Die Revolution frißt nicht nur ihre Kinder: Deutschsprachige Erstaufführung des Musicals Doktor Schiwago in Leipzig
Doktor Schiwago war bekanntlich der einzige Roman des russischen bzw. sowjetischen Schriftstellers Boris Pasternak, und der kostete ihn praktisch den Kopf: Schon früher von der offiziellen sowjetischen Kulturbürokratie eher argwöhnisch beäugt und beispielsweise in den Spätdreißigern und Frühvierzigern ohne Publikationsmöglichkeiten für seine Gedichte – er hielt sich während dieser Zeit als Übersetzer unter anderem von Hamlet, Faust und georgischer Lyrik über Wasser –, schmuggelte ein italienischer Literaturagent das überwiegend in der Nachkriegszeit während mehr als einem Jahrzehnt entstandene Manuskript zu Doktor Schiwago mit Pasternaks Segen außer Landes. Dem Dichter war klar, dass er damit praktisch sein Todesurteil unterschrieben hatte, wich doch die Romanhandlung so klar und deutlich vom vorgegebenen Weg des Sozialistischen Realismus ab, dass selbst in der poststalinistischen Sowjetunion dafür keine Gnade zu erwarten war. Aber was dann passierte, damit dürfte auch er nicht gerechnet haben: Binnen kurzem erschien der Roman in der westlichen Hemisphäre in etlichen Sprachen und wurde, übrigens mit tatkräftiger Hilfe der CIA, so schnell zum Kultbuch, dass das schwedische Nobelkomitee Pasternak den Literaturnobelpreis für 1958 verlieh. Die sowjetische Kulturbürokratie zwang den Geehrten aber, dessen Annahme abzulehnen, und der Autor starb siebzigjährig zwei Jahre später, zwar eines natürlichen Todes, der aber durch die kräftezehrenden Auseinandersetzungen sicherlich beschleunigt worden war. Die Verfilmung des Stoffs, die 1965 ein Millionenpublikum in die Kinos der Westhemisphäre lockte und fünf Oscars erntete, erlebte Boris Pasternak nicht mehr. Vierzig Jahre später machte sich die amerikanische Komponistin Lucy Simon daran, den Stoff in ein Musical zu verwandeln. Für das Buch sorgte Michael Weller, während Michael Korie und Amy Powers die Gesangstexte schrieben. Dieses Werk erlebte 2006 in San Diego seine Uraufführung, fand seinen Weg inneramerikanisch dann auch an den Broadway (wenngleich es dort eher mäßig erfolgreich blieb) sowie international nach Australien, Südkorea und Schweden, wobei dem Rezensenten nicht bekannt ist, ob in Südkorea die originale oder eine landessprachliche Fassung gespielt wurde; in Schweden jedenfalls gab es eine Fassung in Schwedisch. Am letzten Januarwochenende des Jahres 2018 stand nun die deutschsprachige Erstaufführung an der strukturell zur Oper Leipzig gehörenden Musikalischen Komödie an, der bis zur Sommerpause noch elf weitere Vorstellungen folgen, von denen ein Gutteil bereits im voraus ausverkauft ist. Amy Simon beleuchtet in einem interessanten Beitrag im Programmheft die Herangehensweise an die Erschaffung dieses Musicals, und zwei Stellen interessieren angesichts des Ergebnisses besonders: Zum ersten hebt sie hervor, dass die Botschaft von Liebe und Frieden, die in den 25 Gedichten aus vorgeblich Schiwagos Feder zutagetritt, quasi die Quintessenz der Musicalumsetzung war – das stellt sich nach den drei Stunden auch als korrekt heraus und führt dazu, dass nahezu alle anderen Stränge des vielschichtigen Originalkonflikts praktisch außen vor bleiben. Zum zweiten sei ein Passus direkt zitiert: „Als Komponistin wollte ich einen Sound und eine musikalische Struktur liefern, die ein Aroma der russischen Musik besitzen – sowohl im volkstümlichen als auch im klassischen Sinne. Da ich aber Amerikanerin bin, wollte ich alles vermeiden, was den Beigeschmack bloßer Imitation hat.