Der Hundertjährige, der wieder auftaucht: Das Gewandhausorchester spielt in seinem letzten Grossen Concert des Jahres 2019 Weinberg und dazu noch Mussorgski und Tschaikowski




Info
Künstler: Gewandhausorchester

Zeit: 20.12.2019

Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal

Fotograf: Marco Borggreve

Internet:
http://www.gewandhausorchester.de

„Weihnachtsbeleuchtung“ im Großen Saal des Gewandhauses für das letzte Grosse Concert des Jahres 2019? Die Orgel wird orange angestrahlt, die Seitenwände blau, und der Zuschauerraum wird stärker abgedunkelt als sonst. Aber der Grund dürfte ein anderer als das bevorstehende Christfest sein: Das Konzert des Gewandhausorchesters wird live auf Arte Concert übertragen und zudem von Accentus Music für eine DVD-Veröffentlichung aufgezeichnet – so ergibt sich eine spezielle Lichtregie, die den Fokus ganz auf die Bühne richtet und die Farbe für die Hintergrundgestaltung nutzt, während es auf das Publikum hier nur sekundär ankommt, jedenfalls optisch.

Zu hören ist an diesem und dem vorgelagerten Abend ein eher ungewöhnliches slawisches Programm, beginnend mit dem Vorspiel zur Oper „Chowanschtschina“ von Modest Mussorgski in einer Bearbeitung von Dmitri Schostakowitsch – Mussorgski selbst hatte die Oper unvollendet hinterlassen, und es gibt mehrere Vervollständigungen bzw. Rekonstruktionen. „Morgendämmerung an der Moskwa“ ist das Vorspiel übertitelt, führt wie viele Opernouvertüren auch eine Parallelexistenz als Konzertstück, kommt allerdings nur selten zur Aufführung, in diesem Gewandhausprogramm überhaupt erst zum zweiten Mal an diesem Haus. Dabei handelt es sich um ein richtig schönes Stück Musik, wenn man erstens fähige Musiker und zweitens einen für dieses Repertoire sensiblen Dirigenten hat, wie Andris Nelsons einer ist, der mit dem „sowjetischen Kulturerbe“ aufgewachsen ist, obwohl er ja Lette ist und damit kein Slawe. Und er scheut sich nicht, auf der Bühne musikalisch seiner Konzertdramaturgin zu „widersprechen“, die im Programmheft von der Doppelbödigkeit des Stücks geschrieben hatte, dass also die späteren brutalen Konflikte hier quasi schon vorbereitet würden. Nelsons folgt dieser Deutung ein einziges Mal, nämlich wenn finstere Schlagzeugkanonaden auf die Glockenschläge folgen und überdeutlich klar wird, dass hier nicht alles so friedlich bleibt, wie es im weichen Dämmerlicht ansonsten erscheint. Drumherum nimmt der Dirigent das Stück nämlich als hochromantische Programmusik ohne doppelten Boden, auch wenn er die einleitenden Klänge nicht ganz aus dem Nichts kommen läßt und zudem der Versuchung widersteht, das Tempo allzusehr zu verschleppen. Aber wenn die Vögel zwitschern, dann tun sie das nicht, um den Untergang anzukündigen, und nach hinten raus läßt Nelsons das Werk superzart schmelzend nun doch im Nichts vergehen und kann die Spannung halten, obwohl sich die Erkältungsquote im Publikum schon hier bedenklich bemerkbar macht.

