Originelle osteuropäische Obskuritäten: Strawinsky, Szymanowski und Weinberg mit dem MDR-Sinfonieorchester




Info
Künstler: MDR-Sinfonieorchester

Zeit: 06.11.2022

Ort: Leipzig, Gewandhaus, Großer Saal

Fotograf: Kaupo Kikkas

Internet:
http://www.mdr-klassik.de

Der polnische Dirigent Krzysztof Urbanski gilt als Spezialist für (gern eher rares oder gar obskures) osteuropäisches Repertoire – auch als er vor einem reichlichen Jahrzehnt zum bisher letzten Mal als Gast vorm MDR-Sinfonieorchester stand, gab es neben Mendelssohn noch Chopin und ein Werk des auf hiesigen Spielplänen kaum anzutreffenden Henryk Mikolai Górecki. Am Abend des ersten Novembersonntages anno 2022 ist er nun wieder einmal da – und wieder mit einem originellen Programm, das auch live übertragen wird, was freilich nicht der Grund dafür gewesen sein kann, dass der Große Saal des Gewandhauses gerade einmal halbvoll ist. Da schwingt neben den Pandemie-Spätfolgen wohl eher die Angst vorm Obskuren mit ...

Die Suite aus Igor Strawinskys Ballettmusik „L’Oiseau de Feu“ („Der Feuervogel“) existiert in drei verschiedenen Fassungen; an diesem Abend erklingt die zweite, zusammengestellt 1919 und siebensätzig. Finstere, aber weiche Tiefstreicher führen ins Geschehen ein, das bald in märchenhafte Gespinste mündet, die nur vom unruhigen Publikum etwas in ihrer Wirkung gebremst werden. Urbanski hat keine leichte Aufgabe ob der bunten Vielfarbigkeit der Musik, aber er findet einen gangbaren Weg, indem er zwar grundsätzlich auf eine eher vorsichtige Gestaltung setzt, im richtigen Moment aber auch schroffe Brüche noch hervorhebt, anstatt sie vorsichtig tastend zu umgehen. Wenn sich die jeweiligen Streicher-Stimmführer zur Kammermusik treffen, entstehen so bezaubernde Bilder, die freilich nötigenfalls auch mal vom nächsten Orchesterschlag niedergemäht werden, wenn etwa der Zauberer Kaschtschei einen Knalleffekt vom Stapel läßt. Und wenn die Prinzessin über eine taunasse Klangwiese schreitet, ist die Melancholie aus dem Fagott nicht fern. Förmlich glitzernde Streicher bereiten den Weg für eine wieder einmal eher bedächtige Finalentwicklung, die dann als Ergebnis allerdings einen Monumentaltriumph hat, messerscharfe Unisoni auffahrend und den cineastischen Faktor aus heutiger Perspektive potenzierend, woran ein paar leichte Wackler in Richtung des Schlußtons nichts ändern. Ein Bravoruf kommt gleich, dazu gibt es zwei Vorhänge, wobei Urbanski als enorm schneller Ab- und Wiedergänger auffällt.

Karol Szymanowski, im gleichen Jahr 1882 wie Strawinsky geboren, aber viel früher gestorben als dieser (1937 gegenüber 1971), hat zwei Violinkonzerte geschrieben, die beide mit nur einem Satz auskommen, aber innerhalb dieses Satzes quasi das komplette übliche Spektrum abdecken, so dass besagter Satz dann jeweils auch entsprechend lange dauert. Beiden Werken begegnet man für ein Violinkonzert des 20. Jahrhunderts noch halbwegs häufig auf den Programmen, aber wiederum längst nicht so häufig wie diversen Genrebeiträgen früherer Zeiten. Diesmal gibt es das erste der beiden, die Opuszahl 35 tragend und 1916 geschrieben, aber erst am 1.11.1922, fast exakt 100 Jahre vor diesem Konzertabend, uraufgeführt. Aus dem Orchester kommt ein flirrendes Hin und Her, dem Antje Weithaas sehnsuchtsvolle Höhen entgegensetzt – und sie gewinnt letztlich. Das bleibt aber nicht lange so: Szymanowski setzt kaum auf klassische Entwicklungsstrukturen, und so erlebt man hier und da eine Überraschung, tempoverschärfend oder auch feist im Midtempo groovend. Urbanski schafft es, die Solistin außerhalb der großen Tutti immer angemessen hörbar zu machen, wobei diese gekonnt auf die Entwicklungen im Orchester reagiert, aber auch in gegenläufiger Rolle die Impulse setzt. Am eindrucksvollsten gelingen einerseits die schleppenden Orchester-Bombasttutti, andererseits die völlig abseitige Ätherik mit unterlegter Rassel. Weithaas kann der seltsamen Kadenz, die sie immer weiter nach unten zieht, interessante Eindrücke abgewinnen und überzeugt auch im zurückhaltend-zarten Finale mit seiner kleinteilig-witzigen Struktur. Eine Zugabe entlocken läßt sie sich aber nicht.

