Sänger- und Schuhwerkwechsel: Nightwish mit Beast In Black und Turmion Kätilöt in der Leipziger Arena
Dreimal hat die Nightwish-Europatour zum Hvman. :||: Natvre.-Album virenbedingt nicht stattfinden können – der vierte Anlauf klappt nun endlich, obwohl auch das durchaus auf Messers Schneide gestanden hat: Bei Floor Jansen war Brustkrebs entdeckt worden, zum Glück in einem relativ frühen und noch gut behandelbaren Stadium. Noch hat die Nightwish-Fronterin nicht alle Behandlungen hinter sich, aber sie traut sich zu, zwischendurch mal eben das zu tun, was sie seit Jahrzehnten am liebsten tut, und wüßte man nicht um ihre Situation, man hätte anhand ihrer stimmlichen Leistung an diesem Abend keinerlei Verdachtsmomente hegen müssen, dass mit ihr etwas nicht in Ordnung sein könnte. Soviel vorab. Die Supportacts wechselten bei den diversen Ersatzterminen immer mal wieder – Amorphis etwa, die beim dritten Versuch dabeigewesen wären, sind aktuell selbst auf Headlinertour und damit nicht verfügbar. So bekommt das Publikum in der ganz ordentlich gefüllten, aber bei weitem nicht ausverkauften Arena zunächst Turmion Kätilöt serviert, die offensichtlich ziemlich pünktlich angefangen haben – die kuriose Anstoßzeit 18.55 Uhr ist verbrieft, und als der Rezensent zu dieser Zeit in Hörweite des Westeingangs der Arena kommt, hat der Auftritt tatsächlich bereits begonnen. Das Sextett spielt einen ziemlich industrialangehauchten, aber nicht unmelodischen Metal, und die beiden Vokalisten artikulieren sich überwiegend im heimischen, also finnischen Idiom, nur in „Grand Ball“ auch mal ins Englische wechselnd. Nur unterscheiden sich ihre Stimmen zumindest im Liveeindruck nicht so markant, dass man von der Doppelspitze voll und ganz überzeugt wäre, wenngleich die beiden für die herrschende Bewegung auf der Bühne natürlich nicht ganz unwichtig sind – und Platz ist da genug, zumal das Drumset nach links gerückt wurde. Das heißt also praktisch, dass die Drums tatsächlich live erzeugt werden und nicht aus der Konserve kommen, wie es der Stil ja auch hergegeben hätte – der Keyboarder nimmt trotzdem noch eine zentrale Funktion im Bandsound ein, an diesem Abend noch verstärkt durch den Aspekt, dass der Mischpultbediener sein Instrument und die Drums klar durchhörbar macht, die Gitarre und der Baß aber oft eher zu einem Einheitsgeräusch verschmelzen. Einige gute Ideen können sich die Finnen durchaus gutschreiben lassen, etwa das Oboenoutro des neuen Songs „Isämeidän“, der wie auch „Sormenjälki“ vom neuen, noch gar nicht veröffentlichten zehnten Studioalbum Omen X stammt (aber schon vorab als Single herausgebracht worden ist), und die Stimmung in der Halle ist ganz okay – der eine oder andere Anwesende wird die Ankündigung, die Band sei im Februar schon wieder in Leipzig, dann aber als Headliner, sicherlich abgespeichert haben. Setlist Turmion Kätilöt: Naitu Verta ja lihaa Sormenjälki Isämeidän Grand Ball Sikiö Beast In Black waren bereits auf der 2018er Decades-Tour von Nightwish als Support dabei. Mittlerweile haben sie es auf drei Alben gebracht, und im Neun-Song-Set dieses Abends sind alle drei paritätisch vertreten. Das Quintett holt die Keys und Samples vom Band, was auch nötig ist, da diese oft zentrale Rollen im melodischen Metal der finnisch-ungarischen Kombination spielen, obwohl auch zwei äußerst fähige Gitarristen am Start sind, wie gleich die intensive Soloarbeit im Opener „Blade Runner“ unter Beweis stellt. In der Bandhymne „Beast In Black“ übertönt die Doublebass zwar einiges vom Rest, aber das Problem bekommt der Soundmensch bald in den Griff und erschafft einen insgesamt