders gestaltet, und das gleich in mehrerlei Hinsicht.
Zum einen spielt die Band nicht auf der Bühne des Kulturbahnhofs, sondern im Parterre – Publikum ist ja keines da, also kann der Platz dort genutzt werden und bietet viel mehr Möglichkeiten für die Kameraführung und nicht zuletzt auch für den Sicherheitsabstand zwischen den Musikern untereinander sowie zwischen Musikern und Kameraleuten. Zum anderen bleibt die Soundanlage des großen Raumes ausgeschaltet – dort kommt lediglich das normale Spielsignal aus den einzelnen Boxen, wie das auch im heimischen Proberaum der Fall wäre. Dieses Signal geht zugleich aber hinüber in Kontrollraum 1, wo Stammtechniker Thomas quasi in der Art eines Aufnahmetechnikers im Tonstudio sitzt, Regisseur Veit die Bilder der acht Kameras (sechs fest installiert, zwei mobil bedient) zusammenschneidet und beide ihr gemeinsames Ergebnis in die weite Welt streamen. Für die Handvoll anderer Techniker und KuBa-Mitarbeiter, die nicht direkt für die Aufnahme benötigt werden, aber den Auf- und Abbau leisten und während des Konzertes für etwaige Notfälle bereitstehen, ist die große Eingangshalle des Saalbahnhofes, bei normalen Konzerten das Raucherareal, zum abstandsgewährleistenden Kontrollraum 2 umfunktioniert worden, wo man mittels einer Box und einer Großbildleinwand den Stream verfolgt und so gleich noch direktes Feedback nach drinnen geben kann, was so funktioniert wie gedacht und was nicht ganz so. Auch der Rezensent hält sich überwiegend in Kontrollraum 2 auf, verschafft sich während eines Songs aber auch einen direkten Liveeindruck im großen Raum, und zwar auf der Seite der Bar, die mittels eines Vorhanges vom Spielort der Band abgetrennt ist, ansonsten als Transferzone zwischen den beiden Kontrollräumen dient und von den Kameras nicht mit erfaßt wird – es braucht also niemand den Stream durchzuforsten, um vielleicht ein Bild des Rezensenten und dessen dekorativem dunkelrotem Schal aus 100% echter Merinowolle, der die Funktion des Mund-und-Nasen-Schutzes erfüllt, zu erhaschen ... Die zentrale Feststellung: Der Sound im großen Raum ist richtig gut, klar und in angenehmer Lautstärke.
Die Anfangszeit des Konzertes ist mit 20 Uhr verbrieft und wird auch eingehalten, was prompt zu Witzeleien, das sei das erste KuBa-Konzert, das pünktlich beginnt, führt. Mother Engine sind ein klassisches Powertrio im Seventies-Stoner-Grenzbereich, das rein instrumental agiert und an diesem Abend die Gelegenheit nutzt, fast den halben Set lang Material zu spielen, das noch niemand in konservierter Form besitzt, darunter mit dem den Arbeitstitel „Motorpsycho“ tragenden Stück sogar eine Nummer, die an diesem Abend ihre Livepremiere erfährt, von Gitarrist Chris launig angesagt: „Daran haben wir jetzt eine ganze Weile gearbeitet. War ja Zeit.“ Auch für die Band ist die Situation natürlich völlig ungewohnt, aber das Trio spielt seit 2011 in dieser Besetzung und ist daher auch nach einigen Monaten ohne Liveauftritte problemlos genau aufeinander eingespielt, und der eine weiß immer genau, was die beiden anderen im nächsten Moment machen werden. Daß trotzdem eine gewisse Nervosität zu spüren ist, ist ganz normal, aber das bleibt auf einige Momente beschränkt, und man bemerkt auch, wie diese im Verlaufe des Konzertes mehr und mehr verschwindet und sich die Band förmlich „freispielt“. Chris beginnt seine erste Ansage nach dem Opener und Titeltrack des noch immer aktuellsten 2017er Albums, „Hangar“, dabei in Englisch, wechselt aber bald ins Deutsche und stattet seine Verbalbeiträge mit einer gewissen Portion Humor aus („Wir wissen ja nicht, wer zuschaut und wo. Und wir sind höllisch aufgeregt, weil ja vielleicht auch Mutti zuschaut.“); auch die Selbstironie über sinnloses Geschwafel bei Livestreams hat was für sich. Sonderlich viele Gelegenheiten zur Verbalpräsentation gibt es aber sowieso nicht – die Songs des Trios sind urlang, und in die knapp zwei Stunden Konzertdauer passen folglich gerade mal sechs Nummern. Schon „Hangar“ hat das Können des Trios, was Dynamikgestaltungen angeht, eindrucksvoll deutlich gemacht, und die neuen Werke stellen klar, dass sich daran nichts ändern wird und dass auch das Händchen für Detailgestaltung erhalten geblieben ist – hier ein hubschrauberartiger Effekt a la Monster Magnet, da ein sitarartiges Outro und dort sogar ein fast bluesverdächtiges Intro. Der finale Doppelschlag „Weihe/Leerlauf“ bekommt wieder so eine schräge Ansage („Wir haben noch 20 Minuten, wir spielen noch einen Song“), ergänzt durch ein Dankeschön an die zuschauende Welt im besten English for Runaways. Abermals zaubert die Band gelungene Dynamiken auf die Bretter, musiziert spannungsgeladen und spielfreudig, als stünde sie vor einem Millionenpublikum – was ja in gewisser Weise auch zutrifft, denn niemand weiß, wie viele Menschen in der Zukunft den Stream noch anschauen werden. An diesem Abend aber sind es 852, gibt Veit am Ende bekannt – also ein Mehrfaches der physischen Publikumskapazität im Kulturbahnhof und schon allein deshalb ein schöner Erfolg. Wer sich nachträglich das Ganze noch anschauen will, bekommt eine geringfügig überarbeitete Version zu sehen – in der Livesituation klappt eben doch nicht immer alles optimal, läuft mal ein Kameramann durchs Bild oder erwischt der Regisseur von einem dramatischen Moment, wo die beiden Saitenspieler die Hälse ihrer Instrumente kreuzweise nach oben recken, nur noch den letzten Augenblick. Solche Dinge bügelt man in einem Nachschnitt dann natürlich noch aus, und vielleicht gelingt es auch, die auf der eigentlichen Bühne aufgebaute Großbildleinwand hier und da noch ein wenig besser präsentiert zu bekommen, denn dort läuft während des Konzertes das Bild einer US-Nachrichtensendung mit Liveübertragung vom SpaceX-Raketenstart aus Florida, was bei einer Band wie Mother Engine, die ihren Namen auch mit Songtiteln wie „Tokamak“ (schon fixiert – dahinter verbirgt sich ein sowjetischer Fusionsreaktor) oder „Diazed“ (noch ein Arbeitstitel aus der Elektrotechnik) unterstreicht, natürlich exzellent paßt. Die Schlußeinstellung hat dann puren Kultwert: Die Band verläßt den Spielraum, geht zur Bar und bekommt ein hochgeistiges Getränk serviert, bevor das Finale dem an die Südwand neben der Bar gemalten Lemmy-Bild gehört. Feine Sache und definitiv unterstützenswert – natürlich kein Ersatz fürs hoffentlich bald wieder möglich werdende „richtige“ Livekonzert, aber ein erster Schritt auf dem Weg zu so etwas wie Normalität.
Roland Ludwig
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