Nächtlicher Pomp: Das Gewandhausorchester spielt Britten und Elgar (und Bach)
Die große Weltpolitik macht auch vor dem Gewandhaus nicht halt, darf das in diesem Falle auch gar nicht: Leipzig und Kiew pflegen seit mehr als 60 Jahren eine Städtepartnerschaft, und vor diesem Hintergrund bekommt die Lage in der Ukraine aus Leipziger Sicht noch einmal eine ganz andere Dimension. Ergo verlesen Orchestervorstandsmitglied Matthias Schreiber und Gewandhausdirektor Andreas Schulz vor Konzertbeginn einen Appell zum Frieden, den es in ähnlichem Wortlaut auch auf einem Beileger des Programmhefts gibt, und zudem erklingt außer den beiden planmäßigen Werken des Konzerts noch ein drittes. Das hätte ursprünglich „Ukraina – den Opfern des Krieges“ des aus der Ukraine stammenden und bei den Bamberger Symphonikern spielenden Cellisten und Komponisten Eduard Resatsch sein sollen, gemäß der Beschreibung offenbar so eine Art Follow-up und gleichzeitig Antithese zu Tschaikowskis „Ouvertüre 1812“. Diese Idee ist aber wieder fallengelassen worden – statt dessen gibt es eine Orchesterfassung von „Verleih uns Frieden gnädiglich“ aus der Feder des größten aller Thomaskantoren. Nun hat das Gewandhausorchester ja praktisch Bach im Blut, weil es die orchesterinstrumentalen Aufgaben der Kirchenmusik in der Thomaskirche erfüllt, und so stellt die sehr kurzfristige Wahl den Musikern auch keine wesentlichen Probleme, so dass Dirigent Daniel Harding (Foto) gar nicht groß die Richtung weisen muß. Dass da z.B. im Blech hier und da mal kurz was wackelt – geschenkt: Die erzeugte Stimmung paßt, und darauf (nur darauf) kommt es im gegebenen Kontext an. Die Spannung am Ende kann man förmlich mit Händen greifen, sie auflösenden Applaus gibt es nicht, und auch das ist gut so. Das eigentliche Programm ist ein rein englisches – eher eine Seltenheit beim Gewandhausorchester, wo das Repertoire von der brexitären Insel nur gelegentlich mal auf den Spielplänen erscheint. So verwundert es nicht, dass das Nocturne op. 60 von Benjamin Britten innerhalb dieses Großen Concerts seine Gewandhauspremiere feiert, obwohl der letzte der vier Orchesterliederzyklen Brittens sich allgemein durchaus einer gewissen Beliebtheit erfreut. Für einen britischen Dirigenten ist das wiederum natürlich ein Heimspiel, zumal mit einem erstklassigen Sänger wie Andrew Staples an seiner Seite. Die beiden haben schon Schumanns „Faust-Szenen“ gemeinsam eingespielt, wissen also, was sie voneinander zu halten haben, und das ist gerade bei Britten, der der Gesangsstimme gern ein bißchen mehr Autarkie von der instrumentalen Untermalung gönnt, als das viele Kollegen taten, ein Trumpf. Dass Staples darüber hinaus aber einen derart geschmeidigen Tenor ins Feld führt, wie man ihn sich auch von Brittens Lebensgefährten und Uraufführungssänger Peter Pears vorstellen kann (den der Rezensent nie live erlebt hat, weshalb die Formulierung in Konjunktivform erfolgen muß), hilft der Qualität der Aufführung gleichfalls ungemein. Die acht Sätze gehen allesamt ineinander über, in fünf davon tritt jeweils ein obligates Instrument zusätzlich in den Vordergrund, in einem weiteren sind es deren zwei, der Kopfsatz kommt ohne ein solches aus, und im Finalsatz spielen dann alle sieben gemeinsam mit dem Tenor und dem in Streichorchesterbesetzung agierenden Hauptklangkörper. Das Zusatzseptett sitzt in der Reihenfolge Horn/Fagott/Klarinette/Flöte/Englischhorn/Pauken/Harfe hinten in der Mitte bzw. rechts außen, und diese Reihenfolge entspricht interessanterweise nicht der Einsatzreihenfolge. Was uns hier bevorsteht, macht schon der erste Satz klar, wie alle ein Gedicht eines englischen Autoren vertonend, wobei das Spektrum von Shakespeare bis zu Wilfred Owen reicht, von welchletzterem Britten kurze Zeit später auch sein berühmtes War Requiem speiste – und ein paar Ähnlichkeiten in den dunklen Färbungen der Tonsprache dürften kein Zufall sein, wenngleich