Mieczyslaw Weinbergs Schaffen geriet erst in allerjüngster Vergangenheit stärker in den Fokus der west- und mitteleuropäischen Musikliebhaber, nicht zuletzt rings um seinen 100. Geburtstag, auch wenn unklar ist, wann der eigentlich genau angestanden hat. Freilich bleibt immer noch jede Menge seines musikalischen Schaffens wiederzuentdecken – noch gibt es welche unter seinen 22 Sinfonien, die noch nicht auf Tonträger zu haben sind, und eigentlich bieten sie ein dankbares Feld für Dirigenten und Orchester, die originelle Musik des 20. Jahrhunderts spielen wollen, ohne dass der Hörer vor lauter Experimenten und Unzugänglichkeit entnervt vom Stuhl fällt.
An diesem Abend hören wir die 3. Sinfonie h-Moll op. 45, 1949/50 komponiert, aber aufgrund der gesellschaftlichen Begleitumstände zunächst in der Schublade verschwunden und erst 1960 uraufgeführt – Weinberg war wie sein Mentor Dmitri Schostakowitsch zum Opfer der Formalismusdebatte in der Sowjetunion geworden und landete im Zuge einer antijüdischen Kampagne Stalins sogar im Gefängnis, was erst nach dem Tod des Generalissimus revidiert wurde. Die Sinfonie, zwei slawische Volkslieder zur Themenfindung nutzend, hätte eigentlich perfekt in den Sozialistischen Realismus gepaßt, wäre sie von einem anderen Komponisten geschrieben worden ...
Hinein also ins Geschehen! Der erste Satz kehrt die übliche Tempostruktur um, beginnt also als Allegro und endet als Largo. Das folkloristische Thema kommt zunächst aus den Flöten und erfährt eine ideenreiche Verarbeitung. Aus dem ruhigeren Seitenthema dringt gar noch mehr Sanglichkeit, alles federleicht und ohne jegliche Ironie, die Schostakowitsch hier vielleicht untergebracht hätte. Urbanski schafft es auch, die Tutti zwar bedrohlich wirken, aber nicht mit großem Vernichtungspotential rüberkommen zu lassen, wenngleich das markante Sechsermotiv aus den Pauken diesbezüglich schon an der Grenze wandelt – aber sie wird eben nicht überschritten und die ernstgemeinte Lieblichkeit als realer Gegenpol begriffen. Der Largo-Teil gerät oft überraschend zerbrechlich, atmet aber trotzdem viel Dynamik, und im Satzschluß bricht sich dann mit völlig absurd wirkenden Entwicklungen auch der Humor Bahn.
Im Scherzo wird das andere Volkslied verarbeitet, thematisch hier aus der Oboe kommend, dann variiert wandernd. Auch hier weiß Urbanski, welche Grenzen Weinberg ihm setzt – die Streicher-Unisoni klingen bedrohlich, aber eben nicht katastrophenverheißend. Und was Konzertmeister Andreas Hartmann da im Trio mit dem „schleifenden“ Thema veranstaltet, läßt den Hörer gleichfalls anerkennend nicken.
Das Adagio nimmt Urbanski enorm weit zurück, sowohl im Tempo als auch lautstärkeseitig. Geraume Zeit bleiben die Streicher hier unter sich, das tastende Tupfen ändert sich aber auch nach Hinzutreten der Holzbläser lange nicht. Ein paar Abgründe öffnet der Komponist dann doch, aber dort hineinzuschauen erzeugt längst nicht die Angst wie oftmals bei Schostakowitsch, und auch den kurzen finsteren Ausbruch garniert Urbanski zwar mit gellenden Streichern und scharfem Blech, setzt ihm aber Grenzen – d’accord mit Weinberg, der den Satz bald wieder zum ruhigen Gestus zurückführt. Dort Spannung hineinzulegen ist dann die große Aufgabe, die der Dirigent meistert, und ganz besonders im Satzschluß gibt es enorm viel davon.
Das Trompetensignal für den Finalsatz kommt fast attacca, und aus dem druckvollen Lossprinten schält sich bald wieder die volksliedhafte Thematik heraus, in deren kammermusikalischem Gestus sich nicht immer alle Beteiligten ganz einig sind. Abermals bleibt auch in den rasenden Passagen Existentialismus Marke Schostakowitsch aus – man denkt in Weinbergs Musik nicht selten an Schostakowitsch, zumal die beiden über Jahrzehnte eng zusammenarbeiteten, aber Weinberg erscheint eher als der gut gelaunte Bruder von Schostakowitsch oder, wie der im Programmheft zitierte Musikwissenschaftler Robert R. Reilly es ausdrückte, als der größere Romantiker von beiden. Einen verhaltenen Einschub führt Urbanski bis an die Grenze des Stillstandes, Becken und kleine Trommel bekommen eine eigenartige Gliederungsrolle zugewiesen, und der knackige Schluß läßt latente Erinnerungen an die „Warschawjanka“ aufkommen. Viel Jubel belohnt Krzysztof Urbanski und das MDR-Sinfonieorchester für eine starke Aufführung einer hochinteressanten Sinfonie, und ein Spaßvogel schräg rechts hinter dem Rezensenten verlangt sogar lautstark nach einer Zugabe. Vorerst muß ihm aber das nochmalige Hören in der MDR-Mediathek genügen.

PS: Fun Fact am Rande: Der Rezensent hat Antje Weithaas bisher zweimal live erlebt – und beide Male gab es dazu eine Weinberg-Sinfonie, nämlich am 18.01.2019 bereits die Sechste (mit dem Philharmonischen Orchester Altenburg-Gera). Auch wenn die Violinistin daran sicher keine Aktie hat – das kann gerne so weitergehen.


Roland Ludwig



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