zwar nicht idealen, aber doch halbwegs gut ausbalancierten Sound (schon das ist in der Arena keine Selbstverständlichkeit!). Der Vokalist gleitet oft ziemlich weit in die Höhen und agiert dort bisweilen nicht mehr klar, sondern kreischig, aber das geht eher als Stilmittel durch und wirkt nicht unpassend oder angestrengt, wobei auch die Backings von der Stimmfärbung her dazu passen. Dass er allerdings auch das Humorlevel der Anwesenden testet, könnte unfreiwillig gewesen sein: Vor „Beast In Black“ fragt er das Auditorium nämlich, ob dieses „ready for some true Heavy Metal“ sei, was bejaht wird – nur bekommt man im Set von Beast In Black kaum „true Heavy Metal“ zu hören und in diesem Song mit seinem fast discokompatiblen Zentralbreak schon gar nicht. Auch „One Night In Tokyo“ stellt praktisch Pop mit harten Gitarren dar, was sich freilich trotzdem gut anhören läßt und vom Publikum in seiner Grundanlage so sehr geschätzt wird, dass nach „Blind And Frozen“ sogar „Beast In Black!“-Sprechchöre ertönen. Das epische „End Of The World“ bildet wie schon 2018 den logischen Setcloser, nach dem als Outro noch Survivors „Burning Heart“ erklingt und auch dieser Vokalist ankündigt, seine Band sei demnächst als Headliner in Leipzig, allerdings erst im März. Außerdem verabredet er sich mit dem Publikum um 22 Uhr am Merchstand – aber um die Zeit ist der Nightwish-Gig noch gar nicht zu Ende ... Setlist Beast In Black: Blade Runner From Hell With Love Beast In Black Sweet True Lies Die By The Blade Moonlight Rendezvous One Night In Tokyo Blind And Frozen End Of The World Spannende Fragen gab es in puncto Nightwish neben der eingangs erwähnten, wie es um Floors Gesundheitszustand bestellt sei, vor allem zwei zu beantworten: Funktioniert das neue Songmaterial auch live, und kann die Band das Aus von Bassist und Co-Sänger Marko Hietala kompensieren? Das „Music“-Intro, das vom Band ertönt, führt zunächst in die Materialfrage ein: Offensichtlich traut Tuomas Holopainen dem Song als Ganzes nicht zu, die spannungserzeugende Funktion eines großen Konzertopeners zu erfüllen, denn als die Band ins Geschehen eingreift, intoniert sie nicht den „Rest“ von „Music“, sondern statt dessen „Noise“ – und dass diese Nummer live ähnlich gut funktionieren würde wie viele andere Orchestermetalpreziosen, die sich der Finne schon aus dem Ärmel geschüttelt hat, davon war anhand der Tonkonserve ja bereits auszugehen. Die weitere Folge von „Storytime“, „Tribal“ und „Élan“ läßt vermuten, dass jeweils ein neuer und ein älterer Song im Wechsel erklingen werden, aber schon nach letztgenannter Nummer, die man nach längerer Livepräsenz langsam auch ein wenig mehr zu schätzen gelernt hat als im Albumkontext (wenngleich sie bis zu den richtigen Highlights immer noch gebührenden Abstand hält), wird das Prinzip durchbrochen, wenngleich es etwas dauert, bis das klar wird: „7 Days To The Wolves“ soundlich so zu versägen, dass der Rezensent, der die Studiofassung Dutzende Male gehört hat, bis zum Refrain braucht, um die Nummer zu erkennen, entwickelt sich zur kuriosen Tradition bei Nightwish-Gigs in der Arena – und das, obwohl der Sound bis dahin nicht richtig schlecht ist, freilich aber auch nicht richtig gut. Aber es verbleibt nicht selten noch zuviel Geräusch im Mix, wenngleich „Élan“ als eher leichtgewichtige Nummer in diesem Kontext durchaus Vorteile geltend machen kann und überraschenderweise auch der Sepultura-Part im hinteren Teil von „Tribal“ nicht nur mit der nötigen Power, sondern auch mit der nötigen Schärfe daherkommt. Nach „7 Days To The Wolves“ findet der Soundmensch indes schrittweise