“ Auch das kann man sinngemäß auf Weller, Korie und Powers übertragen. Anders ausgedrückt: Das Musical Doktor Schiwago zeigt, wie sich Amerikaner Rußland vorstellen. Um es vorwegzunehmen: Das Ergebnis fällt nicht ganz so platt aus wie Ralph Siegels und Bernd Meinungers Dschinghis-Khan-Nummer „Moskau“, erhebt sich aber auch nicht sonderlich weit über dieses Niveau. Nun erwartet von einem Musical niemand exakte historische Korrektheit, Geschichtsunterricht und die Erklärung der Welt, aber ein gewisser Tiefgang hat durchaus noch nicht geschadet, zumal Pasternak einen solchen durchaus angelegt hatte. Hier dagegen fühlt sich der Zuschauer irgendwie unangenehm berührt: Er kann die Geschichte emotional durchaus nachvollziehen und mit den Figuren mitfühlen, aber er ahnt allenfalls, was hinter dem Ganzen eigentlich für ein Haufen von Problemstellungen steht. Die genreimmanente Glattbügelung mancherlei Geschehens kann man mögen, aber auch als vergebene Chance ansehen, selbst wenn mehr Tiefgang im vorliegenden Fall wohl zu einer klaren Sprengung des Formats bzw. zur „Aufblähung“ in Richtung einer Wagner-Oper geführt hätte. Wie diese Gratwanderung dann zu betrachten ist, bleibt einem jeden selbst überlassen, zumal der Rezensent auch die amerikanische Originalfassung nicht gesehen hat und daher nicht beurteilen kann, inwieweit die deutsche Fassung von dieser abweicht – das Pressematerial liefert scheinbar einen dezenten Hinweis auf Veränderungen, denn dort ist folgender Satz zu lesen: „Die Leipziger Produktion greift darüber hinaus die als ‚Laras Thema‘ bekannte Melodie der Filmmusik auf.“ Der Satz gibt allerdings eher Rätsel auf, denn die schriftlichen Nachrichten zur Originalfassung tun kund, dass „Laras Thema“ auch dort bereits integriert war, es sich also nicht um eine Neuzutat handelt, wie man aus der Formulierung schließen könnte. Das Stichwort „Wagner-Oper“ ist eben bereits gefallen, und es paßt auch noch in einem anderen Zusammenhang: Simon hat das Musical weitgehend durchkomponiert und setzt nur selten auf Nummern, denen man auch ein Eigenleben zutrauen würde. Oder anders ausgedrückt: Doktor Schiwago muß – und das dürfte ein Faktor für den relativen Broadway-Mißerfolg gewesen sein – weitgehend ohne Hits auskommen. Zaghafte Versuche in diese Richtung unternimmt Laras Hochzeitsnacht-Nummer „Wenn die Geige singt“, etwas markanter gelingt Laras und Schiwagos „stellvertretendes“ Liebesduett für Katharina und den eben im Krieg gefallenen Janko (ein geschickter Kunstgriff, wer auch immer diese Idee hatte), und ähnlich hoch zu punkten weiß Laras und Tonias Duett in der Bibliothek, gleichfalls äußerst geschickt strukturiert. Erstaunlicherweise war es das aber auch schon – vielleicht könnte sich indes noch die eine oder andere der Chornummern hinzugesellen, die sich der Bewertung durch den Rezensenten verschließen: Überwiegend mit einem recht kräftig disponierten Orchester unterlegt, ist in der zweiten Reihe, wo der Rezensent auf der linken Seite sitzt, der Text weitgehend unverständlich und die Struktur nur bedingt nachvollziehbar. Dieses Balanceproblem zieht sich durch die ganzen drei Stunden und auch noch weiter nach hinten, wie in den Pausengesprächen bis zur vierten Reihe deutlich wird. Selbst Jan Ammann in der Titelrolle leidet nicht selten darunter, dass ihn das Orchester zudeckt, und die große Quintettnummer der fünf Hauptfiguren im zweiten Akt gerät akustisch völlig undurchdringlich. Von der rechten Seite wiederum kommen Stimmen, dass das Balanceproblem dort etwas anders gelagert war: Im Orchestergraben steht bzw. sitzt dort der lautere Teil der Schlagwerkabteilung, und dessen Arbeit soll