Von der URL zur Band: Weihnachtliche Express-Antworten von Kassettenricardo
Advent 2024. Zwischen der Vorbereitung einer die Aula füllenden Weihnachtsandacht in der Schule, dem auf den letzten Drücker verschobenen Lohnsteuerjahresausgleich, Ausarbeitung eines direkt nach dem Jahreswechsel stattfindenden Gottesdienstes und dem Einkaufen der Weihnachtsgeschenke schraubte Norbert auch noch an der Fertigstellung der MAS-Januar-Ausgabe. Unter anderem wollte er das Album Angesichts der Lage von Kassettenricardo dabei haben. Wie er in der Review bereits erwähnt hat, sind ihm dabei Fragen gekommen. Und da es seit über einem Jahr kein Interview in der MAS mehr gegeben hat, hat er die Band am 22.12. um 23.33 Uhr mit der Anfrage überfallen, ob sie in der Lage wäre, noch vor Jahresende ein paar Interviewfragen zu beantworten. Gitarrist Tom erklärte die Bereitschaft und am Spätnachmittag des folgenden Tages gingen die Fragen raus. Hier ist das Ergebnis. MAS: Hallo Tom! Nett, dass Du dem plötzlichen Anschlag offen gegenüberstehst. Zu Beginn zwei kleine Technika für unsere Infobox: Wer antwortet und von wo aus (Stadt genügt)? Tom: Wir haben die Fragen gemeinsam von Berlin aus beantwortet. MAS: Grund für die Interview-Anfrage ist das Rätsel, das mir Kassettenricardo auch nach diversen Durchläufen von Angesichts der Lage immer noch ist. Mit den Begriffen Indie, Punk, Alternative, Rock skizziert ihr selber eure stilistische Ausrichtung. Das kann man gut so stehen lassen. Es fehlt vielleicht vor Rock und Punk noch das Präfix Deutsch- und bei deutschsprachigen Bands – gerade wenn sie aus dem Punk-Umfeld kommen – schaut man etwas genauer auf die Texte. Wie wichtig sind Euch Eure Texte?
Carsten: Lyrics haben einen hohen Stellenwert in unserem Schaffen. Wir wollen mit unserer Musik etwas aussagen und haben uns daher mit der Gründung von Kassettenricardo das erste Mal an deutschsprachige Texte getraut. Das war und bleibt eine große Herausforderung und Gratwanderung, weil man schnell Gefahr läuft, platt oder abgedroschen zu klingen. Doch wie an der Musik feilen wir auch an den Worten gemeinsam und ergänzen uns dabei ganz gut mit unseren verschiedenen Wortschätzen und Einflüssen. MAS: Ich frage auch deshalb, weil es mir schwer fällt, den Texten zu folgen. Sie sind alles andere als plakativ und wirken sehr kryptisch. Oft scheinen sie mir mehr eine Aneinanderreihung von Schlagworten, bzw. -sätzen zu sein – geeignet Assoziationen abzurufen, ohne wirklich belastbare Aussagen zu machen. Ist das beabsichtigt? Rosi: Mit Sicherheit wollen wir nicht zu plakativ sein und unseren Hörer:innen genug Raum zur eigenen Interpretation lassen. Unsere Musik soll zum selbstständigen Denken anregen und nicht mit dem Zeigefinger herumfuchteln, um anderen unsere Meinung aufzudrücken. Trotzdem ist es uns schon wichtig, uns klar für Themen wie sozialen Zusammenhalt und Umweltschutz zu positionieren. Denn bei aller Liebe für kryptische Formulierungen, wollen wir zwischen den Zeilen auch eine klare Botschaft senden. Wobei das nicht für alle Songs gilt, wir schreiben auch gerne mal einen Text über Liebe oder eigene Macken. MAS: Ich beziehe mich in Reviews oft auf die Texte von Bands und weise daraufhin, welche Themen sie vertreten und was für Positionen sie einnehmen. Bei Euch habe ich immer das Gefühl, ich würde mich mit solchen Aussagen viel zu weit aus dem Fenster lehnen. So bin ich mir z.B. immer noch nicht sicher, ob „Zeit bleibt stehen“ wirklich ein Liebeslied ist, und wenn ja, was das Geliebte ist – eine Frau, die Band, das eigene Ich?
