Die Trauer der Hammondorgel: Wagner, Zimmermann und Schostakowitsch mit dem Gewandhausorchester
Man schrieb den 11. März 1743, als eine neue Konzertgesellschaft in Leipzig erstmals aktenkundig wurde. Heute, 275 Jahre später, hat die daraus hervorgegangene Institution unter dem Namen Gewandhausorchester Weltgeltung und nutzt das Dreivierteljahrhundertjubiläum außer zu regulären Feierlichkeiten auch noch für ein markantes Ereignis mit Seltenheitswert: Nachdem Riccardo Chailly anno 2016 das Amt als Gewandhauskapellmeister bereits vor Ablauf seines (vorab bereits einmal verlängert gewesenen) Vertrages niedergelegt hatte, bedurfte es einer Neubesetzung dieser immens prestigeträchtigen wie fordernden Position. Die Wahl fiel auf den gebürtigen Letten Andris Nelsons, und ebenjener machte sich mit seinem neuen Wirkungskreis in den vergangenen Monaten und Jahren bereits intensiv vertraut, gleichermaßen dem Publikum Gelegenheit bietend, seinen Stil und seine Herangehensweise kennenzulernen. Nun tritt er am 11. März 2018 das Amt auch offiziell an (er ist der 21. in der mit Johann Adam Hiller im späten 18. Jahrhundert beginnenden Zählung), und rings um dieses Datum erlebt das Publikum ihn und sein neues Orchester mit gleich vier Großen Concerten, die allesamt mindestens an zwei Tagen gespielt werden – eine große konditionelle wie geistige Herausforderung also, zumal drei der vier Konzerte auch noch jeweils eine Uraufführung enthalten, die also zwingend neu eingeprobt werden muß und ein Rückgriff auf bereits gespielte Aufführungen in den Köpfen der Orchestermitglieder somit nicht möglich ist (inwieweit der in den anderen Werken möglich bzw. überhaupt gewollt ist, steht nochmal auf einem ganz anderen Blatt). Das in den allerersten Märztagen anstehende Programm ist das einzige der vier, das keine Uraufführung enthält, dürfte aber deswegen im Vorfeld nicht weniger arbeitsaufwendig gewesen sein, gilt es doch auch hier, den individuellen Klangvorstellungen des Dirigenten nachzuspüren – und da hat Andris Nelsons doch den einen oder anderen speziellen Wunsch, wie man aus vorangegangenen Konzerten bereits weiß oder, tut man das nicht und erlebt ihn an diesem Abend zum ersten Mal, spätestens nach dem ersten Werk des Abends bemerkt: „Siegfrieds Tod“ und der anschließende Trauermarsch aus Richard Wagners letztem Nibelungen-Teil, der Götterdämmerung. Dieses Werk führt außerhalb seines Opernkontextes, in dem es in den letzten anderthalb Jahrhunderten auch in Leipzig zahllose Male erklungen ist, eine Parallelexistenz als Orchesterstück. Nun spielt das Gewandhausorchester ja auch in der Leipziger Oper, und obwohl theoretisch jeder Musiker in allen drei Sparten (die Kirchenmusik in der Thomaskirche kommt als dritte hinzu) zum Einsatz kommen können muß, bilden sich doch oftmals gewisse Schwerpunkte heraus, so dass man nicht automatisch davon ausgehen kann, dass die Konzertorchestermusiker dieses Abends das besagte Werk auch schon im Operndienst rauf- und runtergespielt haben. Das kann Vor- wie Nachteil sein, zumal Nelsons nicht wie anfangs Chailly parallel auch Generalmusikdirektor der Oper ist, also auch ohne Vorabbeeinflussung von der anderen Seite des Augustusplatzes an das Werk herangeht. Und das wiederum ist eindeutig ein Vorteil, wie man nach dem Verklingen an diesem Abend weiß. Zwar bringt das Blech in den jeweils ersten Akkorden jeder Phrase das Kunststück fertig, durchgängig viel zu unruhig zu agieren, aber