besseren Zugang auch zu den dichter gewebten Nummern, was gleich „Dark Chest Of Wonders“ im Anschluß beweist, während „Harvest“ analog zu „Élan“ einen Profiteur seiner Grundanlage darstellt. Der Groove von „I Want My Tears Back“ sitzt dann wiederum so paßgenau, dass man um das Schwingen des Tanzbeins kaum herumkommt, sofern man halbwegs Platz um sich hat – der Rezensent steht ganz hinten links auf einem Balkon, wo das kein Problem darstellt (auch wenn kein reizendes weibliches Wesen in der Nähe ist, mit dem er Fruchtbarkeitstänze ausführen könnte), aber die vordere Parterrefläche ist recht dicht bestanden, und dort, so weiß der Rezensent aus früheren Gigs an gleicher Stelle, stellen solche Aktivitäten dann schon eine größere Herausforderung dar, will man nicht „völlig unabsichtlich“ mit dem nächststehenden reizenden weiblichen Wesen physischen Kontakt aufnehmen, während es in der hinteren Hallenhälfte, also hinter dem Mischpult, deutlich leerer ist und man dort auch große Polonaisen oder Circle Pits anzetteln könnte, ohne dass einem jemand im Wege steht. Mit „Sahara“ beginnt ein kleiner Block der Setlist-Überraschungen, denn schon diese Nummer gibt es eher selten zu hören, wenngleich sie zumindest in der Studiofassung nur die Basis zu noch größerem Oriental-Metal darstellt, der von Holopainen eines Tages noch zu erwarten bzw. zu erhoffen sein dürfte. Allerdings ist sie erst in der zweiten Tourhälfte in den Set gerutscht, und der Rezensent wäre nicht böse gewesen, wenn statt ihrer das in der ersten Tourhälfte gespielte „Sleeping Sun“, bekanntlich eine der ergreifendsten Balladen der Formation, dringeblieben wäre. Dann kündigt Floor ein Experiment an: „Our Decades In The Sun“ kommt als Akustikfassung daher, und zwar erst zum zweiten Mal auf dieser Tour und damit praktisch auch überhaupt. Gut, die Nummer zählt wie große Teile des Endless Forms Most Beautiful-Albums nicht zur Creme de la Creme der Nightwish-Songs, aber die Akustikfassung verbreitet durchaus eine entspannt-romantische Stimmung – die freilich vermutlich noch zu toppen gewesen wäre: In der ersten Hälfte der Tour haben die Finnen hier nämlich „How’s The Heart“, eine der stärksten Nummern des neuen Albums, gespielt und diese gleichfalls in eine Akustikfassung verwandelt. Dieses Erlebnis entgeht den Leipzig-Besuchern also – aber „Nemo“ danach zündet natürlich problemlos, egal was davor gekommen ist. „Shoemaker“ bildet die letzte nicht zwingend zu erwartende Zutat des Sets und den beinahe letzten Beitrag der neuen Scheibe (man gewöhnt sich langsam an die Zusammenfügung des eigenartig rhythmisierten vorderen Teils und der atmosphärischen Vokalisenpassage im hinteren Teil), bevor ein gigantischer Finalblock ertönt: „Last Ride Of The Day“ als abermaliger Tanzflächenfeger (bei dem Floor dem Keyboarder sogar mal kurz das Mikro hinhält und dieser eine Zeile singt, was er seit dem letzten Jahrtausend nicht getan hatte), „Ghost Love Score“ als emotional völlig entrücktes Epos und „The Greatest Show On Earth“, an das man sich mittlerweile auch gewöhnt hat und dessen leider nur etwas zu verstreute grandiose Momente jedem Vergleich mit den anderen Holopainen-Epen standhalten, als das riesige Finale, nach dem freilich diesmal noch etwas folgt: Man hat den Chefdenker gedanklich schon dazu beglückwünscht, dass er das überambitionierte und über weite Strecken langweilige halbstündige Pseudo-Ambient-Werk „All The Works Of Nature Which Adorn The World“ außen vor gelassen hat, da kommt dessen achter Teil „Ad Astra“ doch noch um die Ecke gebogen, nämlich als Outro vom Band, allerdings mit einigen live gesungenen