Eine Ansammlung struktureller Sonderfälle: Das Philharmonische Orchester Altenburg-Gera spielt Schumann, Schostakowitsch und (statt Schleiermacher) Beethoven
In Zeiten von Pandemie und Krieg ist man konzertseitige Umplanungen mittlerweile gewöhnt – aber kaum ein Konzertprogramm hat so viele davon erleben müssen wie das dieses Abends. Ursprünglich sollte es anno 2020 das Abschiedskonzert von Laurent Wagner als Generalmusikdirektor des Altenburg-Geraer Theaters bilden, und dieser hatte Steffen Schleiermacher sogar mit einer Komposition dafür beauftragt. Aber da kam zunächst die Pandemie dazwischen: Wagner ging zwar tatsächlich, aber die Abstandsregelungen, die ihm wenigstens überhaupt ein Abschiedskonzert ermöglichten, ließen nur eins mit klein besetzten Orchesterwerken zu. Diverse weitere Versuche, das eigentlich angedachte Programm anzusetzen, scheiterten, bis letztlich das 6. Philharmonische Konzert der Saison 2022/23 mit ebenjenen Werken bestückt werden konnte – und zwar unter Leitung Wagners, der als Gastdirigent für dieses Konzert an seine alte Wirkungsstätte zurückkehrte. Soweit, so gut? Mitnichten. Die beiden Aufführungen am Mittwoch und Donnerstag in Gera laufen noch normal, aber am Freitagvormittag meldet sich Alejandro Lárraga Schleske krank, der Sänger in Schleiermachers „Umbra Vitae – Szenen für Bariton und Orchester mit Texten von Georg Heym“. Für eine solche Uraufführung einen Ersatzsänger aus dem Hut zu zaubern ist praktisch unmöglich, und so kann dieses Werk in Altenburg nicht gespielt werden – doppelt bitter, weil es an diesem Abend mitgeschnitten werden sollte. Die Hut-Zauberei ergibt aber zumindest ein „Ersatzwerk“, nämlich die Romanze F-Dur für Violine und Orchester von Ludwig van Beethoven mit Konzertmeister Marek Pavelac an der Solovioline, der indes die beiden anderen Stücke weiter regulär als Konzertmeister mitspielt. Am Anfang aber stehen Ouvertüre, Scherzo und Finale E-Dur op. 52 von Robert Schumann, also quasi eine Sinfonie ohne langsamen Satz, wobei die Ouvertüre ursprünglich ein Eigenleben hätte führen sollen, bevor der Komponist sie noch um die beiden anderen Sätze ergänzte. Wagner und das Orchester haben offenkundig sofort wieder eine gemeinsame musikalische Sprache gefunden – der Dirigent legt einen großen Bogen über die Ouvertüre, von der gekonnten Lieblichkeit in der Einleitung, die nur gelegentlich Schärfe aus den Tiefstreichern verpaßt bekommt, über den deutlicher gezeichneten schnellen Hauptteil, dessen romantisches Fließen trotzdem erhalten bleibt, bis hin zum fast wienerisch anmutenden Satzschluß, den man sich in der Tat auch problemlos als Werkschluß vorstellen könnte. Aber in der „Vollversion“ kommt natürlich noch was. Das Scherzo nimmt Wagner sehr zügig und rhythmusbetont, aber ohne damit irgendwie ein aggressives Feeling zu verbinden, während der Mittelteil ein flottes Nocturne bietet (das muß man auch erstmal hinkriegen) und witzig mit dem Außenteil verschränkt wird. Im Finale mischt Wagner Zackigkeit und Eleganz in meisterhafter Weise, wobei er aber lange Zeit auf ein stets treibendes Tempo setzt, also auch den Verharrungen immer noch einen Vorwärtsdrang einimpft. Grooviges Gesäge bleibt trotzdem kein Fremdwort, zumal ja auch noch ein großer hymnischer Schluß zu gestalten ist. Hier macht sich zudem der nächste ungeplante Faktor bemerkbar: Eine Kaltfront zieht mit Sturmböen und Regen über Altenburg, kommt im Scherzo an und tobt sich im Finale dann richtig aus. Die Aufhängung des Zeltes knarrt und ächzt, und der auf die Zeltbahnen niederprasselnde Regen verleiht dem hymnischen Schluß einen ganz eigentümlichen atmosphärischen Dramatik-Unterbau. „Die ‚Wassermusik‘ würde sich jetzt anbieten“, witzelt man in der Reihe hinter dem Rezensenten, aber es gibt nicht Händel, sondern die erwähnte Beethoven-Romanze. Solist und Orchester überzeugen sogleich mit noblem Tonfall, Wagner wählt bedächtige Tempi und zieht den Klang in die Breite, so dass lange Zeit alles fließt, so wie der Regen übers Zeltdach. Die ersten Impulse zur Schärfung des Gesamtbildes gehen von Pavelac aus, bleiben aber ebenso im Rahmen wie die späteren Dynamikeffekte aus den Celli – ein großes Ganzes ist da entstanden, für dessen Aus-dem-Hut-Zauberung, noch dazu in dieser Qualität, dem Philharmonischen Orchester Altenburg-Gera höchster Respekt gebührt. Sehr viel Applaus ist die logische Folge, eine Zugabe packt Pavelac aber nicht noch aus. Der letzte strukturelle Sonderfall des Konzertabends, immerhin ein geplanter, leitet dessen zweiten Teil ein: Der Solokontrafagottist Michael Böhme spielt nach 