Mieczysaw Weinberg steht in der laufenden Gewandhaus-Saison im Fokus – sein 100. Geburtstag im Dezember 2019 bietet den äußeren Anlaß, eine ganze Reihe Werke teilweise erstmals in den Spielplan des Gewandhausorchesters einzureihen. Darüber, dass unlängst Indizien auftauchten, der Komponist sei möglicherweise schon im Dezember 1918 geboren worden, kann man sich als Programmplaner natürlich ärgern, aber abgeblasen oder verlegt wird natürlich nichts, zumal es ja dann eine Vorverlegung hätte sein müssen, wollte man sich weiter in der Nähe des 100. Geburtstages bewegen, und das geht nun ganz und gar nicht. In Altenburg und Gera waren bereits im ersten Viertel des Jahres 2019 Weinbergs 6. Sinfonie im Konzert gespielt und seine Oper „Die Passagierin“ auf die Bühne gebracht worden (siehe Rezensionen auf diesen Seiten), ergo ist der mitteldeutsche Boden schon ein wenig bereitet und das Publikum zudem durch die aktuelle Ausgabe des Gewandhaus-Magazins, in dem sich mehrere Artikel mit Weinberg befassen, zumindest grundsätzlich informiert, was hier in diesem Konzert und in mehreren der kommenden Wochen zu erwarten ist.
Weinberg hat mehrere Solokonzerte geschrieben, und an diesem Abend steht das Konzert für Trompete und Orchester B-Dur op. 94 auf dem Programm, uraufgeführt anno 1968, dann aber schnell wieder aus dem Repertoire verschwunden und nun als Gewandhaus-Erstaufführung erklingend, mit Håkan Hardenberger (Foto) als Solist, der in den letzten Jahren häufig hier zu Gast war und dem Publikum hauptsächlich rares Repertoire nahebrachte. Der Komponist hat die Sätze ein wenig selbstironisch betitelt – der erste heißt „Etüden. Allegro molto“, und es folgen noch „Episoden“ und „Fanfaren“. Für ein Solokonzert sei das Orchester ziemlich groß besetzt, bemerkt der linke Sitznachbar des Rezensenten, und er hat recht damit – beispielsweise sind gleich fünf Schlagwerker im Dienst. Trotzdem verschafft sich der Trompeter stets genug Gehör und wird gleich zu Beginn solistisch gefordert, und trotz ziemlicher Kleinteiligkeit samt entsprechender Zerklüftung entspinnt sich doch des öfteren eine klassische motivische Arbeit zwischen Solist und Orchester, die mit dem Herunterspulen von Etüden wenig zu tun hat. Nelsons nimmt das Tempo anweisungsgemäß ziemlich zügig, und dank mancherlei Offbeatstrukturen wirkt das Ganze noch schneller. Es entwickelt sich eine Art Zirkusmusik, allerdings in diesem Falle ohne die beißend-bittere Ironie, die solche Elemente bei Weinbergs wichtigstem Förderer Schostakowitsch im Regelfall besaßen. Arbeitet Hardenberger allerdings zwischenzeitlich mit Dämpfer im pp, bewegt er sich in der Nähe der Unhörbarkeit, was man mit einer Trompete erstmal schaffen muß, und der Satzschluß marschiert dann wieder powernd nach vorn, hier allerdings den Zirkustouch doch mit ein paar kleinen Augenzwinkerern versehend.
Der langsame Satz entwickelt sich auch sehr langsam, und der bisher selbst für ein Solokonzert äußerst dominante Eindruck der Trompete wird relativiert: Weite kahle Streicherflächen werden nur von wenigen Einwürfen der Bläser und Pauken gegliedert, und die Flöte klagt ihr Leid mit einer langen Kantilene, der dann endlich auch der Solist mit einer gleichartigen antwortet. Die einzelnen Episoden sind durch jeweils identische Schlagwerk-Einwürfe gegliedert, aber die Berechenbarkeit nimmt durchaus nicht zu – stets bleibt spannend, was uns der Komponist in der nächsten Episode nun wieder vorsetzt. Trotz eher bedächtigen Tempos entwickelt sich bisweilen schon ein ziemlich apokalyptischer Eindruck, während weitere Flötenkantilenen das Tempo herausnehmen, die Eindringlichkeit steigern und einen Hornisten zum vielfachen Piano verführen. Der Schlußsatz wiederum ist zwar tatsächlich hier und da von fanfarenartigen Klängen geprägt, aber strukturell interessanter ist hier etwas anderes: Zwei Wochen zuvor hatte das Gewandhausorchester die deutsche Erstaufführung von Sofia Gubaidulinas 3. Violinkonzert gespielt (siehe Rezension auf diesen Seiten) – und man wird hier und da das Gefühl nicht los, hier lagere ein bewußter oder auch unbewußter Inspirationsquell. Dass Gubaidulina, als sie noch in der Sowjetunion lebte, eine Aufführung des Trompetenkonzerts miterlebt hat, erscheint durchaus nicht unmöglich, und in ihrem Konzert hatte sie praktisch unterschiedliche Stufen des Scheiterns eines Dialogs dargestellt. Genau das aber passiert in Weinbergs Trompetenkonzert auch – hatten schon im ersten Satz Trompeter und Orchester Kommunikationsschwierigkeiten, so treibt der Komponist das nun im dritten Satz noch auf die Spitze, wenn zunächst die Kommunikation zwischen dem Trompeter und dem Spieler der Großen Trommel scheitert und Ähnliches dann auch in einer langen Reihe einzelner Instrumentengruppen oder Musiker fortgesetzt wird: Keiner findet mehr eine Bindung zur Trompete, und irgendwann ist der Satz einfach zu Ende – irgendwie banal, aber doch auch irgendwie genial und von Orchester, Dirigent und Solist hochklassig umgesetzt. Für ein unbekanntes und teilweise sperriges Stück erhält das Trompetenkonzert vergleichsweise viel Applaus, aber Konzertmeister Frank-Michael Erben beendet die Versammlung abrupt nach dem zweiten Vorhang und macht damit klar, dass keine Zugabe erklingen wird.