die Fortsetzung jeder Phrase gelingt in kammermusikalischer Manier jeweils traumhaft sicher und ermöglicht Nelsons, einen hohen Grad an Tonmalerei zu entwickeln. Das Tempo liegt sehr weit unten, was ein gerüttelt Maß an zarter Entrücktheit gestattet, ebenso wie eine enorme Spannungsentwicklung vor dem Wagnertubenchoral, und auch die rabiate Wirkung einzelner sägender Momente benötigt gar keinen großen Materialaufwand. Das ist überhaupt das Frappierende: Die große Steigerung besitzt Lehrbuchkompatibilität und mündet, als der Leichenzug sein Ziel erreicht, in einer zupackenden Energieleistung, die zum Transport ebenjener Energie eben nicht übermäßiger Lautstärke bedarf. Dass die Erkältungsquote im Publikum mal wieder arg hoch liegt und die abermals enorme Schlußspannung gleich durch etliche Huster behindert wird, gehört zu den schwer beeinflußbaren Begleiterscheinungen eines Konzertes vor knapp 2000 Menschen. Obwohl das Programm wie geschrieben keine Uraufführung beinhaltet, so erklingt doch ein Werk, das im Gewandhaus als eher seltener Gast einzustufen ist: Bernd Alois Zimmermanns Nobody knows de trouble I see, ein Trompetenkonzert aus dem Jahr 1954, das lange Zeit ein Schattendasein führte – für das traditionelle Hörerpublikum zu modern, für die Fortschrittspartei nicht modern genug und allein genrebedingt schon ein Exot. Erst nach Zimmermanns Tod 1970 begann das Werk häufiger auf den Spielplänen aufzutauchen, und nicht zuletzt der schwedische Trompeter Håkan Hardenberger setzte sich nachhaltig dafür ein, spielte auch anno 1993 die erste Aufführung im Gewandhaus und ist nun an diesem Abend wieder der Solist des einsätzigen, reichlich viertelstündigen Werkes, das als eines seiner Hauptmotive das titelgebende Spiritual verarbeitet, allerdings in einer Weise, die von Barock über Jazz bis zur Zwölftontechnik keine Grenzen kennen will. Fünf Saxophonisten gehören zur Orchesterbesetzung, außerdem ein Pianist, der im Mittelteil an eine Hammondorgel wechselt. Zunächst erklingt aber eine lange, fragmentiert wirkende Einleitung, in der Hardenberger mit Dämpfer agiert, bis nach einem kleinen Ausbruch etwas Leben entsteht, obwohl das Tempo noch geraume Zeit unten bleibt, im Gegensatz zu Wagner hieraus allerdings keinerlei Spannung entsteht. Eine plötzliche Verschärfung bahnt den Weg zu einem abwechslungsreicher strukturierten Bild, und Hardenberger beginnt bereits zu tänzeln oder mitzugrooven, obwohl die Musik noch gar nicht groovt, zumindest nicht durchgängig – die Schlagzeuger lassen aber schon mal anklingen, was da noch folgt, als das Orchester eine große Steigerung zu spielen und dann der Pianist an die Hammond zu wechseln hat. Da nämlich kommt der Jazz zu seinem Recht, in der Musik ist plötzlich Fluß, zumindest grundlegend, und die auch hier bald wiederkehrenden Fragmentisierungs- und Versprödungstendenzen haben jetzt Charme, vor allem im großen Crescendo. In den kadenzähnlichen Passagen gestattet Zimmermann Hardenberger sogar eine Andeutung von Tiefgründigkeit, die dieser natürlich dankbar entgegennimmt, und diese Linie hätte sich im leisen Schluß fortgesetzt, wenn dem nicht die Publikumserkältungsquote einen Riegel vorgeschoben hätte. Trotzdem gibt es viel Applaus, sogar etlichen mehr als nach dem Wagner-Stück, und Hardenberger revanchiert sich mit einer enorm leisen Zugabe (wieder mit Dämpfer), bei der man sehr angestrengt lauschen muß, so angestrengt, dass sogar die Kranken das Husten vergessen. Der LVZ-Kulturredakteur bedenkt das Stück mit folgendem Satz: „Für den Jubel bedankt er [Hardenberger] sich mit einem stillen Miles-Davis-Reflex auf ‚My Funny Valentine‘.