Der Abend der Zweitaufführungen: Janácek, Szymanowski und Dvorák beim Gewandhausorchester
Leos Janácek, Karol Szymanowski, Antonín Dvorák – allesamt keine sonderlich unbekannten Komponisten. Einen aktiven Sachwalter beim Gewandhausorchester aber haben sie seit dem Weggang von Václav Neumann anno 1968 nicht mehr – die folgenden Gewandhauskapellmeister setzten andere Schwerpunkte, und um das tschechische (und polnische) Repertoire kümmert sich nur gelegentlich mal ein Gastdirigent wie an diesem Abend Franz Welser-Möst. So verwundert es auch nicht, dass die drei Werke seines Programms an diesem Abend allesamt ihre jeweils erst zweite Aufführung mit dem Gewandhausorchester erleben. Bei Leos Janácek ist die eher karge Spielplanpräsenz allerdings auch rational begründbar, dominieren in seinem Schaffen doch Werke für das Musiktheater, und auch die an diesem Abend erklingende Komposition ist eine diesbezügliche „Zweitverwertung“: Václav Talích hatte 1937 eine Suite aus der 1924 aus der Taufe gehobenen Oper „Das schlaue Füchslein“ zur Uraufführung gebracht, allerdings ziemlich tief in die Orchestrierung eingegriffen, so dass Václav Smetácek schließlich eine viel näher am Original positionierte Fassung erstellte. Obwohl sich der Arrangeur nur auf Material des 1. Akts beschränkt hat, fällt es, wenn man die Oper nicht kennt, schwer, der Handlung zu folgen, die im Original auf einem Zeitungscomic beruht und wild zwischen Personen, Tieren und Schauplätzen hin und her springt – das Programmheft versucht sich an einer Synopse, die aber anhand der Musik auch nur schwer nachzuvollziehen ist. Die Suite gliedert sich in zwei Teile. Der erste lebt von einer extrem kleinteiligen Struktur, die den Dirigenten und das Orchester vor die Aufgabe stellt, einen Mix aus Ruhe und Gewusel im Wald zu inszenieren. Das gelingt gut, und obwohl das Gewusel dominiert, kehren die nocturneartigen Anklänge doch stets zurück. Das Ganze ist bisweilen recht naturalistisch gehalten, der Konzertmeister streut folkloristisches Kolorit ein, und der Schluß stiftet Verwirrung, denn im Programm steht da folgendes: „Mit ihrem Reigen [gemeint ist eine Libelle] und einem Anflug von as-Moll-Wehmut schließt der erste Teil des Orchesterauszugs.“ Was das Gewandhausorchester mit grollenden Posaunen auf die Bühne bringt, ist hingegen ein veritabler Sonnenuntergang mit Ungewißheit, ob die Sonne denn auch wieder aufgehen wird. Der zweite Teil belehrt uns, dass sie es tut, wenngleich erst weit im Geschehen, das bis dahin aus Verspieltheit und Trübsinn gemischt wurde. Auch nach dem wieder sehr betont hervorbrechenden ersten Sonnenstrahl bleibt es bei Momentaufnahmen ohne große Linie, und die Finalszene ist an Seltsamkeit abermals nicht zu übertreffen: Das Füchslein richtet ein Blutbad unter den Hühnern an, aber die Verfolgung und die (erfolgreiche) Flucht sind viel dynamikbetonter und krasser gestaltet. Der Applaus ist OK, aber nicht sonderlich enthusiasmiert. Das 1. Violinkonzert von Karol Szymanowski ist gerade erst zweieinhalb Wochen zuvor im Gewandhaus erklingen, aber nicht mit dem Gewandhausorchester, sondern mit dem MDR-Sinfonieorchester. An diesem Abend nun gibt es das 2. Violinkonzert op. 61 des polnischen Komponisten, wie sein Vorgänger einsätzig und in diesem großen Satz quasi alle Stilmittel des typischen (spät-)romantischen Solokonzerts integrierend. Welser-Möst inszeniert zunächst eine klavierdominierte entrückte Stimmung, die Solist Nikolaj Szeps-Znajder (Foto) gern aufnimmt, wobei der Dirigent dafür sorgt, dass sich das Geschehen nicht zu schleppend entwickelt. Dass der Solist die Gestaltungsintentionen des Komponisten kongenial umsetzen kann, wird nicht nur, aber allen voran deutlich, wenn brillante folklastige Passagen plötzlich in einen Abgrund der Düsternis fallen. Es eröffnet sich eine total seltsame spätromantische Klangwelt im Orchestertutti, auffällig immer wieder die grundierenden großen Kontrabaßflächen. Welser-Möst bringt eine geschickte Dynamikabwicklung in Richtung der Kadenz auf die Bühne, mündend in einem einzelnen Paukenschlag und Szeps-Znajder den Raum für abermals folkloristisch angehauchtes Geschehen liefernd. Die Kadenz gliedert das Werk in zwei große Komplexe, und auch im zweiten entspinnt sich ein munteres Hin und Her, wobei die Entrücktheit des Vorschlußteils an diesem Abend besonders hohe Werte annimmt, zumal der Solist und die Dialogpartner im Holz offensichtlich eine gemeinsame Sprache gefunden haben und Welser-Möst die Balance im Gesamtwerk so austariert, dass Szeps-Znajder stets im richtigen Maße zu hören ist. Auch die Steigerungen haben Lehrbuchwert, und dass das angedeutete Versprechen folkloristischer Hochgeschwindigkeit im Finale nicht eingelöst wird, ist dem Komponisten anzulasten und nicht den Interpreten, die das Beste aus der Lage herausholen. Viel Applaus belohnt den Virtuosen, der sich mit einer Zugabe bedankt, diese allerdings mit den Worten „Wir bleiben lokal: ...