Paul: Sehr interessant, denn gerade diesen Song empfinden wir als ein eindeutiges Liebeslied. Es geht um eine konkrete Person und die starken Gefühle für sie. Das ist ungewöhnlich für uns und erforderte einigen Mut. Oft feilen wir gemeinsam monatelang an Songs, um sie zu perfektionieren. Doch „Zeit bleibt stehen“ ist in wenigen Tagen kurz vor den Studioaufnahmen entstanden – ein echtes Zeitzeugnis also. Doch wir finden, er zeigt eine weitere, hörenswerte Facette von uns, die unser Debütalbum interessanter macht. MAS: In „Betoniertes Lächeln“ scheint ihr Euch gegen linke (Moral)Ideologen zu positionieren. Dazu passt vielleicht auch die Formulierung „Entwicklung ist Erfahrung“ aus dem bereits erwähnten „Zeit bleibt stehen“. Steckt da eine Anfrage an eine ideologisch festgefahrene Szene drin? Tom: Ideologien sollten aus unserer Sicht immer hinterfragt werden. „Betoniertes Lächeln“ dreht sich um die kapitalistische Leistungsgesellschaft und die Rolle der Einzelnen darin. Was brauche ich, um glücklich zu sein? Wie stehen äußere Einflüsse und Normative dem entgegen? Die Antwort kann und muss natürlich jede:r für sich finden. Verschiedene Erfahrungen helfen aber auf jeden Fall bei dieser Entwicklung. MAS: Nochmal kurz zur Nachvollziehbarkeit der Texte. Ich glaube, sie gehören zu den Texten, die man besser vor Augen hat, wenn man sie verstehen – oder deuten will. Wäre es nicht sinnvoll, sie zumindest auf die Homepage zu stellen? Carsten: Guter Gedanke, den wir auf jeden Fall aufgreifen. Tatsächlich haben wir unsere Texte bereits auf vielen Wegen verfügbar gemacht - im Vinyl-Inlay, unter unseren YouTube-Videos und bei Streaming-Portalen und sozialen Medien. Wir veröffentlichen unsere Musik ja bisher komplett selbstständig ohne Label oder Verlag, die solche Detailarbeit sehen und übernehmen. Dafür lernen wir jeden Tag dazu und sobald wir Zeit finden, kümmern wir uns mit viel Liebe um die Umsetzung.
MAS: Jetzt knalle ich mal Klischees auf den Tisch. Laut Eurer Homepage stammt ihr aus einer Brandenburgischen Kleinstadt (wahrscheinlich 35% AfD) und lebt in Berlins eher linken Kulturszene. Existiert Ihr da in einer Spannung? Rosi: Absolut! Die politische Entwicklung ist für uns ein großes Thema, bei dem wir uns klar gegen Rechts und Menschenfeindlichkeit positionieren. Der Zulauf der Faschos kommt ja nicht von ungefähr, sondern ist ein Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklung. In Jüterbog, wo wir zum Teil herkommen, gab es vor zwanzig Jahren zum Beispiel noch verschiedene Kulturorte und Veranstaltungen, die für vielfältige Perspektiven und Miteinander gesorgt haben. Paul: Inzwischen ist das meiste davon verschwunden und es wächst nichts nach – auch weil es immer schwieriger wird, Menschen dafür zu begeistern. Der digitale Wandel macht uns alle träge. Das erleben wir selbst in der bunten Berliner Kulturszene, in der es auch immer schwerer wird, Konzertsäle zu füllen. Umso wichtiger ist jedes Engagement, um Menschen zusammenzubringen und positive Gefühle zu erzeugen. MAS: Kommen wir mal zur Band? An die letzte Frage anschließend: Wo kommt Ihr her? Ihr habt Euch ja laut Homepage wohl erst in Berlin zusammengefunden.
Rosi: Musik machen wir alle schon seit unserer Jugend. Ich habe in meiner Brandenburger Heimatstadt Jüterbog etliche Konzerte organisiert und in diversen Bands wie z.B. SupersighCo. Bass gespielt. Paul trommelte dort auch bei etlichen Kombos & Trommelgruppen. Über unseren gemeinsamen Musiklehrer haben wir uns kennengelernt. Über Freunde sind wir mit Gitarrist Tom in Kontakt gekommen, der sich mit seiner Rockband Kolumbus Kill in Berlin einen Namen gemacht hat. Carsten: Ich komme ursprünglich aus der Nähe von Flensburg. Vorher habe ich meistens bei Jams und Küchensessions gesungen. Mit Kassettenricardo stand ich also das erste Mal als Sänger auf einer Bühne. Da war ich anfangs echt nervös und musste erstmal lernen, meine Stimme richtig zu benutzen. Dabei half es natürlich, dass die anderen bereits viel Erfahrung mitbrachten. MAS: Stellt doch mal die vier Bandmitglieder vor. Auf der Homepage gebt Ihr ja nur die Vornamen bekannt. Ich vermute auch mal, ihr lebt nicht von der Musik und habt noch andere Standbeine. Tom: (Lacht) Bei genauem Hinschauen kann man unsere vollen Namen dem Impressum entnehmen. Aber im Bandkontext sind die aus unserer Sicht nicht so relevant. Paul: Musik ist unsere Leidenschaft, aber unseren Lebensunterhalt bestreiten wir auf anderen Wegen. Dabei bringen wir unsere Stärken auch in der Band ein. Rosi ist gelernter Mediengestalter und Webentwickler. Bei Kassettenricardo kümmert er sich um alles Optische und hat mit viel Liebe unsere Webseite inklusive Konsumpalast erstellt. Ich habe Maschinenbau studiert und bin inzwischen für den Job nach Süddeutschland gezogen. Für Proben und Konzerte komme ich aber regelmäßig nach Berlin und kümmere mich viel um Booking und Planung. Tom: Carsten studiert Forstwirtschaft, hat aber vorher schon eine Ausbildung zum Schifffahrtskaufmann gemacht und in den unterschiedlichsten Jobs gearbeitet. Er ist unser kreativer Kopf und kann super Menschen für uns begeistern. Ich bin der einzige von uns, bei dem sich auch der Hauptjob um Musik dreht: Ich bin Projektleiter in einem Verein für Musikförderung. In der Band bin ich der organisatorische Kopf und betreue unsere Öffentlichkeitsarbeit, z.B. Presseanfragen und Social Media.
