Coitus interruptus: Widmann und Bruckner mit dem Gewandhausorchester
Als Kulminationspunkt der Feierlichkeiten zum 275jährigen Bestehen des Gewandhausorchesters ist das dritte Große Concert der Festwochen gedacht: Das Programm erklingt nicht nur wie üblich am Donnerstag- und Freitagabend, sondern auch im Rahmen des Festkonzertes justament an dem Datum 11. März, als anno 1743 die neue Leipziger Konzertgesellschaft erstmals zusammentrat. In selbiges Festkonzert ist der öffentliche Teil von Andris Nelsons‘ offizieller Inauguration als 21. Gewandhauskapellmeister integriert (das Amt angetreten hat er bereits im Februar), und außerdem stehen zwei strukturell besondere Werke auf dem Programm. Das zweite hat das Gewandhausorchester anno 1884 uraufgeführt – dazu später mehr. Auf das erste Werk trifft der Aspekt, dass es vom Gewandhausorchester uraufgeführt worden ist, gleichfalls zu, nur lautet die Jahreszahl auf 2018: Es ist das Auftragswerk des Orchesters für die aktuellen Feierlichkeiten (der Auftrag erging gemeinsam mit dem Boston Symphony Orchestra, dem Nelsons bekanntlich gleichermaßen vorsteht), und es stammt von Jörg Widmann (Foto), der in der aktuellen Saison auf Anregung des Dirigenten als erster offizieller Gewandhauskoponist (vergleichbar dem bei Sängern und Instrumentalisten wohlbekannten artist in residence) fungiert. Fertiggeworden ist es erst am Montag besagter Woche, in der der Rezensent am Freitag die zweite Aufführung erlebt. Partita – Fünf Reminiszenzen für großes Orchester heißt es, und es nimmt in den Sätzen mehr oder weniger direkten Bezug auf Werke bzw. Fragmente von Komponisten, die in der Leipziger Musikgeschichte eine relativ zentrale Rolle gespielt haben, wobei Bach erwarteter- wie überraschenderweise an hervorgehobener Stelle vorkommt: erwarteterweise, weil er der Leipziger Säulenheilige der Musik ist, überraschenderweise hingegen, weil seine Musik am Gewandhaus nie eine größere Rolle spielte und bis heute nicht spielt, abgesehen davon, dass es fast jeder Instrumentalsolist als seine Pflicht ansieht, für die Zugabe ein Stück des großen Sebastian zu wählen. Was da nun in den fünf Sätzen für Querverbindungen stehen und wie sie sich entwickeln, das hat Ann-Katrin Zimmermann im diesmal extra dicken Programmheft so ausführlich dargelegt, dass das kaum besser zu machen geht, weswegen sich die Beschreibung hier auf einige auffällige Splitter beschränken soll. Der erste Satz ist zweigeteilt, hebt mit einem Grave-Teil an, der in geschickter Dynamikschichtung zu einer Gigue überleitet, welche allerdings nie richtig in Fahrt kommt und die bei Neuer Musik übliche Frage hinterläßt, ob das so gewollt war. Die Antwort lautet scheinbar Ja, denn Widmann arbeitet auch in den weiteren Sätzen mit ironischer Distanzierung, mal mehr, mal weniger gelungen. Das Andante lebt von seinem Spannungsfeld aus einer Mendelssohnschen Englischhorn-Melodie mit harmonischen Störfaktoren, das Divertimento dagegen entpuppt sich als bösartige Barockparodie der Marke „P.D.Q. Bach auf unwitzig“. Der seltsame Mix aus schleppendem Tempo und gellender Schrillheit in der Sarabande beginnt irgendwann Charme zu entwickeln, und im Schlußteil entsteht sogar richtige Tiefenspannung. Die Variationen über die Tonleiter in der abschließenden Chaconne wiederum könnte man als Parodie der Passacaglia aus Brahms‘ Vierter deuten, die böswillige Zeitgenossen mit den Worten „Mir fällt heut wieder gar nichts ein“ unterlegt hatten, wohingegen das systematische Exzelsior bei Widmann ebenso Aufmerksamkeit verdient wie die Kontrastwirkung zwischen dem die höchstmöglichen Geigentöne erzeugenden Konzertmeister Frank-Michael Erben und den im Untergrund sägenden Kontrabässen. Die nächste, abermals sehr geschickte Steigerung mündet in einen Bombastschluß mit Ironiewirkung, wobei sich der Rezensent abermals kein Urteil erlaubt, ob diese wohl beabsichtigt war oder nicht. Der selbst anwesende Komponist und die Musiker bekommen für eine Uraufführung im Gewandhaus, dessen Publikum allgemein nicht eben als innovationsfreudig gilt, jedenfalls ziemlich viel Applaus, aber das erscheint irgendwie logisch, denn innovationsfreudig ist das Stück ja auch nicht. Anton Bruckners 7. Sinfonie E-Dur war wie eingangs erwähnt anno 1884 vom Gewandhausorchester uraufgeführt worden, allerdings nicht im erst wenige Tage zuvor eröffneten Zweiten Gewandhaus (das dann nach knapp sechzigjähriger Existenz 1944 einem Bombenangriff zum Opfer fiel), sondern im Neuen Theater, wo das Orchester seinen Dienst als Opernorchester versah, aber zugleich auch Konzerte, sogar mit