“ einleitet. Wer sich jetzt auf etwas ungewöhnliches Polnisches oder Tschechisches gefreut hatte, was ins Programm gepaßt hätte, wird enttäuscht, denn die Ansage geht noch mit einem Wort weiter: „... Bach!“ Den Leipziger Säulenheiligen meint bekanntlich nahezu jeder Solist im Gewandhaus zugeben zu müssen. Immerhin, Szeps-Znajder bietet eine traumhaft schöne, enorm gefühlvolle Interpretation der Sarabande aus der Partita I h-Moll BWV 1002, an deren Ende die Spannung enorm lange steht. Die Sinfonie Nr. 5 F-Dur op. 76 von Antonín Dvorák sitzt sozusagen zwischen den Stühlen – keine seiner vier „Jugendsinfonien“ mehr, aber auch noch keine der „reifen Periode“ mit den relativ oft aufgeführten Nummern 6 bis 8, vom Hit „Aus der Neuen Welt“ an Position 9 ganz zu schweigen. Rationale Gründe für das Mauerblümchendasein gibt es freilich kaum, wie an diesem Abend deutlich wird, sieht man davon ab, dass der Komponist später eben tatsächlich noch „größere“ Genrebeiträge geliefert hat, was die Fünfte per se aber nicht uninteressanter macht. Zur Erschließung gehört dann allerdings auch eine kongeniale Interpretation, und da brauchen Franz Welser-Möst und das Gewandhausorchester an diesem Abend doch ein wenig Anlaufzeit. Im eröffnenden Allegro, ma non troppo gelingt zwar der nötige Energietransport von Anfang an im gewünschten Maße, aber das Hauptthema fasert beispielsweise noch viel zu sehr aus, und eine Ahnung der gemeinsamen Sprache beginnt sich erst im breiten Seitengedanken zu entwickeln. Dann geht es allerdings steil bergauf: Die Kontrastwirkungen der Tuttischläge in den Seitenwelten etwa kommen genau mit der richtigen Intensität, Welser-Möst legt auch ansonsten eine Dynamikgestaltung der alten Schule vor (was auch auf seinen unprätentiösen, aber grundsoliden Dirigierstil zutrifft), und im schön geformten horndominierten zurückhaltenden Satzschluß freut man sich auf das, was noch kommt. Das wäre zunächst ein unauffälliges Andante con moto als langsamer Satz – und „unauffällig“ ist in diesem Fall als Kompliment gemeint. Die Melodieentwicklung erfolgt geradezu beiläufig mit einer derartigen Selbstverständlichkeit, als gäbe es nichts Normaleres, und das lockere Fließen des Satzes kann man auch ganz schnell gegen den Baum fahren, was die Beteiligten dieses Abends tunlichst vermeiden. Statt dessen evoziert Welser-Möst viel Eleganz im langsamen Walzer (sowas liegt ihm als Österreicher, der auch schon zweimal das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker dirigiert hat, natürlich im Blut), wechselt im richtigen Moment in einen eher drängenden Gestus und nimmt die Tutti mit Größe, aber ohne Massivität. Das Scherzo, ein Allegretto scherzando, beginnt mit einer ungewöhnlichen langsamen Einleitung, auch das Hauptthema zeigt sich eher verspielt, und das Geschehen gewinnt erst später an geradlinigerem Druck, wobei die triangelbedingt förmlich glitzernden Zwischenteile fast ein wenig in die bevorstehende Adventszeit hinüberschielen. Leider gelingen diverse Übergänge hier nicht mit der nötigen Sicherheit, das Trio mutet gar im Ganzen viel zu nervös an, und erst die Reprise des Triangel-Glitzerns bringt ansatzweise wieder Ordnung ins Geschehen, verhindert aber auch nicht, dass die Reprise als Ganzes matter rüberkommt als der erste Teil, von den massigen Schlußschlägen mal abgesehen. Holt das Allegro-molto-Finale noch die Kastanien aus dem Feuer? Lange sieht es danach aus: Das wilde tiefenbetonte Gebretter umfängt den Hörer, und der Dirigent schafft einen sehr breiten Dynamikkorridor, indem er die Verharrungen ziemlich weit unten ansetzt, die Dynamikgipfel aber sehr weit oben. Das ermöglicht breiten Gestaltungsraum, der auch sinnvoll genutzt wird, etwa wenn ungewöhnliche Motive aus Hörnern oder Holzbläsern angemessene akustische Freiheit geboten bekommen. Gegen Satzende hin steht der Dirigent offenkundig immer mehr unter Strom, zaubert brillante Übergänge in den wilden Schluß hin – und scheitert doch: Trotz Paukenwirbels fällt die Spannung in den letzten Takten ab, anstatt den Gipfel zu erklimmen. Das hält das Publikum nicht vom sofortigen Ausbrechen in Jubel ab, etliche Bravi werden nachgereicht – aber man wird das eingangs angedeutete Gefühl nicht los, dass das tschechische Repertoire aktuell eben kein Kernrepertoire des Gewandhausorchesters ist, selbst wenn die Klasse des Orchesters (und vieler seiner Gäste) natürlich immer noch für so manchen Glücksmoment ausreicht. Roland Ludwig |
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