Vokalisen von Floor bereichert. Der Teil ist noch der beste des Werks, und in der gebotenen Variante kann man ihn tatsächlich goutieren, ohne in Morpheus’ Arme abgleiten zu müssen. Nun bleibt allerdings noch die zweite Frage zu beantworten: Wie hoch ist der Verlust von Marko Hietala für die Livesituation bei Nightwish zu bewerten? Jukka Koskinen, der neue Bassist und seit August 2022 offizielles Bandmitglied, beschränkt sich auf das Spielen seines Instrumentes, singt also nicht mit und macht auch keinerlei Ansagen. Am Baß macht der Neue eine gute Figur (soweit man ihn klar durchhören kann, was nicht durchgehend der Fall ist), und auch als Co-Moderator fällt Hietalas Verlust erstaunlich wenig ins Gewicht: Multiinstrumentalist Troy Donockley steuert mit derjenigen zu „Nemo“ eine einzige Ansage bei (noch dazu eine eher verunglückte, wenn er die Lateinkenntnisse des Publikums abfordert und wissen will, was „nobody“ auf Latein heißt), ansonsten fällt die Rolle der Publikumskommunikation ausschließlich Floor zu – und diese macht das prima, ihre ganze Routine aus den letzten 25 Jahren Bühnenpräsenz ins Feld führend, viel in Deutsch parlierend und gelegentlich ins Englische wechselnd, wenn sie etwas nicht in Deutsch ausdrücken kann, und dazu einfach nur supernett, freundlich, begeistert und zugleich spürbar dankbar, dass sie das hier so durchziehen kann, ohne dass ihre Gesundheit ihr Streiche spielt, wobei sie ihre Erkrankung in den Ansagen nicht erwähnt. Ihre quasi unendliche Kondition ist ja schon mehrfach thematisiert worden, zudem bewegt sie sich auf der Bühne viel mehr (was laut Eigenaussage im Tourreport im Metal Hammer einen ganz simplen Grund hat – sie ist von hochhackigem auf flaches Schuhwerk umgestiegen und muß sich damit nicht mehr so konzentrieren, sicher aufzutreten und nicht umzuknicken oder zu stolpern), und sängerisch hinterläßt sie gleichfalls einen exzellenten Eindruck, egal welche Stimmlage das Material gerade von ihr fordert. Nur fehlt ihr jetzt der wichtigste gesangliche Counterpart – und damit sei ein Paradoxon benannt: Sowohl auf Endless Forms Most Beautiful als auch auf Hvman. :||: Natvre. standen sich die drei Gesangsstimmen öfter im Weg, als dass sie zu einer gemeinsamen Leistung hätten finden können, während dieser Eindruck in der Konzertsituation nicht so ausgeprägt, teilweise sogar ins Gegenteil verkehrt war. Das ist auch an diesem Abend wieder so. Donockley steuert einiges an Gesang bei, macht etwa in „Harvest“ auch eine richtig gute Figur – aber an Versuchen, zumindest die eine oder andere Stimme Hietalas zu übernehmen, scheitert er eher. Bis der Hörer sich an diese neue Situation gewöhnt und die Vokalabteilung hier und da vielleicht auch noch tragfähigere Lösungen gefunden hat, wird vermutlich noch die eine oder andere Tour durch die Lande ziehen. So lange muß man sich mit der derzeitigen Situation begnügen, die freilich immer noch so hochqualitativ ist, dass 99,99% aller anderen Bands sich die Finger nach ihr lecken würden. Kurz vor 22.30 Uhr endet so ein abermals exzellenter Auftritt der finnischen Symphonic-Metal-Vordenker, die ihre Ausnahmestellung ein weiteres Mal eindrucksvoll unter Beweis gestellt haben. Setlist Nightwish: Music (Percussion Intro) Noise Storytime Tribal Élan 7 Days To The Wolves Dark Chest Of Wonders Harvest I Want My Tears Back Sahara Our Decades In The Sun (Acoustic) Nemo Shoemaker Last Ride Of The Day Ghost Love Score The Greatest Show On Earth All The Works Of Nature Which Adorn The World: VIII. Ad Astra (Floor Vocals Parts Live) Roland Ludwig |
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