PAUL GERHARDT: Leid – Trost – Trotz
Paul Gerhardt: Leid – Trost – Trotz Berufsverbot für einen Radikalen im öffentlichen Dienst
400 Jahre ist es her, seit die Eltern von Paul Gerhardt den vielleicht berühmtesten Liedermacher Deutschlands zum ersten Mal schreien hörten. “Die güldene Sonne“, „Ich steh an deiner Krippen hier“, „Nun ruhen alle Wälder“ oder “O Haupt voll Blut und Wunden“ - irgendein Stück von Paul Gerhardt kennt wohl jeder, auch wenn man vielleicht nicht weiß, dass er der Autor des Stückes ist. 139 Lieder von ihm sind bekannt; 26 stehen bis heute im Evangelischen Kirchengesangbuch. Er ist immer noch einer der meistgesungenen Kirchenliederdichter überhaupt.
Dafür ist von seiner Biographie überraschend wenig bekannt. Immer wieder klaffen jahrelange Lücken, zu denen die Historiker nichts zu sagen wissen. So bleibt auch die Entstehungszeit vieler seiner Lieder im Dunklen. Das ist vor allem deshalb bedauerlich, weil zwischen dem, was man von Paul Gerhardt weiß, erhebliche Spannungen bestehen. Drei Dinge sind gewiss. Der 1607 Geborene hat entscheidende Jahre seines Lebens vor dem Hintergrund des 30-jährigen Krieges (1618-48) verlebt. Er hat Lieder voller Trost und Gottvertrauen hinterlassen. Und er hat in den konfessionellen Auseinandersetzungen in den 60er Jahren des 17. Jahrhunderts eine unerbittlich lutherische Position eingenommen, die es kaum zuließ anders Denkenden ihr Christ Sein zuzugestehen.
Am 12. März 1607 wurde Paul Gerhardt im kursächsischen Gräfenhainichen geboren. Von 1622 – 1627 besuchte er die klösterliche Fürstenschule in Grimma. Dann studiert er 100 Jahre nach der Reformation Theologie in Wittenberg. 1643 taucht er in Berlin auf. Eine Pfarrstelle bekommt er vorerst nicht. Dafür erscheint 1647 die erste Auflage des Gesangbuches Praxis pietatis melica, das von Johann Crüger, dem Kantor der St. Nikolai-Kirche, herausgegeben worden war. Es enthielt die ersten achtzehn Lieder Gerhardts, zu denen Crüger die Melodie geschrieben hatte. Wann sie entstanden sind, ist unklar. Aber es muss zwangsläufig unter dem Eindruck des 30-jährigen Krieges geschehen sein, der 1648 endete und die Mark Brandenburg in besonderer Weise getroffen hatte. Die Einwohnerzahl Berlins war von 12.000 auf 7.000 fast halbiert. In der Mark sah es oft noch verheerender aus. Viele Dörfer waren praktisch ausgestorben. Vor diesem Hintergrund überraschen die Gerhardt-Lieder mit ihrem felsenfesten Gottvertrauen in besonderem Maße. Wie groß die Trostkraft seiner Lieder war, wird am Beispiel von Dietrich Bonhoeffer deutlich. Für ihn waren die in seiner Jugend auswendig gelernten Lieder Gerhardts eine der stärksten Kraftquellen als er monatelang in den Foltergefängnissen der Gestapo inhaftiert war.
Bis zu seinem 44 Lebensjahr schlug sich Gerhardt als Hauslehrer durch und konnte sich nicht einmal die Gründung einer eigenen Familie leisten. 1651 erhielt der nun schon recht bekannte Dichter endlich seine Berufung zum Pfarrer und wurde sogleich Propst in Mittenwalde. Dort heiratet er am 11. Februar 1655 Anna Maria Berthold, die Tochter des Kammergerichtsadvokaten Andreas Berthold, in dessen Haus er in seiner Berliner Zeit verkehrt hat. 1657 kehrt Gerhardt nach Berlin zurück. Er wird Diakon an der St. Nikolai-Kirche, der ältesten Kirche Berlins. (Heute ist sie ein Museum, in dem kaum überraschend zurzeit eine Paul Gerhardt-Ausstellung gezeigt wird.) Weitere Lieder entstehen, die erst von Crüger und nach dessen Tod im Jahre 1662 von Johann Georg Ebeling, seinem Nachfolger als Kantor an St. Nikolai, vertont werden. Nur zehn Jahre kann Gerhardt hier seinen Dienst versehen. Dann wird er aus dem Amt enthoben und muss Brandenburg in Richtung Sachsen verlassen, um überhaupt noch als Pastor arbeiten zu können.