Abonnementsystem, spielte. Am Pult stand weiland nicht Gewandhauskapellmeister Carl Reinecke, sondern Theaterkapellmeister Arthur Nikisch, der dann erst elf Jahre und einen mehrjährigen Chefposten in Boston später Reinecke als Gewandhauskapellmeister nachfolgen sollte. Die Uraufführung wurde zu einem Erfolg und markierte gleichzeitig den internationalen Durchbruch des bereits 60jährigen Komponisten, der bis dahin weitgehend an der Ignoranz seiner Zeitgenossen und ungünstigen Rahmenbedingungen gescheitert war. Das mit der Ignoranz hat sich aus heutiger Perspektive natürlich erledigt, aber unter ungünstigen Rahmenbedingungen kann ein Konzert auch in der Jetztzeit noch leiden, selbst wenn seitens der Organisatoren alles Menschenmögliche getan worden ist, um günstige Bedingungen zu erzeugen. Und Peter Korfmacher, Kulturchef der Leipziger Volkszeitung, hatte seine Rezension des Konzerts der Vorwoche (bei welchem auch der hier tippende Rezensent anwesend war und sich über eine extrem starke Wiedergabe von Schostakowitschs Achter freuen durfte – siehe die zugehörige Rezension auf diesen Seiten) sogar noch mit der sarkastischen Bemerkung abgeschlossen, dass schon wenige strategisch günstig im Raum plazierte hartnäckige Huster genügen, um dem ganzen Saal den Konzertgenuß zu verderben. Offenbar hat das Publikum dieses Abends besagten Sarkasmus völlig mißverstanden: Ein derart unruhiges Auditorium hat der Rezensent bei seinen vielen hundert bisher besuchten Konzerten noch nicht erlebt, und dass ein Dirigent die akustisch ganz weit unten anhebende Einleitung des ersten Satzes, die gleich eine enorme Spannung erzeugen soll, nach wenigen Sekunden abbricht, weil genau in diesen Part hinein wieder jemand hustet, ist ihm auch noch nicht untergekommen. In dieser Situation steht Andris Nelsons zwischen Pest und Cholera: Läßt er weiterspielen, ist die Eingangsspannung futsch, was doppelt kontraproduktiv wäre, da der MDR das Konzert für eine Ausstrahlung zwei Tage später aufzeichnet. Bricht er ab und setzt neu an, kann er zwar zumindest versuchen, abermals neue Spannung zu erzeugen, läuft aber trotzdem Gefahr, dass das nicht gelingt. Er versucht’s – und es gelingt nicht. Die allgemeine Unruhe bleibt hoch (und damit ist nicht der Zusammenbruch eines Konzertbesuchers rechts unten im Parkett während des Adagios gemeint, der von den Umsitzenden, soweit man das vom Sitzplatz des Rezensenten aus erkennen kann, mit ruhiger Besonnenheit behandelt wird und sich, so ist später zu erfahren, bald wieder erholt), und das Orchester kann seine Nervosität bis zum Schluß nicht ablegen, so sehr einzelne (inclusive Nelsons) auch an den Ketten zerren. Aber da sitzen keine Automaten auf der Bühne, sondern Menschen, und die stoßen bisweilen an von anderen Menschen induzierte Grenzen. Eine Detailanalyse des Geschehens erübrigt sich diesmal also, vom Fakt abgesehen, dass Nelsons abermals seiner Strategie zu folgen versucht, langsame Teile auch richtig langsam zu nehmen und enorme Spannung zu erzeugen, wenngleich er klug genug ist, das hier angesichts der Rahmenbedingungen nicht so weit auszureizen wie in Schostakowitschs Achter eine Woche zuvor. Aber ebendeswegen gelingt es ihm im letzten Satz dann nicht mehr, die ideale Kontrastwirkung noch unterhalb des Dynamikmaximums zu erzielen, und deshalb muß dort besagtes Maximum schon während der Satzes erklommen werden, so dass keine Schlußsteigerung mehr möglich ist. Gewiß, in der Gesamtbetrachtung gelingt immer noch eine solide Wiedergabe dieser ersten der drei großen Bruckner-Spätsinfonien, aber eine Sternstunde kann trotz einiger Momente, wo das besondere Können von Orchester und Dirigent aufblitzt (die brillante Steigerung im Adagio, die erstaunliche, aber irgendwie passende Zähigkeit des Trios) an diesem Abend nicht entstehen, und es bleibt Orchester, Dirigent und Gewandhausmitarbeitern zu wünschen, dass der Gesundheitszustand des Publikums zwei Tage später beim Festkonzert ein besserer sein würde. Dass dieser Wunsch in Erfüllung gegangen ist, erfährt der Rezensent wenige Tage später von einer Kollegin, die in besagtem Festkonzert anwesend war: Ein ruhiges Publikum, ein Orchester in Bestform und ein glänzend aufgelegter Gewandhauskapellmeister sorgten, so der Bericht, für genau die außerordentlich spannende Wiedergabe der Bruckner-Sinfonie, die den Festwochen die Krone aufsetzt und den hohen Rang dieser Konstellation ein weiteres Mal unterstreicht. Das heißt, der Rezensent hat an seinem Konzertabend einfach Pech gehabt ... Roland Ludwig |
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