Carsten: Wir haben uns 2018 gegründet, um gemeinsam Musik zu machen, die uns Freude bereitet. Da war nichts vorgeplant. Vieles hat sich aus Lust und Laune ergeben. Doch jeder Schritt war ein echter Höhepunkt: Der erste fertige Song war „Macke“, nachdem wir gemerkt haben, dass wir nach anfänglichen Schwierigkeiten doch ganz gut Texten können. Unser erstes Konzert fand zur Fête de la musique 2019 in der rammelvollen Kulturbar „Zum Schwalbenschwanz“ statt. Die ersten Studioaufnahmen haben wir gemacht, als wir gemerkt haben, dass unsere Musik auch aufgenommen richtig gut klingt. Die selbst produzierte Debüt-EP wurde 2020 mitten während der Pandemie veröffentlicht. Im gleichen Sommer konnten wir trotz aller Einschränkungen unseren allerersten Festivalauftritt vor einer pogenden Meute absolvieren. Rosi: Der Release unseres ersten Albums im letzten März war natürlich ein riesiger Meilenstein, den uns keiner mehr nehmen kann. Aber Konzerte sind häufig die größte Belohnung für die unzähligen Stunden Planung und Vorbereitung. Wir durften z.B. Anfang 2024 die Leipziger Brass-Punk-Größen 100 Kilo Herz auf ihrer Tour supporten. Der Zuspruch und Andrang, den wir dort vom Publikum und am Merchstand erfahren haben, war einfach grandios. MAS: Was waren die größten Probleme, die ihr bislang überwinden musstet? Paul: Da gab es natürlich jede Menge! Die Pandemie hat uns den Start nicht gerade erleichtert. Trotzdem haben wir unsere Debüt-EP im Mai 2020 veröffentlicht und konnten ein paar ausgewählte Konzerte spielen. Aber richtig viel live spielen konnten wir in den ersten Jahren natürlich nicht. Inzwischen ist das ja zum Glück kein Thema mehr. Dafür ergeben sich andere Herausforderungen.
Tom: Bisher haben wir aber alles gemeinsam gut gemeistert. Egal ob persönliche Tiefpunkte, Familiengründung oder sogar der Umzug in eine andere Stadt – für uns bedeutet die Band mehr als nur gemeinsam Musik zu machen und bisher konnte zum Glück jeder von uns den Weg mitgehen. Allerdings spielen wir in letzter Zeit auch öfter mit anderen Musikern, damit der Druck auf unser Privatleben trotz zunehmender Band-Terminen nicht zu groß wird. MAS: Konkrete Pläne für die (nähere) Zukunft? Carsten: Wir wollen im kommenden Jahr natürlich schöne Konzerte spielen und sind gerade dabei, eine eigene kleine Tour zu organisieren. Außerdem haben wir noch ein paar Singles und Videos in der Schublade, die wir veröffentlichen werden. Und natürlich schreiben wir an neuen Songs, denn wir wollen ja weiter kreativ sein und in absehbarer Zeit ein neues Album veröffentlichen. MAS: Ach ja! Und dann müsste ja noch die Erklärung des Bandnamens kommen – aus einem Versprecher geboren, laut Homepage. Tom: Aus einem feuchtfröhlichen Versprecher unseres Bassisten Rosi. Gemeint war das alte Kassettenradio im Auto eines Freundes. Und weil Rosi als Mediengestalter ein Faible für ungewöhnliche Webadressen hat, sicherte er sich die URL noch in der gleichen Nacht. Mit dem Vorsatz, seine zukünftige Band so zu nennen, gestaltete er dann sogar schon ein Logo und einen ersten Webseiten-Entwurf. Das alles stand bereits Jahre bevor wir es mit Musik füllten, was uns den Start echt erleichterte. MAS: Ich danke für die Antworten. Norbert von Fransecky |
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