Brumel, A. (Schmelzer, B. – Graindelavoix)

"Earthquake Mass" (Missa Et ecce terrae motus)


Info
Musikrichtung: Renaissance / Vokal & Ensemble

VÖ: 02.02.2024

(Glossa / Note 1 / CD / DDD / 2023 / Glossa P32118)

Gesamtspielzeit: 77:04



DIE SCHATTEN DER ZEIT

Eine „Erdbeben-Messe“? Mit der zwölfstimmigen „Missa Et ecce terrae motus“ von Antoine Brumel, die dieser um 1500 komponierte, wenden sich Björn Schmelzer und Graindelavoix wieder einem außergewöhnlichen Stück Vokalpolyphonie zu, das sie in der bekannten Manier zu Gehör bringen: Mit auffällig rauer oder kehliger Timbrierung und improvisierten Verzierungen wird der teilweise nur bruchstückhaft in einer späteren Kopie von Orlando di Lasso überlieferte Notentext zu Gehör gebracht.

Der Titel der Messe bezieht sich auf das 28. Kapitel des Matthäusevangeliums: Es berichtet, wie ein Engel den Stein vom leeren Grab des – bereits auferstandenen – Jesus wegrollt: ein Geschehen, das von einem gewaltigen Erdbeben begleitet wird.
Brumel hat sich offenbar von dieser dramatischen Schilderung und, wie Björn Schmelzer darlegt, von einer künstlerischen Darstellung, nämlich einer eigentümlichen Grisaille-Zeichnung aus der Hand Pieter Bruegels, inspirieren lassen. Und so nutzt er die Vielzahl an Stimmen, um über auf- und ab-„rollende“ Motive, rhythmische Überlagerungen und klangliche Verdichtung das Geschehen akustisch zu evozieren.

Da die Messe aufgrund von Schimmelbefall der Tinte nicht lückenlos überliefert ist, hat sich Schmelzer entschlossen, diese geschichtlichen Spuren nicht durch Rekonstruktionen zu tilgen, sondern hörbar zu machen, und zwar durch instrumentale Einlagen. Dafür kommen neben Naturhörnern auch ein altertümlicher Serpent, ein Zink und sogar eine E-Gitarre zum Einsatz. Es geht also nicht um historische Korrektheit, sondern um ein hybrides Ensemble, das verwaschene, trübe, verschattete, erodierende oder, wie Schmelzer sagt, parasitäre Klänge erzeugt, die sich wie ein Filter oder Schleier über die Musik legen oder regelrecht in diese eindringen können (wie jener Pilz, der die Tinte des Manuskripts zerfressen hat).
So „wuchert“ zwischen den einzelnen Messteilen oder auch in ihnen selbst Musik, die der Komponist und E-Gitarrist Manuel Mota zusammen mit der Serpent-Spielerin Berlinde Deman, dem Zinkisten Lluís Coll i Trulls sowie den Hornisten Pierre-Antoine Tremblay und Christopher Price entwickelt hat. Mit ihren amorphen Drones und Klangflächen ist sie hörbar von den Grautönen der Grisaille-Zeichnung Bruegels wie auch den Spuren der Vergänglichkeit und des Verfalls, die die Zeichnung wie die Mess-Überlieferung Lassos heimgesucht haben, inspiriert.

Man erlebt also Brumels erstaunliche Messe zugleich als eine akustische Reflexion über Raum, Zeit und Verwandlung von Kunst-Artefakten. Wie Brumels Musik heute weder notiert noch akustisch im "puren" Zustand verfügbar ist, so gibt sich auch die Interpretation "verunreinigt" und ambivalent.
Wenn man das von allen Entstellungen bereinigte und „reparierte“ Werk hören möchte, bieten sich Einspielungen der Tallis Scholars oder des Huelgas Ensemble an. In beiden Fällen handelt es sich natürlich ebenfalls um eine moderne, imaginierte Ideal-Fassung, auch wenn sie scheinbar „original“ klingt; allein der Einsatz von Frauenstimmen ist typisch für unsere heutige Zeit (auch in Schmelzers Version). So vollzieht sich bei allen Aufführungen eine mehr oder weniger deutliche Metamorphose, die allerdings mal mehr oder weniger im Rahmen der aktuellen Aufführungs-Konventionen verbleibt.

Wer also jenseits der Grenzen des Gewohnten das Abenteuer und die intellektuelle Auseinandersetzung schätzt und das Unkonventionelle, Befremdliche, ja „Ungeheuerliche“ in Antoine Brumels Konzeption erleben möchte, der kommt bei Graindelavoix auf seine Kosten.



Georg Henkel



Besetzung

Graindelavoix

Björn Schmelzer, Leitung



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