die Dunkelheit im Nocturne tatsächlich primär noch von der astronomischen Nacht herrührt und erst sekundär von der geistigen Umnachtung, in die so mancher Soldat verfällt. „On a poet’s lips I slept“ führt jedenfalls sehr ätherisch ins Geschehen ein, sogar noch im Tutti, und darüber thront dann wie erwähnt Staples‘ glasklare Stimme, die selbst noch in verhältnismäßig harten Passagen eine überraschende Eleganz ausstrahlt. Das trifft auch im zweiten Satz „Below the thunders of the upper deep“ noch zu, wobei aufgrund der gesteigerten Dramatik die Aufgabe hier nochmal an Schwierigkeit gewonnen hat, was Staples und Harding aber nur ein Lächeln kostet. Die förmlich erschrocken anmutenden Duette von Fagottist Riccardo Terzo (kein Scherz, der Mann heißt wirklich so) mit dem Orchester könnte man auch Duelle nennen, und das letzte Wort des Textes heißt „die“ – wenn man sich vergegenwärtigt, mit welcher sanften Eindringlichkeit Staples das (nach harter Hinführung) singt, möchte man beinahe auch sterben. Dann würde man aber noch sechs Sätze verpassen, etwa „Encinctured with a twine of leaves“ mit seinem geschickten Mix aus Ruhe und unterschwelliger Nervosität (hier ist Harfenistin Carmen Alcantara Fernandez aktiv) oder „Midnight’s bell“, in dem Hornist Ralf Götz neben anderen Dingen auch die „Titelrolle“ zukommt, die interessanterweise alles andere als synchron zu Staples‘ Onomatopoesie läuft. „But that night“ fährt die bisher größte Dramatik auf, Pauker Tom Greenleaves teils wildes Gedonner entlockend, aber mit den acht im Nichts verschwindenden Schlägen zum Schluß die zyklische Form des Satzes wieder aufgreifend. Gundel Jannemann-Fischer hat in „She sleeps on soft, last breaths“ eingangs ein langes Englischhorn-Solo zu spielen – und dass sie eine Großmeisterin der Stimmungserzeugung ist, stellt für den regelmäßigen Gewandhausorchester-Hörer keine Neuigkeit mehr dar. Der Satz ist der eskapistischste, romantischste, vielleicht auch nekromantischste unter den acht, und das ist der mit dem Owen-Text. „What is more gentle than a wind in summer?“ fragt Satz 7, und nach einer bedächtigen Streicher-Überleitung geben Flötist Christian Sprenger (ein Gast der „Hauskollegen“ vom MDR-Sinfonieorchester, der als kürzestfristiger Ersatzmann des kurzfristigen Ersatzmannes der eigentlich vorgesehenen Cornelia Grohmann agiert, was man freilich allein aus der musikalischen Leistung heraus nicht einmal ahnen würde) und Klarinettist Peter Schurrock die Antwort mit quicklebendigem Spiel überwiegend im Alleingang, wobei allerdings auch einige „typische“ spätromantische Akkorde kommen, die sich dann im Finalsatz „When most I wink“ hier und da zu Flächen ausbauen. Harding bekommt den vorwärtsdrängenden Charakter gut auf die Bretter, legt auch die große Dramatiksteigerung fast ideal an, und nur der Aspekt, dass man Staples dort nur noch akustisch wahrnimmt, aber nicht mehr textlich, sorgt für die Einfügung des Wortes „fast“. Macht aber nichts: Der Tenor liefert eine Zeile Zusammenbruch und dann zwei Zeilen ätherischen Ausklang, der den Bogen zum Beginn des ersten Satzes schlägt und die gleichen Tugenden wie dort atmet, letztlich ins Nichts verschwindend. Da steht die Spannung wieder – diesmal ertönt aber natürlich Applaus, und nicht zu knapp. Eine Zugabe gibt es aber nicht, und der Konzertmeister beendet die Versammlung auf der Bühne bereits nach dem zweiten Vorhang recht abrupt. Auch Edward Elgars 2. Sinfonie Es-Dur op. 65 ist im Gewandhaus-Kontext bisher eine Rarität geblieben und liegt erst zum zweiten Mal auf den Pulten des Gewandhausorchesters. 