“ Dmitri Schostakowitschs Sinfonien erklingen aktuell auffällig oft beim Gewandhausorchester – nach der Fünften im November und der Sechsten nur eine Woche später im Dezember 2017 (siehe die Rezensionen Mitja II bzw. IV) steht nun die Sinfonie Nr. 8 c-Moll op. 65 auf dem Programm, die mittlere der drei Kriegssinfonien. Der Rezensent, der Schostakowitschs Sinfonieschaffen bekanntermaßen sehr schätzt, ist definitiv der letzte, der sich über eine solche Häufung beschweren würde – ganz im Gegenteil: Der Spannungsfaktor liegt an diesem Abend sogar noch höher als anno 2017, denn dass Andris Nelsons ein ganz besonderes Händchen für Schostakowitschs Werke besitzt, das ist bekannt und verspricht ein hochklassiges Erlebnis. Die Erwartungen, das sei vorweggenommen, werden an diesem Abend nicht enttäuscht. Freilich muß man sich auf die Herangehensweise des Letten einzulassen bereit sein – und man muß Zeit mitbringen: Dauerte schon das Wagner-Stück länger als im Durchschnitt, so braucht Nelsons für die im Programmheft mit „ca. 65 Min.“ angegebene Achte locker deren 80. Und das Schöne ist: Man fühlt sich nicht etwa gelangweilt, sondern diese teils ultralangsamen Tempi steigern den Spannungs- und Wirkmächtigkeitsfaktor bestimmter Stellen ins ganz, ganz Große, und man hängt mit den Augen und Ohren förmlich an der Bühne, um jede Note im Ganzen aufzusaugen. Das geht gleich im Adagioteil, der den ersten, sonst mit Allegro non troppo überschriebenen Satz einleitet, los: Nelsons täuscht kurz eine forsche Herangehensweise an, nimmt aber schnell konsequent das Tempo raus und verbiegt sich selber zu einer Art rechtem Winkel, sich ganz klein machend, wenn er einzelnen Orchestergruppen die Töne förmlich aus den Instrumenten zieht, um deren Wirkung zu dehnen und zu steigern. Die nervöse Schrillheit, die etliche Schostakowitsch-Sinfonien an markanter Stelle durchzieht, leidet unter dem langsamen Tempo nicht, der Übergang in den Allegro-Teil bietet erneut Formarbeit vom Feinsten, und die vom Zweiten Weltkrieg und/oder anderen Unbilden verwüstete Landschaft, die Schostakowitsch hier malt (wie so häufig in seinem Werk sind auch hier mehrere Deutungen möglich), kommt beeindruckend fahl von der Bühne geschwebt. Die große Steigerung entfaltet besonders starke Wirkung, weil sie aus einer lange Zeit weit unten angesiedelten Dynamikstufe entspringt, die Umsetzung der Streicherhektik vor dem Zirkusmarsch läßt dem Hörer den Mund offen stehen, und das erwähnte niedrige Dynamiklevel erlaubt auch den fünf kurzen Anschwellungen eine enorm hohe Eindringlichkeit, ohne dass der obere Dynamikgipfel auch nur in Reichweite geraten muß. Die Kontrastwirkung zum einsamen Englischhorn läßt sich mit Worten kaum beschreiben, und wie Nelsons die Trübsal im laaaangen Schlußteil des Satzes so formt, dass der Hörer keinen Augenblick daran denkt, etwa in Morpheus‘ Arme abzugleiten, sondern wieder mit offenem Mund am Bühnengeschehen klebt, das verrät den Ausnahmekönner am Dirigentenpult. Dem weit über halbstündigen Kopfsatz läßt der Komponist gleich zwei Scherzi folgen. Das erste, ein Allegretto, nimmt Nelsons überraschend geerdet, obwohl etwas makaber-abstruser Witz natürlich nicht fehlt. Aber generell betont der Dirigent den militärisch exakten Aspekt hier recht