Antirassistischer Gottesdienst mit Anti-Flag, The Creepshow und dem Homeless Gospel Choir im SO 36
In seiner ansonsten sehr wohlmeinenden Kritik zum aktuellen Anti-Flag-Album 20/20 Vision beklagt Marcus Schleutermann in der Rock Hard, „dass der melodieschwangere Mainstream-Punk mit seinen animierenden Mitsingpassagen und Oh-oh-oh-Chören zumeist äußerst fröhlich anstatt angemessen aggressiv klingt“. (Rock Hard 393, Seite 94) Das passe nicht zu den angepissten Texten, die sich klar gegen Trump & Co richten. Liest man die ansonsten ebenfalls sehr wohlmeinende Kritik von Norbert zum Anti-Flag-Konzert im Berliner Kult-Club SO 36, müsste sich Schleutermann dort noch wohler gefühlt haben, denn von dem melodischen Ansatz der Pennsylvania-Punks, den Norbert durchaus schätzt, war in der Live-Situation so viel wohl nicht mehr zu hören. Nicht nur deshalb war ich zu Beginn des Auftritts unsicher, ob ich mich nicht ärgern sollte. Denn Anti-Flag waren an diesem Abend in Berlin alles andere als konkurrenzlos. Während die Punks standesgemäß im SO 36 residierten, (hard)rockten wenige Kilometer entfernt Uriah Heep, Nazareth und Wishbone Ash das Tempodrom – moderiert(!) von Andy Scott (Sweet), ein neues Konzertformat, das sehr persönliche(?) Interviews in den Konzertablauf integrieren soll, wie es im Vorfeld hieß. Spannende Idee! Aber weder die Heep-Promoter, noch die Wishbone Ash-Plattenfirma oder der Veranstalter selber sah eine Möglichkeit uns einen Platz auf Gästeliste und im Fotograben zu organisieren. Da hatte die Promoterin des schon lange im Vorfeld ausverkauften Anti-Flag-Konzerts offenkundig ein besseres Händchen und gab mir noch kurz vor Konzerttermin ihr OK, wenn auch dieses Mal solo und ohne Begleitung. Und so stand ich kurz vor 22 Uhr direkt vor der Bühne, um mir die Ohren frei blasen zu lassen. Mein ursprünglicher Plan, nach den ersten drei Stücken, während der für die Fotografen das Fotografieren erlaubt war, kurz zum Auto zu gehen, um mich von der Fototasche zu befreien, stellte sich als Illusion heraus. Der lange Schlauch, der sich SO 36 nennt, war bereits kurz nach Beginn des Anti-Flag-Auftritts eine einzige hüpfende, schwitzende, gröhlende Masse. Selbst wenn es mir gelungen wäre mich zum Ausgang – am anderen Ende des Schlauches – durchzukämpfen, wäre eine Rückkehr eine Sache der Unmöglichkeit gewesen. Und vom Ende des Schlauches aus sieht man eben so viel, als wenn man vor dem Club – oder in einem anderen Stadtteil Berlins (oder einer anderen Stadt) stehen würde. Also die Lärmkaskade direkt an ihrem Ursprungsort betrachtet. Dem zu fast 100%ig textsicherem Publikum war das im Lärm Verschwinden der Melodien herzlich egal. Praktisch jeder Song wurde von Anfang bis Ende mitgegröhlt. Ob das für die fünf(?) Songs von 20/20 Vision, das zum Zeitpunkt des Konzertes gerade vier Tage alt war, im gleichen Maße galt, vermag ich nicht zu beurteilen. Dass ich – mit einer Ausnahme – keinen der gespielten Titel erkannt habe, lag aber auch an mir. Denn ich kenne von den mittlerweile zwölf Alben, die die Band in den 25 Jahren ihrer Existenz eingespielt haben, bislang nur zwei, die insgesamt wohl nur mit drei Titeln berücksichtigt wurden. Wenn ich die Titel auf dem Ausdruck der Set List richtig zugeordnet habe, war For Blood and Empire von 2006 das am stärksten vertretene Album. Es folgte das aktuelle 20/20 Vision mit fünf Stücken. American Fall (2017) und das Band-Debüt Die for the Government von 1996 waren