1911 uraufgeführt, fünf Tage vor Gustav Mahlers Tod, geht Elgar dessen experimentellen Weg nicht mit, sondern verbleibt grundsätzlich in der schwelgerischen Spätromantik, gern auch mit nächtlichen Stimmungsanklängen, was den Bogen zur von Britten vertonten „Nachtlyrik“ schlägt. „Allegro vivace e nobilmente“ steht allerdings gleich über dem ersten Satz, und nobel ist das auch, was Daniel Harding hier aus dem Orchester lockt, etwa das schwingende Tempo aus den Celli, die grundsätzlich eher in die Breite gezogenen Klänge (typisch beim Seitenthema, aber auch schon im Hauptthema spürbar) oder die grundsätzliche Lieblichkeit, mit der schon der gleich in die vollen gehende erste Einsatz ausgestattet wird. Über die flott-munteren Momente in der Durchführung freut man sich zwar auch, die richtige Tiefe gelingt Harding und dem Orchester an diesem Abend aber in den fahlen Rücknahmephasen, gekrönt durch die völlig sinistre Wirkung der im Piano hämmernden Großen Trommel, der die analoge Passage aus der Kleinen Trommel nur wenig nachsteht. Dass Elgar seinen Wagner gelernt hat, verhehlt Harding nicht, sondern arbeitet die sowohl an diesen als auch an Bruckner gemahnenden Passagen deutlich heraus, entwickelt auch in der weiteren Folge einigen Zug zum Tor und zaubert kurz vor dem guten, aber nicht weiter umwerfenden Schlußlärm noch eine dieser überirdisch anmutenden Verharrungen aus dem Ärmel. Angesichts dieser Lage freut man sich auf das Larghetto besonders. Harding begeht nicht den Fehler, es als Adagio zu lesen – es hat einen Trauermarschhintergrund, aber stürzt den Hörer nicht gleich mit in den Zweimeterstollen. Das Hauptthema ist folglich angedüstert, aber nicht zu finster, und zu sehr schleichend sollte man es daher nicht nehmen, was Harding auch nicht tut. Statt dessen entwickelt er das Geschehen elegant und unaufgeregt, behutsam und feierlich, aber selbst in Stillstandsnähe nicht existentialistisch. Einer geschickten Dynamiksteigerung hin zum großen feierlichen Ausbruch folgt eine noch geschicktere Verschleppung in Trauermarschnähe, aber eben nur in diese. Der Schlußbombast besitzt einiges an Größe, das Blech kommt (trotz fehlenden Fernorchesters) beim Sitzplatz des Rezensenten mit einer Art Surroundeffekt an, und der Satz mündet letztlich mehrstufig im Nichts, wenngleich nicht ganz so weit im Äther wie diverse Preziosen bei Britten. Das Scherzo ist hier in Rondoform gehalten, als Tempo Presto vorgeschrieben, und so entwickelt sich von Beginn an ein munteres Treiben, das aber trotzdem einige Abgründe enthält. Harding dirigiert flüssig und trotzdem akzentuiert, hält sich allerdings von Extremen fern: Die große Schlagzeugwoge besitzt einiges an Dominanz, aber davon, dass der Hörer in ihr ertrinkt, wie Elgar das eigentlich anstrebte, kann hier nicht die Rede sein. Statt dessen zieht der Dirigent in der Folge den Klang wieder weit auseinander, und obwohl er sich auch im Satzschluß von etwaigen Erwartungshaltungen nach dem Erklimmen von Dynamikgipfel widersetzt, muß ihm andererseits die Kombination aus zackigen und zugleich rund wirkenden Klängen erstmal jemand nachmachen. Das Finale ist „Moderato e maestoso“ überschrieben – Harding wählt allerdings einen überraschend lockeren Groove, und ein paar Holzbläsereinlagen hinterlassen einen fast böhmischen Eindruck. Aus dem Paukengedonner kommt schon viel Energie, und einige der Schichtungen nimmt der Dirigent stärker blockweise als bisher, aber er bleibt flexibel: Marschansätze aus dem Nichts holen? Anflüge von Witzigkeit? Ein ironiefreier „Pomp and Circumstance“-Anklang gar? Alles kein Problem, und die Musiker folgen ihm willig, wenngleich sich in den Verzögerungen nicht immer alle einig sind. Mehrere Anläufe zu einem Finaltriumph scheitern planmäßig, die Rückführung zum Frieden gelingt Harding und dem Orchester kongenial (ein ungewollt perfekter Kreisschluß zum Appell am Beginn des Konzertes), und so steht am Ende gekonnte große Feierlichkeit mit viel Spannung, die durch ein Störgeräusch und einige, die die Applausverharrung gar nicht mehr aushalten, nicht gebrochen wird – der dann losbrechende Applaus ist abermals befreiend, intensiv, langanhaltend und hochverdient. Roland Ludwig |
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