Gestorben ohne alt zu werden – Das Leben des Keith Moon, eine als Komödie inszenierte Tragödie
Info |
Autor: Tony Fletcher
Titel: Dear Boy – Das explosive Leben des Keith Moon
Verlag: Bosworth, 2008
ISBN: 978-3-86543-218-6
Preis: € 29,95
747 Seiten
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750 Seiten füllt Tony Fletcher mit den 32 Jahren, die Keith Moon auf dieser Welt verbracht hat. Die Produktion der Who-Alben ist dabei nur ein Teil – und nicht einmal der wichtigste. Im Mittelpunkt steht das selbst zerstörerische und andere verletzende Leben des Drummers, das nicht nur jedes Klischee des Rockstarlebens bis zum Exzess übererfüllt, sondern diese Klischees entscheidend mitgeprägt hat.
Fletcher erhebt im Vorwort den Anspruch, den Mythen und Legenden, die über Moon verbreitet werden, nicht einfach aufzusitzen, sondern einen kritischen Blick darauf wach zu halten, dass vieles bewusst oder unbewusst übertrieben wurde und im Laufe der Zeit zur unsterblichen Legende wurde, die einfach geglaubt werden wollte. Diesen Anspruch löst er nicht an jeder Stelle ein, hält ihn aber konsequent genug durch, um die Legendenbildung nicht einfach noch einmal zu verlängern.
Alles andere wäre vielleicht „wissenschaftlicher“, aber sicher leseunfreundlich und dem Feuerwerk des Lebens von Moon kaum angemessen. Immerhin hat sich Fletcher nicht auf Sekundärmaterial verlassen, sondern intensiv und über Jahre hinweg eigene Interviews geführt. Darüber hinaus legt er sauber Rechenschaft darüber ab, welche eigentlich zu erwartenden Gespräche, warum nicht geführt werden konnten.
Weniger kritisch wirkt die Gesamteinschätzung Moons, die Fletcher oft wiederholt, und die aus Moon den mit Anstand wichtigsten Rock-Drummer aller Zeiten macht, der im Grunde ein liebenswürdiger Kerl war, der sich nur einfach nicht in den Griff bekam. Das wirkt auf beiden Beinen dann doch recht naiv.
Wie wichtig das Schlagzeugspiel Moons auch immer gewesen sein mag, und welche Bedeutung man den Who in der Geschichte der Rockmusik einräumen mag, die überlebensgroße Stellung, die Moon in Dear Boy gewinnt, dürfte nur dadurch zu erklären sein, dass Fletcher so dicht vor dem Gegenstand seiner Anbetung steht, dass er den Kopf massiv nach oben reißen muss. (Aus 20 cm Entfernung wirkt auch ein Einfamiliehaus wie der Kölner Dom.) Das aber ist eine nicht unsympathische Fanperspektive, die verzeihlich ist.
Anders sieht das mit der Bewertung des außermusikalischen Verhaltens Moons aus. Das hätte Fletcher eigentlich selber merken müssen. So ungeschminkt schildert er das völlig rücksichtlose, oft schlicht nur noch brutal zu nennende Verhalten Moons anderen Personen gegenüber. Und damit sind nicht nur die von Moon geliebten, peinlichen Geschmacklosigkeiten gemeint, wie völlig nackt in der Hotellobby zu erscheinen, in der Öffentlichkeit in Nazi-Uniformen aufzutreten, oder das exzessive Zerstören von Hotelzimmern – ein Schaden, der mit dem Scheckbuch wieder zu regulieren war.
Wer sich den Umgang mit den Menschen ansieht, die Moon nah stehen, der wird die verharmlosende Schilderung Fletchers irgendwann nur noch mit Widerwillen lesen. Ich bin kein Experte auf diesem Gebiet, aber für mich gibt Moon hier das Bild eines Süchtigen ab, wie es paradigmatischer kaum vorstellbar ist. Da wo bei „normalen“ Menschen die Existenzen zerbrechen, konnte Moon ungebremst weiter machen.
Es ist eine längst bekannte Tatsache, dass ein Süchtiger einen so genannten „Co“ braucht, jemand der sein Leben mit lebt und die gröbsten Probleme, die der Süchtige verursacht, ausbügelt. Moon standen diese Cos in Gestalt seiner beiden Frauen zur Verfügung, die hilflos daneben standen, in falsch verstandener Solidarität viel zu lange zu ihm gehalten und an seiner Seite die Hölle erlitten haben. Darüber hinaus konnte sich Moon persönliche Assistenten leisten, die er oft wie Dreck oder Sklaven behandelte. Und da wo „normale“ Menschen die juristischen oder finanziell ruinösen Folgen ihres Verhaltens hätten tragen müssen, konnte sich Moon mit seinen immensen Einkünften im letzten immer wieder frei kaufen.
Natürlich kann man das Ganze als Krankengeschichte lesen, die in einer Zeit gelebt wurde, in der das Krankheitsbild „Alkoholismus/ Sucht“ noch nicht so bekannt und erforscht war, wie heute. Aber die Sympathie, mit der Fletcher sie in Solidarität mit dem Täter erzählt, wird mehr als fragwürdig, wenn man sich einmal mit Empathie auf die Seite der vielen Opfer stellt.
Das mindert die für eine Rock-Biographie ungewöhnliche historische Qualität von Dear Boy allerdings nicht. Sie wird in der vorliegenden Ausgabe mit einem 20-seitigen „Nachwort zur Auflage von 2005“ noch einmal verstärkt. Hier trägt Fletcher Informationen zu einigen besonderes umstrittenen Punkten in der Biographie Moons nach, die ihm nach Erscheinen der Erstauflage zur Verfügung gestellt wurden.
Norbert von Fransecky
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