mit je zwei Stücken dabei; ansonsten noch mehrere Alben mit je einem Stück. Mit anderen Worten: Anti-Flag haben einen sehr breit gespannten Überblick über ihre ganze Karriere geliefert. Dass die Band nicht erst seit Trump angepisst ist, bewies Chris #2, dem bereits nach dem dritten Stück der Schweiß in Strömen über das Gesicht lief, mit einem klaren antirassistischen Statement, mit dem er nicht bis zum ersten Track von 20/20 Vision wartete, dessen Cover mit dem durchgestrichenen Trump-Konterfei auch als Backdrop hinter der Bühne diente. Die Faust in die Höhe geballt deklamierte der Bassist, der das Sprachrohr der Band ist, nicht das einzige Mal an diesem Abend ein Bekenntnis gegen Rassismus, Nationalismus, Sexismus, Homophobie, Ausgrenzung von queeren Personen, „and“ (falls er irgendwas vergessen haben sollte) „beyond“. Das Publikum stieg voll mit ein. Man (und frau) war einer Meinung. Und mehr und mehr entstand der Eindruck in einer Art Punk-Gottesdienst zu sein, in dem gemeinsam gesungen, bekannt, ja und in gewisser Hinsicht auch gebetet wurde – natürlich nicht in stiller Innerlichkeit. Es fehlte eigentlich nur noch der Kollektenaufruf… …und der kam dann gleich zu Beginn der Zugabe. Ein Vertreter von sea-watch.org kam auf die Bühne und pries die Arbeit seiner Organisation, die dort hilft Flüchtlinge aus dem Mittelmeer zu retten, wo staatliche Organisationen sich zurückziehen. Und natürlich verwies er auf die Möglichkeit die eigenen Euros in Sammelbüchsen zu versenken, die an einem Sea-Watch-Stand am Rande des Konzertsaals standen, oder gleich Fördermitglied zu werden. (Netter Zufall am Rande. Wenige Tage zuvor wurde in den Kirchen der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz für denselben Zweck gesammelt.) Zu diesem Zeitpunkt hatten mir Anti-Flag bereits jedes Bedauern nicht zu Uriah Heep gegangen zu sein, aus dem Kopf geblasen. (Das kommt wahrscheinlich wieder, wenn Du die Berichte von der Tour liest; Red.) Was der Pennsylvania-Vierer (plus leicht am rechten Bühnenrand verstecktem Background-Sänger) in Berlin abgeliefert hat, war exzellent – letztlich gerade, weil er die manchmal softe Attitüde der Studioalben unter dem Stiefelhacken zertreten hat. Anti-Flag live und Anti-Flag studio, das erwies sich fast, wie zwei verschiedene Bands.
Den Auftritt dominerten eindeutig Gitarrist / Sänger Justin Sane und Bassist / Sänger / Ansager Chris #2. Der zweite Gitarrist / Sänger fiel dagegen in seiner Präsenz deutlich ab. Da konnte sich der Drummer deutlich mehr in Szene setzen. Ich bin mir unsicher, ob die beiden Posten an diesem Abend etatmäßig besetzt waren. Wenn ich meine Fotos mit dem Foto am unteren Ende der Bandhomepage vergleiche, sieht es für mich so aus, als hätte sich der eigentliche zweite Gitarrist Chris Head hinter die Schießbude gesetzt. Der am Abend zu erlebende Gitarrist könnte mit etwas Fantasie (und gefärbten Haaren) sogar Drummer Pat Thetic sein; wahrscheinlicher aber erscheint mir, dass hier ein Ersatzmann am Start war. Blickfang 1, Gitarrist Justin Sane, schlank, zierlich, agil, mit Rock’n‘Roll Tolle, fast elegant in einem schwarzen Hemd, bei dessen Glanz man sich irgendwann fragte, ob er von einem Seiden- oder Satin-Stoff stammte, oder schlicht vom Schweiß. Sane lebte die großen Gitarristen-Posen. Da wurden die Soli in gegrätschter Beinhaltung zelebriert, oder der Rücken ins Hohlkreuz geworfen, während die Hand mit dem Gitarrenhals in Richtung Bühnendecke strebte.