Grund der Enthebung war sein konsequentes Eintreten für das lutherische Bekenntnis, das ihn auch dazu brachte Anordnungen des Kurfürsten zu ignorieren. Hintergrund ist eine theologische Besonderheit Brandenburgs. Seit 1613 war Brandenburg-Preußen konfessionell gespalten. Der Kurfürst und ein enger Kreis am Hof waren zum reformierten Glauben übergetreten. Die Stände und die Bevölkerung blieben überwiegend lutherisch. Damit wurde die Konfessionsfrage in einer Zeit des Wandels vom Ständestaat zum Absolutismus zum Politikum. Der Kurfürst war an einer Einigung der streitenden Konfessionen interessiert. Der in Berlin einflussreiche Wittenberger Theologe Abraham Calov hatte aber jede Verständigung mit den Reformierten als Synkretismus, also unzulässige Vermischung der evangelischen Lehre mit fremden Gedanken, verdammt. Zu Gerhardts Zeiten wurde nicht zuletzt um zweierlei gestritten. Zum einen ging es um die Frage, auf welche Schriften sich ein Pfarrer vereidigen lies. Bei den Lutheraner gehörte zu diesen Bekenntnisschriften unter anderem die so genannte Konkordienformel, ein spätreformatorischer Text, der nicht nur lutherische Positionen festschrieb, sondern auch gegnerische verwarf. Wer nicht lutherisch war, galt als verdammt. Und das richtete sich ganz ausdrücklich nicht nur gegen die Katholiken, sondern auch gegen die Reformierten. Kein Wunder, dass der reformierte Kurfürst ein Verbot erließ, sich auf diese Formel vereidigen zu lassen. Streitpunkt zwei bestand in der auf beiden Seiten lieb gewordenen Sitte den theologischen Gegner von der Kanzel herab zu beschimpfen, zu verunglimpfen und zu verfluchen. Im Juni 1662 erließ der Kurfürst ein Toleranzedikt, mit dem Polemiken gegen das reformierte Bekenntnis untersagt wurden. Zwei Monate später wurde den Brandenburgern das Studium in Wittenberg verboten. Schlechte Voraussetzungen für die Berliner Religionsgespräche, die vom September 1662 bis zum Mai 1663 stattfanden. Als Pastor einer der Berliner Zentralkirchen musste auch Gerhardt an diesen Gesprächen teilnehmen. In den Gesprächen hielt er sich zurück. Aber im Hintergrund gehörte er zu den lutherischen Scharfmachern. In einem Votum vom April gestand er zwar die Möglichkeit ein, dass ein Calvinist Christ sein könne. Allerdings sah er sich nicht dazu in der Lage, in einem Calvinisten nur aufgrund der Tatsache, dass dieser Calvinist sei, einen Christen zu sehen. Nach dem Scheitern der Gespräche machte der Kurfürst im September 1664 einen Schritt auf die Lutheraner zu. In einem 2. Toleranzedikt untersagte er nun beiden Konfessionen die Polemik. 1665 beugten sich die meisten Lutheraner dem kurfürstlichen Druck und unterschrieben einen Revers, mit dem sie die Toleranzedikte anerkannten. Gerhardt gehörte zu denjenigen, die die Unterschrift verweigerten. Denn mit seiner Unterschrift hätte er auch dem Verzicht auf eine Vereidigung auf die Konkordienformel akzeptiert. Dazu sah er sich nicht in der Lage.
1666 wird er vorläufig, 1667 endgültig seines Amtes enthoben. 1669 nach dem Tod seiner Frau übernimmt er eine Stelle als Archidiakonus im damals sächsischen Lübben. Ein Leben voller Leid liegt hinter ihm. Nicht nur seine Frau, sondern auch vier seiner fünf Kinder sind gestorben. Nur ein Sohn wird ihn überleben. Am 27. Mai 1676 stirbt Gerhardt 69-jährig in Lübben, wo er in der Kirche, die heute Paul-Gerhardt-Kirche heißt, beerdigt wurde. In den Lübbener Jahren ist der Dichter Paul Gerhardt verstummt. Es ist nicht bekannt, warum er aufgehört hat zu schreiben. Aber es gibt keine weiteren Texte von ihm. Seinem Bekenntnis ist er bis zum Sterbebett treu geblieben. Seinem Sohn, so schreibt er, hinterlasse er nicht viel materielles Gut, aber einen guten Namen, dessen er sich nicht zu schämen brauche. Worin die Güte dieses Name besteht, daran lässt er keine Zweifel. “Die heilige Theologie studiere in reinen Schulen und auf unverfälschten Universitäten, und hüte dich vor Synkretisten, denn sie suchen das Zeitliche und sind weder Gott noch Menschen treu.“ schreibt er in seinem Testament.