deutlich vorgeschmeckt haben. Ist dieses Problem noch hausgemacht, so kann man in der Gesamtbetrachtung doch festhalten, dass Regisseur Cusch Jung und seine Kreativfraktion aus der Vorlage noch das Maximale herausgeholt haben. Vor allem die Choreographien der Massenszenen wissen zu überzeugen, auch die Idee, die Bühne beleuchtungstechnisch quasi zweizuteilen und bestimmte Aktivitäten nur auf jeweils einer Seite zu inszenieren, stellt sich als eine zwar simple und altbekannte, aber sehr gute heraus. Darüber hinaus schmunzelt man über manch liebevolles Detail, beginnend schon mit dem Fakt, den Werktitel anfangs in kyrillischen Lettern auf den Bühnenvorhang zu projizieren. Die Leistung der Übersetzer zu bewerten ist aufgrund der Textverständnisprobleme nicht möglich, aber einige Schlagworte setzen sich definitiv fest (etwa, dass Dichtung in der Revolution nicht nützlich sei – ein Verdikt zeitloser Kulturbarbarei). Dass dem Rezensenten permanent der Refrain des alten FDJ-Liedes „Nachher wird man’s immer besser wissen“ im Kopf herumspukt, dürfte indes mehr mit der grundsätzlichen Anlage des Musicals zu tun haben. Die ist übrigens handlungsseitig anfangs arg gestrafft, was auch in dem Aspekt seinen Ausdruck findet, dass es keine instrumentale Ouvertüre o.ä. gibt (die dann im Sinne einer Opern- oder Schauspielouvertüre ein Eigenleben als Orchesterstück zu führen beginnen könnte), sondern nach einigen bombastischen Einleitungsakkorden gleich die erste Chornummer ansteht. Etwas mehr Zeit zum Erzählen nimmt sich Weller erst ab der Mitte des ersten Aktes, und dort beginnen dann auch die erwähnten Hitversuche breiteren Raum einzunehmen. Richtig Tiefe bekommt Doktor Schiwago exakt zweimal, und diese Momente verschwinden genauso blitzartig, wie sie gekommen sind. Zum einen singt eine ältere Krankenschwester mit einem Akkordeon im Feldlager das melancholische „Ljubow Menja“ auf die Lara-Themen-Melodie (die hierzulande mancher als „Weißt du wohin“ von Karel Gott kennen dürfte), solo und mit russischem Text. Da ahnt man trotz „unpassender“ Herkunft etwas von der russischen Seele, die ansonsten mehr oder weniger komplett verborgen bleibt und schnell auch wieder verschwindet, als diese Nummer vom Chor mit deutschem Text weitergeführt wird. Zum zweiten beginnt Schiwagos und Laras Tochter Katharina einen Begräbnisgesang auf ihren Vater – der einzige Tränentreibermoment im ganzen Musical (witzigerweise liegen auf den Stühlen vorsorglich Taschentücher mit einer Banderole, auf der „Zum Heulen schön!“ zu lesen ist), der schnell Geschichte wird, als sich hieraus abermals eine akustisch undurchdringliche Ensemblenummer entwickelt. Von Momenten wie diesen beiden hätte man sich viel mehr gewünscht. Da können die allesamt mindestens gutklassigen musikalischen Beteiligten nichts mehr herausholen, wobei stimmlich naturgemäß Lisa Habermann als Lara (wenn man sich an den etwas putzigen Akzent gewöhnt hat, kann man die Stimme richtig gut finden) und Jan Ammann in der Titelrolle (der allerdings öfter von solchen akustischen Balanceproblemen betroffen ist, als einer Titelrolle guttut) im Mittelpunkt stehen und folgerichtig auch den stärksten Schlußapplaus ernten, der allerdings auch für alle anderen Beteiligten einschließlich der Kreativfraktion einhelligen Jubel bereithält. Wer herausfinden will, ob das Balanceproblem bei anderen Aufführungen gelöst werden konnte oder auf anderen Plätzen sowieso nur eingeschränkt vorhanden ist, findet auf www.oper-leipzig.de Informationen, für welche Vorstellungen es noch Restkarten gibt. Roland Ludwig |
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