Ein absoluter Kontrast zu Bassmann Chris #2, der die leichte Korpulenz seines deutlich schwereren Körpers immer wieder durch aufgeblasene Backen betonte. Man hatte das Gefühl, er würde gleich platzen, wenn er das, was er zu sagen hat, nicht sofort an den Mann bringen könnte. Und so spie er seine Messages immer wieder in die Menge mit geballter Faust, durchs Mikrofon, oder auch mal durchs Megafon. Er liebte Luftsprünge, bei denen er seine rot-beschuhten Füße bis fast an das Hinterteil hoch riss, den Bass, beklebt mit einem ebenfalls roten Aufkleber „No War in Iran“ fest im Griff. Ist einer der beiden der Grund dafür, dass die erste Reihe eine überraschende Parallele zu Justin Bieber Konzerten hatte? Ich habe das bei einem Punk- oder Rock-Konzert noch nie erlebt, dass die erste Reihe, die sich an die Absperrung zum Fotograben drängte, praktisch 100%ig weiblich war. Und wenn einer der Gitarristen ein Plektrum verlor und dieses am Bühnenrand oder im Fotograben liegen blieb, wurden Fotografen und Security-Leute mit sehnsüchtigen Blicken beschworen die Trophäen an eine holde Weiblichkeit weiter zu reichen. Was natürlich auch geschah. Denn die Security, berufsbedingt massige Kerle, waren äußerst geduldige Menschenkinder. Es war faszinierend zu beobachten mit welcher Gelassenheit und Vorsicht sie die Crowdsurfer aus der Menge fischten, im Fotograben absetzten und wieder ins Rennen schickten – mit dem nachsichtigen Lächeln eines Vaters, der darauf achtet, dass sich die Freunde des Sohnes beim Topfschlagen nicht an einer scharfen Kante stoßen. Gegen 11 gab es ein letztes Highlight, das Stück, das selbst ich erkannt habe, und das in Berlin einfach sein muss – und der ganze Saal skandierte „I will wait at the Brandenburg Gate. At the Brandenburg Gate I’ll wait.“ (Zu den Hintergründen dieses Stückes hatte mir Chris #2 seinerzeit einiges erzählt.) Kurz darauf stellte sich die Menge diszipliniert an den Garderoben an. Ich hatte meine Jacke glücklicherweise in die Fototasche gepackt und konnte mich in die Nacht entlassen. Begonnen hatte der Abend übrigens ganz anders. Gegen 20 Uhr kam ein etwas schräger Typ auf die Bühne. (Konzertbeginn war für 21 Uhr angekündigt.) Klein, füllig, mit Hornbrille, weitem oliven Hemd und einer akustischen Gitarre. Nix besonderes also. Solche Typen sind im Tourtross von Bands keine Seltenheit. Er stöpselte die Gitarre ein, wohl zum Soundscheck. Aber plötzlich kommentiert er die Akkorde, die er zum mutmaßlichen Test durch die Speaker gejagt hatte, mit den Worten „This is a Protest Song.“. Der schräge Typ war gar kein Roadie, sondern Derek Zanetti, oder auch der komplette Homeless Gospel Choir, Lokalkollege von Anti-Flag aus Pittsburgh und erster Act an diesem Abend.
Er schrammelt sich eine halbe Stunde mit viel Power durch ein Songwriterprogramm, das mindestens so politisch und engagiert war, wie das der Hauptband. Praktisch jeder Song wurde mit den Worten „This is a Protest Song.“ angekündigt. Dabei hatte sein Programm einen sehr deutlich antikirchlichen Tenor. Sein Logo war ein Kreuz, dem beide Arme abgebrochen werden. Ein Stück allerdings wurde angesagt mit den Worten „This is a Protest Song against the bad Weather in Winter.“ Zanetti artikulierte Texte und Ansagen so deutlich, dass man praktisch jedes Wort verstehen konnte. Eine Seltenheit! Zwar formulierte er seine antiklerikale Kritik maßlos und ohne jeden Ansatz von Differenziertheit, aber dennoch nicht verbissen, sondern mit Humor und einem guten Stück Selbstironie. Sympathisch! Das Publikum fraß ihm bald aus der Hand und seine Ankündigung, er sei demnächst mit Frank Turner wieder in der Stadt, stieß auf erkennbares Interesse. Eine halbe Stunde später ein völlig anderes Bild. The Creepshow, ein 5-Mann, pardon 5-Personen-Abrißkommando, startete von 0 auf 100 im Bruchteil einer Sekunde auf der Bühne. Wie bei Anti-Flag waren es primär zwei Personen, die die Blicke auf sich zogen. Zum einen – natürlich - Kendalyn Legaspi, die Leadsängerin, die gelegentlich auch zur Gitarre griff, eine kleine Wildkatze, die in ständiger Bewegung war Äußerlich die klassische Punk-Uniform, schwarz, zerbissene Hose, Tattoos überall, wo Tattoos hinpassen. Dabei wirkte sie etwas braver, als sie es wohl gern getan hätte. Neben ihr Sean McNab, ein Berg von einem Mann mit wildem Vollbart und vor allem – mit weißem Kontrabass, der ihn bei seiner Perfomance stark unterstützte. Mit so einem Teil macht man was her. Und McNab scheute sich auch nicht, das gute Teil mal über dem Kopf zu spielen. Bei einem Stück nutzte Kendalyn den Bass – von McNab zuverlässig gehalten – als Klettergerüst, von dem heraus sie ins Publikum hineinsang (leider zu einem Zeitpunkt, an dem das Fotografieren nicht mehr gestattet war). Neben den beiden hatte auch Pianist Kristian Rowles seine optischen Momente, in denen er sein mannshohes Klavier so traktierte, dass es schwankte, wie ein Viermaster im Sturm. Genau das stellte sich aber auch als das größte Problem der Creepshow heraus. Sehr oft machten sich die vier Bandmitglieder (die drei genannten plus Gitarrist Chuck Coles) auf der Bühne sowohl akustisch wie optisch den Raum streitig, so dass manches was gut gemacht war, schlicht verpuffte. Das galt insbesondere für die Soloarbeit von McNab, die oft besser zu sehen, als zu hören war. Norbert von Fransecky |
|
|
|