Wer auf Gerhardt zurückblickt, gewinnt einen zwiespältigen Eindruck. Wie passt dieser verhärtete Dogmatiker mit dem Dichter nahezu zärtlicher Glaubenslieder zusammen? Wo kommt die Zuversicht her, die Gerhardts Texte ausstrahlen? Sein leidensreiches Leben kann kaum die Quelle dieser Stärke gewesen sein. Erst wer von der Quelle her denkt, beginnt zu verstehen. Nicht sein Leben ist Quelle seiner Zuversicht gewesen, sondern seine unerschütterliche Gewissheit in den Händen Gottes zu ruhen, hat ihm die Stärke gegeben nicht nur sein eigenes Leben zu bestehen, sondern darüber hinaus Texte zu verfassen, die seit 400 Jahren Menschen trösten und ihnen die Grundlage für die eigene Festigkeit im Glauben geben. Möglicherweise – aber hier begebe ich mich in den Bereich der Spekulation – musste Gerhardt deshalb so konsequent und unduldsam an der für richtig erkannten Wahrheit festhalten. Hätte er seine Sicherheit verloren, wenn er Kompromisse eingegangen wäre? Hat ihn deshalb seine Niederlage im konfessionellen Streit verstummen lassen?
Wie dem auch sei, seine Berliner Jahre haben uns einen reichen geistlichen Schatz hinterlassen, der auch kulturgeschichtlich in verschiedener Hinsicht innovativ ist Die Reformation hat die Neuzeit eingeläutet, die Neuzeit geprägt von der Betonung des Individuums. Und Luthers Bekenntnis zum „Priestertum aller Gläubigen“, das sich daran zeigte, dass jeder Christ die Freiheit hat, über seinen eigenen Glauben zu entscheiden, wenn er dies auf der Basis der Bibel tut, schlägt sich auch in Gerhardts Liedern wieder. Das kollektive „Wir“ der Gemeinde, das Kirchlieder bislang geprägt hatte, wird von dem sich zum christlichen Glauben bekennenden „Ich“ abgelöst. Darüber hinaus wendet sich Gerhardt dem Erfahrungsbereich des einfachen Mannes zu. Seine Texte sind geprägt von der Alltags- und Naturerfahrung, die jeder Mensch vor seiner Haus-, oder Hoftür machen konnte. Der Glaube wurde in den Alltag und die Welt hinein genommen. Und so sind Gerhardts Glaubenslieder nicht nur Bekenntnisse zu dem uns liebenden Gott, sondern auch ein kräftiges und farbenfrohes Ja zu der Welt, die uns umgibt, zu all den Sinnen, mit denen wir unser Leben wahrnehmen. Gott ist nicht in einer fernen Transzendenz, erfahrbar erst nach Tod und Auferstehung. Er ist hier neben uns, bei uns, mit uns. Was die Weihnachtsgeschichte, die Jesus an die Seiten von Arbeitern (Hirten) und Haustieren stellt, oder sein Tod, der die Inkarnation Gottes in die elendste aller menschlichen Qualen stürzt, anlegt, das greift Gerhardt in seinen Texten auf. Was das Volk Israel immer gewusst hat, dass Gott mit seinem Volk unterwegs ist, das drückt sich auch bei Gerhardt wieder aus.
Was Martin Luther für die evangelische Theologie und Johann Sebastian Bach für die (Kirchen)Musik ist, das ist Paul Gerhardt für das deutsche (Kirchen)Lied. „Deutsch“ muss man da gleichzeitig in Anführungszeichen setzen und mit einem Ausrufezeichen versehen. Denn der halsstarrige Lutheraner Paul Gerhardt hat mit seinen Liedern alle konfessionellen Grenzen überschritten. Der Streit seiner Zeit zwischen Lutheraner und Reformierten ist zwar glücklicherweise ziemlich überholt. Konfessionelle Spaltungen aber gibt es immer noch. In Deutschland verlaufen sie derzeit zwischen Katholiken und evangelischen Landeskirchen auf der einen und den so genannten Freikirchen auf der anderen Seite. Und Paul Gerhardt wird in allen drei Bereichen geliebt und gesungen. Darum das Ausrufezeichen. Die Anführungszeichen sind nötig, weil Paul Gerhardt schon lange die deutschen Grenzen gesprengt hat. Von Englisch bis Suaheli gibt es Übersetzungen seiner Lieder, die alle in einem Gerhardt-Refrain münden: “Sollt ich meinen Gott nicht singen“.
Norbert von Fransecky
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