Nach der Pause gibt es die 4. Sinfonie f-Moll op. 36 von Peter Tschaikowski – ein Tschaikowski-Zyklus mit Nelsons und dem Gewandhausorchester ist im Entstehen, woraus sich Ansetzung und Aufnahme erklären. Im Eröffnungssatz wackeln die Hörner drei Sekunden lang, bevor sie zur angestrebten Schärfe finden – und Nelsons strebt hier eine enorme Schärfe an, eine, gegen die ein Schweizer Messer stumpf wirkte. Wie er riesige Spannung in den Pianissimo-Teil vor dem Hauptteil des Satzes legt, das verrät den Meister auf dem Pult, aber natürlich auch die Meister an den Pulten im Orchester: Hier führt der Dirigent die Musiker an die Grenze des Stillstandes. Im Tutti klingt das Ganze dann später ziemlich knackig, obwohl sich Pauken und Tiefblech akustisch kurioserweise im Wege stehen. Nelsons reizt hier ein sehr breites Dynamikspektrum aus, denn auch die walzerartigen Klänge nimmt er – das Tempo allerdings durchaus nicht zu weit verschleppend – sehr weit zurück, während das große Tutti dann nach sehr viel Feuerwasser klingt, die Kammermusik wiederum konsequent bremst und all das dann auch noch mit einer Beschwingtheit herüberkommt, für die man wirklich große Könner braucht. Im Satzschluß baut sich dann schon eine ziemlich große Monumentalität auf, und da der Satz relativ lange gedauert hat und die Schlußwirkung überzeugend gewesen zu sein scheint, beginnt auf der Orgelempore jemand zu klatschen – ein Phänomen, das in den regulären Orchesterkonzerten im Gewandhaus kaum je auftritt.
Das Andantino in modo di canzone erhofft man sich allgemein schön, richtig schön, obwohl der Komponist in seinem nachgeschickten Programm auch von Erschöpfung nach dem Tagwerk schrieb. Interessanterweise scheint Nelsons letzteres ernst zu nehmen: Die Oboenkantilene besitzt eine gewisse Schönheit, ja, aber der erhoffte Eskapismus bleibt aus. Der Dirigent wählt ein eher schreitendes, nicht zu schleppendes Tempo, und die Schichtung der großen Flächen gelingt erwartungsgemäß hervorragend – und letztlich nehmen auch Schönheit und Eskapismus mit jedem Ruhepol höhere Werte an, trotz einiger Wackler bei den Einsätzen. Die Stimmung wird so immer fragiler und kann im Satzschluß nicht mal durch die obligatorischen Huster und einen Handyton getrübt werden.
Die Pizzikatoorgie im Scherzo leitet Nelsons mit einem Minimum an Gesten, aber das genügt vollkommen: Das Tempo ist enorm zügig, die Spielkultur sauber, das Holz im Trio munter, und so locker hört man Blech und Pauken dort sonst nur sehr selten. Auch die Reprise bietet ein breites Dynamikspektrum samt hübschem Schlußwitz im Piano.
Das Finale kommt nicht ganz attacca, aber die Pause ist kurz genug, um dem eröffnenden Ausbruch eine sehr große Kontrastwirkung zu verleihen. Nelsons fordert ein enormes Tempo, trotzdem wirkt das Ganze nicht überhastet – einzig das Volkslied-Themenzitat „Stand ein Birkenbaum“ (im Programmheft übrigens als „volksliedhafter Nebengedanke“ bezeichnet – aber es ist ein Volkslied) verliert dadurch ein wenig an Wirkung, und sein melancholischer Faktor kommt allenfalls mal latent in den Untertönen der Hörner zum Tragen. Um das zu kompensieren, zieht der Dirigent den zweiten langsamen Part enorm in die Breite, damit auch wiederum den Kontrastfaktor zum Wirbel ringsumher erhöhend. Die Themenwiederkehr aus dem Eröffnungssatz gerät gleichermaßen strahlend, monumental und zerklüftet – auch das ein Kunststück, das man selten hört. Die Gestaltung der Spannung am Übergang in den furiosen Schlußteil überzeugt ebenfalls, wenngleich dieser keine Reserven mehr mobilisieren kann und sich daher mit dem bereits zuvor erreichten, allerdings auch schon enorm hohen Energieniveau begnügen muß. Der Applaus bricht quasi unmittelbar nach dem Schlußton los, und er nimmt das Energieniveau problemlos auf. Schöner Jahresabschluß! (Auch wenn für 2020 der Wunsch bleibt, so mancher Kranker möge lieber zu Hause bleiben, als ins Konzert zu gehen ...)


Roland Ludwig



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