34 Dienstjahren sein letztes Konzert und wird feierlich in den Ruhestand verabschiedet. Aufmerksame Besucher stellen fest, dass außer ihm nur noch sechs „alte Altenburger“ auf der Bühne sitzen, also Musiker, die vor der Fusion der Theater in Altenburg und Gera anno 1995 in der damaligen Landeskapelle Altenburg gespielt hatten, was immerhin auch schon wieder knapp 30 Jahre her ist. Dmitri Schostakowitsch hat in diesen knapp 30 Jahren immer mal eine Rolle im Repertoire gespielt, etwa mit der Oper „Lady Macbeth von Mzensk“, der Operette „Moskau – Tschenomjuschki“ (die der Rezensent leider verpaßt hat) oder einer sehr wirkmächtigen Aufführung der 7. Sinfonie, deren 1. Satz durch den schlauchartigen Bühnenaufbau im Altenburger Theater eine ganz spezielle Klangwucht in der bekannten Invasionsszenerie gewann, für die man sonst deutlich mehr Musiker brauchen würde. Die Soundverhältnisse im Theaterzelt sind nun aber wiederum andere als im Theatergebäude, und so darf man sehr gespannt sein, wie die an diesem Abend gespielte 5. Sinfonie d-Moll op. 47 klingt, noch dazu mit den dramatischen Außengeräuschen. Letztere steuern auch hier im 1. Satz, einem Moderato, überraschende Qualitäten bei. Wagner legt eine sehr behutsame Formung der Düsternis an den Tag, aus der einzelne geschärfte Abgründe hervorstechen – und die unheimliche Stimmung wird potenziert, wenn die Zeltaufhängung im stürmischen Wind wieder einmal knistert, als habe ihr letztes Stündlein geschlagen, und die Zeltbahnen knarren so, dass die Stimmung immer sinistrer wird. Das hindert Wagner aber natürlich nicht, die vom Komponisten vorgesehenen gelegentlichen Aufhellungen auch tatsächlich als Lichtpunkte zu positionieren. Quälend langsam ist das Tempo (auch das freilich mit Absicht), bis ein finsterer Marsch Vorwärtsdrang entfaltet und zu einem Zirkusmarsch mutiert, in dem die Schlagwerker Intensives zu leisten haben, auch ohne Donnerschläge von draußen. Für die großen Unisoni läßt sich Wagner noch Steigerungsmöglichkeiten offen, die liebliche Kammermusik bekommt auch späterhin keinen doppelten Boden eingeimpft, und die wiederkehrende Düsternis bleibt auch wohldosiert, inclusive des im Nichts verschwindenden Glockenspiels. Im Scherzo, einem Allegretto, wählt Wagner einen Mischweg aus rhythmischer Akzentuierung und Eleganz sowie für die Dreiertakte eine weite Spannbreite. Der Ironiefaktor bleibt hingegen überschaubar, am ausgeprägtesten inszeniert ihn der Dirigent in den wilden Schlußtakten. Ironie ist auch im Largo eigentlich nicht geplant und die Düsternis gar ein wenig lieblich – nur passen in diesem Fall die Wettergeräusche nicht dazu. Dass die Klangflächen bald karg werden, liegt aber nicht daran, sondern paßt in Wagners Strategie, der eine sehr weit zurückgenommene Sprache wählt und hochemotionale Ergebnisse erzielen könnte – wenn man sie denn wahrnehmen kann: Zumindest am Sitzplatz des Rezensenten verschwinden manche der Pianissimo-Streicherteppiche im Regengeräusch. Der Dirigent holt aus dem eher kleinen Orchesterklangraum allerdings enorm große Bögen, was ihm auch bei der fortschreitenden Dramatisierung und der behutsamen Satzschlußgestaltung in die Karten spielt. Das Allegro-non-troppo-Finale, das nahezu attacca anhängt, atmet viel Schärfe, auch viel Tempo, aber noch wenig Wucht – die hebt sich Wagner plangemäß fürs erste große Tutti auf, während sich kurioserweise draußen das Wetter schrittweise beruhigt, also keine Synchronizität mehr auftritt. Für die mal pseudoelegischen, mal wirklich düsteren Gestaltungen holt der Dirigent wieder einen ganz großen Spannungsbogen raus – und das Wetter hilft ihm noch einmal, als unter einer nur scheinbar lieblichen Harfe wieder die Zeltaufhängung knirscht, was sie auch in der Hauptthemawiederkehr noch tut. Den Beteiligten gelingt eine wunderbar gequält anmutende Hinleitung in den Schlußteil – und in dem kommt die sehr direkte Zeltakustik als letzter außergewöhnlicher Faktor zum Tragen: Das planmäßig eintönige finale Streichergesäge besitzt eine enorm grelle Klangfarbe und versetzt dem Hörer eine akustische Backpfeife nach der anderen. Eine derartige Wirkung hätte sich der Komponist wohl nicht träumen lassen, und da stört es auch nicht, dass der letzte Überwältigungsfaktor in diesem Finale fehlt. Die Spannung steht lange, ehe Bravi und viel Applaus für eine ungewöhnliche Aufführung, die einen ebenso ungewöhnlichen Konzertabend beschließt, ertönen. Die Kaltfront draußen ist zwischenzeitlich weitgehend durch, es regnet nur noch leicht. Roland Ludwig |
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