Mendelssohns „Paulus“ mit dem Gewandhausorchester und dem MDR-Rundfunkchor
Zweimal hat der Rezensent Felix Mendelssohn Bartholdys Oratorium „Paulus“ bisher live erlebt, nämlich 2007 in der Marienkirche in Pirna unter sehr schwierigen Soundbedingungen und 2009 in der Thomaskirche in Leipzig unter deutlich besseren, aber auch nicht ganz optimalen. Von daher ist er sehr gespannt, wie dieses großartige Werk in der glasklaren Akustik des Großen Saals im Gewandhaus wirken wird. Zwar galt Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons bisher nicht als ausgesprochener Mendelssohn-Spezialist, aber einen Draht zum Werk seines Amtsvorgängers hat er natürlich trotzdem (außerdem plant er in der Saison 2023/24 einen Mendelssohn-Orchesterzyklus), und sein Händchen für Dramatikgestaltungen sollte auch in diesem Fall äußerst nutzbringend sein, hofft man im Vorfeld – und neben dem Gewandhausorchester, das bekanntlich Mendelssohn mit der Muttermilch aufgesogen hat, ist ja auch noch der MDR-Rundfunkchor mit von der Partie, der verbriefterweise zu den Allerbesten seines Fachs zählt. Auch diese Ansammlung von Könnern braucht aber im ersten der drei Konzerte in der letzten Februarwoche teilweise ein bißchen Anlaufzeit: Zwar macht Nelsons von der ersten Sekunde des die Ouvertüre eröffnenden Chorals klar, dass das Sentiment des in die Breite gezogenen und hochtransparenten Klanges eine wichtige Rolle während der nächsten über zwei Netto-Stunden spielen wird, und seine Instrumentalisten folgen ihm auch willig auf diesem Pfad, aber die ersten Dramatisierungen wirken doch etwas nervös, und erst allmählich gelingt eine Straffung, zu der der wohldosierte Orgelbombast sein Scherflein beiträgt. Auch der von seinem Chef Philipp Ahmann einstudierte Chor macht bereits in „Herr, der du bist der Gott“ (Nr. 2) vieles richtig, findet den Entrückungsfaktor aber erst in „Allein Gott in der Höh sei Ehr“ (Nr. 3), gewinnt in „Dieser Mensch hört nicht auf zu reden Lästerworte“ (Nr. 5) die endgültig passende zupackende Struktur und behält die Tugenden dann auch bei, egal was von ihm gefordert wird. Nelsons dosiert die Dramatik allerdings so, dass die Steinigungsaufforderungen gegenüber Stephanus in „Steiniget ihn! Er lästert Gott“ (Nr. 8) akustisch noch nicht am Existentiellen kratzen, obwohl Stephanus die Szene bekanntlich nicht überlebt – nach hinten heraus müssen aus musikalischen Gründen noch Steigerungsmöglichkeiten offenbleiben. Generell fällt allerdings auch weiterhin auf, dass die Haupttrümpfe dieser Aufführung die entrückten Passagen sind, die nicht mal der Erkältungsstand des Publikums entscheidend trüben kann – im Gegenteil: Was der Chor beispielsweise in „Dir, Herr, dir will ich mich ergeben“ (Nr. 9) fabriziert, ist einfach nur schön. Aber alles wird von Nr. 14 in den Schatten gestellt, wo sich sängerisch wie instrumental ein Höhepunkt an den nächsten reiht – und für die Ätherik, die die Chordamen in „Saul, Saul, was verfolgst du mich?“ legen, und für den riesigen Bogen, den sie unter Nelsons’ Stabführung bis hin zu ihrem letzten Einsatz in dieser Nummer schlagen, möchte man am liebsten jeder einzelnen einen Heiratsantrag machen. Die Instrumentalisten wollen nicht nachstehen: Wie die Blechbläser in ihren Interludien des Chorals „Wachet auf! ruft uns die Stimme“ (Nr. 16) auf dem Grat zwischen Glanz und Eleganz balancieren, muß ihnen erstmal jemand nachmachen. Und die übergroße Klasse des Dirigenten, der wieder mal gern völlig lässig wirkend mit der Hand hinten am Pultgeländer dirigiert, wird in „O welch eine Tiefe des Reichtums der Weisheit und Erkenntnis Gottes!