stark, und selbst wenn Tünde Molnár-Grepling an der Piccoloflöte Übermenschliches zu leisten hat (und leistet!), so bildet sie doch hier nur einen von wenigen absurden Kontrapunkten im Geschehen, das in einem eigenartig gedeuteten Schluß kulminiert: Erst kommt nochmal Witz, dann wird dieser niedergeprügelt. Selten hat man Ironie so originell umgesetzt gefunden wie an diesem Abend. Weitgehend unironisch nimmt der Lette das zweite, mit Allegro non troppo bezeichnete Scherzo: Hier ist der Tanzcharakter ernst gemeint, erklingt zunächst exzellentes Streichergesäge mit einzelnen Einwürfen anderer Orchestergruppen, bevor die Posaunen das Gesäge ebenso gekonnt übernehmen – alles besitzt enormen Fluß und mündet in wildes Gegroove, das Nelsons zum Tanzmeister mutieren läßt, der bedarfsweise auch die Hüften schwingt, ohne aber seine Füße von der Stelle zu rühren. Die schnellen Passagen entfalten einiges an Klangwucht, und der großartige Schlußausbruch bleibt abermals ein gutes Stück vom erreichbaren Maximum entfernt, ohne an Wirkung einzubüßen. Das Largo als vierter Satz hängt attacca am dritten an und bietet zunächst exzellente Trauerstreicher, die Nelsons die Gelegenheit geben, das Tempo abermals extrem abzubremsen. Vorm Hornsolo macht sich der Dirigent abermals ganz klein und zum rechten Winkel, was mit einer bis auf zwei, drei minimale Wackler phantastischen Solopassage honoriert wird, während die flirrenden Flöten das Niveau noch ein Stück gen Weltraum verschieben. Was Orchester und Dirigent trotz ultraschleppenden Tempos und erdbodennahen Dynamiklevels hier an Ausdruckskraft hineinlegen, genügt abermals allerhöchsten Ansprüchen, und dann ist da noch die fast nebensächlich wirkende Tonartauflösung ganz zum Schluß. Selbige bereitet den fünften und letzten Satz, ein Allegretto, vor, mit einem witzigen Instrumentenwiderstreit anhebend, das vom Dirigenten erstklassig geschiedsrichtert wird. Obwohl das Tempo hier deutlich mehr Vielfalt gewinnt, bleibt doch stets der Gedanke, Nelsons habe die Handbremse gezogen, und im Gegensatz zum Auto hat das hier sehr positive Folgen. Abermals gewinnt der Hörer den Eindruck, die zentralen Ausbrüche lägen noch längst nicht am Volumenlimit, ohne dass man das aber etwa als Makel empfinden würde – vielmehr als Trumpf: Nelsons und das Gewandhausorchester erzielen ihre Wirkung auch ohne letzten Materialschlachteinsatz. Das Blechgeknarze in der Rückführung zur gewohnten Trübsal kratzt vielleicht an der Extremitätsgrenze, aber das ist an dieser Stelle auch angebracht, die Baßklarinette bringt noch eine völlig eigenartige trübe Färbung ein, und dann legt Nelsons noch einen abermals extrem weit zurückgenommenen Schlußteppich aufs Parkett. Die Kranken im Publikum sind offenbar mittlerweile alle verstorben – diesmal stört kein Huster die entrückte Stimmung am Ende der über weiteste Strecken meisterlichen Wiedergabe eines Meisterwerkes, für welche die lobendsten Worte noch zu gering wären. Der Bravo-Chor aus dem Publikum ist folglich mehr als verdient, der Applaus trotz fortgeschrittener Zeit ausdauernd, und es bleibt der Wunsch an die Gewandhausdramaturgen zurück, mehr Schostakowitsch mit Nelsons und dem Gewandhausorchester zu hören, gerne einen ganzen Sinfoniezyklus (einen solchen fabriziert der Dirigent ja gerade mit seinen Bostonern) oder zumindest zeitnah die Vierte, die Siebente und die Dreizehnte. Roland Ludwig |
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