“, als Nr. 22 Abschluß des ersten Teiles, deutlich: Wie Nelsons die Klangmassen hier in brillanter Weise formt, zeigt seine Erfahrung mit der Durchdringung großer spätromantischer Klangwelten (von deren Existenz Mendelssohn natürlich noch nichts ahnen konnte, aber die seinem Werk zu ungeahnten Qualitäten verhelfen können, wenn richtig angewendet wie eben an diesem Abend) und läßt zugleich Vorfreude aufkommen, wie dieser Mann beim Mahler-Festival im Mai 2023 dessen Zweite gestalten wird. Die vier Solisten reihen sich in das hohe Niveau problemlos ein, wenngleich mit Unterschieden. Bassist Georg Zeppenfeld ist kurzfristig für den erkrankten Christian Gerhaher eingesprungen, schlägt sich aber exzellent durch die für einen Baß teils recht hohe Rolle – dass er sich mit Tenor Werner Güra nicht in allen Duett-Details ganz einig ist, verblaßt da problemlos, zumal auch Güra eigenständig betrachtet seine Rolle als Quasi-Evangelist prima ausfüllt und nur gelegentlich gegen das Orchester untergeht. Altistin Wiebke Lehmkuhl hat im ersten Teil wenig zu tun und im zweiten dann gar nichts mehr, was irgendwie schade ist – mit ihrer eher breit gelagerten Stimme, die einerseits eine für die Stimmlage enorme Durchsetzungsfähigkeit besitzt, aber andererseits problemlos auch bis ins spannende stimmlose Verebben geführt werden kann, hätte man gern mehr von ihr gehört. Bleibt Sopranistin Julia Kleiter, die ebenfalls eine Rolle als Quasi-Evangelistin zu erfüllen hat und das anfangs mit einem Mix aus Textverständlichkeit und opereskem Gestus versucht, was seltsam anmutet, wenngleich es vor allem in den ruhigen Teilen durchaus ergreifend daherkommt und die schöne runde Stimme per se sowieso überzeugt. Aber so richtig in ihre Erzählerrolle findet die Sopranistin erst im zweiten Teil, wo sie viel mehr Lockerheit an den Tag legt und die Tugenden aus dem ersten Teil trotzdem weiter pflegt. Die brillante weiche Höhe im letzten Wort („ewiglich“) von Szene 3, nach der man am liebsten in Szenenapplaus ausbrechen würde, säße man nicht staunend, starr und mit offenem Mund da, bildet da nur einen von etlichen Höhepunkten. Nelsons und das Orchester liefern weitere solche, beginnend gleich mit „Der Erdkreis ist nun des Herrn“, als Nr. 23 den zweiten Teil eröffnend, worin sofort die Massenbeherrschungstugenden aus dem Finale des ersten Teils wieder gefragt sind, die Nelsons abermals gekonnt aus dem Ärmel schüttelt. Den Dramatikhöhepunkt setzt er in Nr. 38 in „Hier ist des Herren Tempel“, als das Volk Paulus die Steinigung androht, sie letztlich aber nicht vollzieht. Den Schlußchor dagegen nimmt er eher zurück, damit eine feiste, aber nicht überfettete Gestaltung hervorzaubernd – einer von vielen Geniestreichen dieses Abends, vor denen die kleinen Problemfälle, von denen einige sicherlich in den Aufführungen Nr. 2 und 3 schon Geschichte gewesen sein werden, im Prinzip bedeutungslos sind. Tosender Applaus bricht sofort aus, Bravi hallen durch den Raum, und die Deutsche Grammophon darf sich glücklich schätzen: Der bei den Konzerten entstehende Tonträger könnte Referenzcharakter bekommen, wie man Mendelssohn mit knapp 200 Jahren mehr musikgeschichtlicher Erfahrung spielen kann. Roland Ludwig |
|
|
|